Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 06.09.2001

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 06.09.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 4 U 234/97
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 6 U 234/99
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 6. April 1999 wird aufgehoben, und der Bescheid der
Beklagten vom 24. Juni 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 1997 wird geändert. Die
Beklagte wird verurteilt, dem Kläger vom 1. Januar 1996 an Verletztenrente in Höhe von 20 vom Hundert der Vollrente
zu zahlen. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten. Die Revision
wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger wegen der Folgen einer Berufskrankheit - BK - (Lärmschwerhörigkeit)
Anspruch auf Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat.
Der 1940 geborene Kläger, der seit Juni 1995 arbeitsunfähig krank ist und Rente wegen Berufsunfähigkeit bezieht,
erlernte von 1955 bis 1958 den Beruf des Bauschlossers. Anschließend war er - mit geringen Unterbrechungen - in
diesem Beruf bei der Firma C. Stahlbau GmbH & Co. KG, D., beschäftigt und dabei einem Lärm von mehr als 85 dB
ausgesetzt (vgl. den Bericht des Technischen Aufsichtsbeamten der Beklagten vom 11. März 1996,
Verwaltungsakten Bl. 35).
Im Januar 1996 zeigte der Kläger der Beklagten an, er habe durch langjährige Tätigkeit im Lärmbereich einen
Hörverlust und sehr störende Ohrgeräusche erlitten. Die Beklagte zog daraufhin Audiogramme des
Betriebsarztzentrums E. sowie des HNO-Arztes Dr. F. bei und veranlasste die Stellungnahme des
Landesgewerbearztes (Dr. G.) vom 3. Juni 1996. Gestützt auf diese Stellungnahme erkannte sie mit Bescheid vom
24. Juni 1996 als Folgen einer BK nach Nr. 2301 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung - BKV -
(Lärmschwerhörigkeit) an: "Beginnende berufsbedingte Hochtoninnenohrschwerhörigkeit mit einem Hörverlust, der
jedoch das Ausmaß einer knapp geringgradigen Schwerhörigkeit noch nicht erreicht." Eine Verletztenrente lehnte sie
ab, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit - MdE - gegenwärtig mit unter 10 vom Hundert (v.H.) zu beurteilen sei.
Dagegen legte der Kläger Widerspruch mit der Begründung ein, die Schwerhörigkeit überschreite ein knapp
geringgradiges Ausmaß und die Ohrgeräusche seien bei der Einschätzung der MdE nicht berücksichtigt worden.
Während des Widerspruchsverfahrens unterzog sich der Kläger in der Zeit vom 2. Oktober bis 13. November 1996
einer stationären Behandlung in der Tinnitus-Klinik H ... In dem hierüber erstatteten Entlassungsbericht vom 20.
November 1996 heißt es u.a., dass der Tinnitus auf dem Boden eines durch Lärm vorgeschädigten Gehörs
entstanden sei. Im Vordergrund des Therapiekonzeptes habe die Aufarbeitung des dem Tinnitus zu Grunde liegenden
psychosomatischen Symptomenkomplexes gestanden. Dabei habe sich die lebensgeschichtliche und berufliche
Situation als für das Tinnitusleiden bedeutend dargestellt. Die Beklagte holte daraufhin das HNO-Gutachten des Dr. I.
vom 27. Februar 1997 ein. Dieser führte zusammenfassend aus, es bestehe ein ursächlicher Zusammenhang
zwischen der Tätigkeit als Stahlbauschlosser und der Hochtonschwerhörigkeit mit dekompensiertem beiderseitigen
Tinnitus. Der prozentuale Hörverlust liege sowohl tonschwellen- als auch sprachaudiometrisch bei 0 % und
rechtfertige keine MdE. Im Zusammenhang mit dem dekompensierten Tinnitus werde die MdE auf 10 v.H. geschätzt.
Daraufhin änderte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. Juni 1997 den Bescheid vom 24. Juni 1996 ab und
erkannte die Ohrgeräusche (Tinnitus) beidseits als betriebslärmbedingt an; eine Rente lehnte sie jedoch ab, weil eine
MdE in rentenberechtigendem Grade von wenigstens 20 v.H. nicht vorliege. Die MdE werde nunmehr mit 10 v.H.
eingeschätzt.
Dagegen hat der Kläger am 25. Juli 1997 vor dem Sozialgericht - SG - Hannover Klage erhoben. Das SG hat die
Klage mit Gerichtsbescheid vom 6. April 1999 abgewiesen: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Verletztenrente, weil
eine MdE von 20 v.H. nicht erreicht werde und keine Anhaltspunkte für einen Stützrententatbestand bestünden. Das
Ergebnis der sprachaudiologischen Untersuchung, dem für die Bewertung der MdE bei Lärmschwerhörigkeit die
entscheidende Bedeutung zukomme, habe Hörverluste ergeben, die unter Berücksichtigung des gewichteten
Gesamtwortverstehens nach den allgemein anerkannten Bewertungsgrundsätzen des "Königsteiner Merkblatts" eine
MdE von 0 v.H. bedingten. Die Ohrgeräusche als zusätzliche Folge der BK rechtfertigten eine MdE von 10 %, so
dass die Gesamt-MdE 10 v.H. betrage.
Gegen diesen ihm am 17. Mai 1999 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 16. Juni 1999 Berufung
eingelegt. Er hat zur Begründung im Wesentlichen geltend gemacht: Unter Berücksichtigung des Ton- und
Sprachaudiogramms des Dr. F. vom 12. März 1998 und der darin dokumentierten Hörverluste ergebe sich allein für
den Hörverlust eine MdE von 20 v.H. Auch der Tinnitus bewirke eine MdE von weit mehr als 10 v.H. Diese Bewertung
werde dem psychischen Beschwerdebild nicht gerecht. Im vorliegenden Fall könne der MdE-Grad infolge eines
Tinnitus nur durch eine psychiatrische Fachbegutachtung ermittelt werden. Der Kläger hat sich insoweit auf den - von
ihm vorgelegten - Bericht der Tinnitus-Klinik H. vom 4. Mai 1999 bezogen, der über eine stationäre Behandlung
erstattet wurde, der sich der Kläger in der Zeit vom 24. März bis 5. Mai 1999 unterzog. Des Weiteren hat er einen
Aufsatz von Brusis, der u.a. Ausführungen über die Bewertung eines dekompensierten Tinnitus enthält (Die
Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit nach dem neuen Königsteiner Merkblatt - Die Sozialgerichtsbarkeit
- SGb 1999, S. 340 - 344), in das Verfahren eingeführt.
Der Kläger beantragt,
1. den Gerichtsbescheid des SG Hannover vom 6. April 1999 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 24.
Juni 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 1997 zu ändern,
2. die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Hannover vom 6. April 1999 zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Im vorbereitenden Verfahren sind Befundberichte der Diplom-Psychologin J. vom 8. November 1999 sowie des Arztes
für Neurologie und Psychiatrie Dr. K. vom 31. Januar 2000 beigezogen worden. Außerdem ist von Amts wegen das
nach ambulanter Untersuchung erstattete nervenärztliche Gutachten des Dr. L. vom 9. November 2000 eingeholt
worden. Dieser Sachverständige hat zusammenfassend ausgeführt, der Kläger leide unter einer depressiven Episode
mittelschwerer Tiefe mit Somatisierung. Der Tinnitus sei eine maßgeblich mitwirkende Teilursache für dieses
Krankheitsbild. Die hierdurch bedingte MdE sei ab dem 2. Oktober 1996 mit einer MdE um 20 v.H. und - wegen einer
Verschlimmerung in dem oberen Bereich der mittelschweren depressiven Episode - ab 3. Januar 1999 mit einer MdE
um 40 v.H. zu bewerten. Die Beklagte hat daraufhin das nach Aktenlage erstattete HNO-Gutachten des Dr. M. vom 8.
März 2001 vorgelegt, zu dem sich Dr. L. ergänzend mit der Stellungnahme vom 2. Mai 2001 geäußert hat.
Dem Senat haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der
mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der
Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie ist auch begründet.
Denn der Kläger hat seit dem 1. Januar 1996 wegen eines Tinnitus (Ohrgeräusch) als Folge der als BK anerkannten
Innenohrschwerhörigkeit (BK Nr. 2301 der Anlage zur BKV) Anspruch auf Verletztenrente aus der gesetzlichen
Unfallversicherung (§§ 580, 581 der auf den vorliegenden Sachverhalt noch anwendbaren
Reichsversicherungsordnung, vgl. Art. 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, § 212 Sozialgesetzbuch - SGB -
VII).
Die als BK anerkannte geringgradige Hochtoninnenohrschwerhörigkeit bedingt allerdings keine MdE. Insoweit wird auf
die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid Bezug genommen. Daran ändern auch die von Dr.
F. mehr als drei Jahre nach dem Ende der Lärmexposition gefertigten Audiogramme vom 12. März 1998 nichts, auf
die der Kläger seine abweichende Auffassung stützt. Wie die Beklagte zutreffend ausgeführt hat, schreitet die
Lärmschwerhörigkeit nämlich nach Aufgabe der schädigenden Tätigkeit nicht weiter fort, so dass die von Dr. I.
ausgewerteten "zeitnäheren" audiometrischen Befunde für die MdE-Schätzung maßgebend sind.
Hingegen bedingt der von der Beklagten als Folge der BK anerkannte Tinnitus des Klägers seit dem Januar 1996
einen Grad der MdE um 20 v.H. Der Kläger leidet an einem Ohrgeräusch, das als Sinuston bei 4 kHz angegeben wird
und als Ausdruck einer Schädigung der äußeren Haarzellen zu werten ist (Gutachten des Dr. I.). Wie sich aus dem
Bericht der Tinnitus-Klinik H. vom 20. November 1996 ergibt, ist es im Januar 1996 bei Zunahme der
Tinnitusintensität mit Dekompensationserscheinungen wie Reizbarkeit, innere Unruhe und Schlafstörungen und zu
einer erfolglosen Behandlung u.a. mit Infusionen gekommen.
Bei der Schätzung der durch den Tinnitus bedingten MdE vermochte sich der Senat allerdings nicht der Beurteilung
des Dr. L. anzuschließen. Nach dessen Auffassung ist die von ihm im Einklang mit anderen Ärzten (Dr. K. und Ärzte
der Tinnitus-Klinik H.) festgestellte depressive Episode mittelschwerer Tiefe mit Somatisierung wesentlich durch den
Tinnitus mitverursacht mit der Folge, dass sie bei der Bewertung der MdE mit zu berücksichtigen sind und eine MdE
von 40 v.H. angemessen sein könnte.
Die von Dr. L. angenommene Kausalität ist indessen nicht wahrscheinlich. Es ist zwar möglich, dass der Tinnitus die
Depression des Klägers wesentlich mitverursacht hat. Es bestehen hieran aber erhebliche Zweifel. Diese lassen sich
schon aus dem sorgfältig abgefassten Gutachten des Dr. L. ableiten. Danach wurde das seelische Gleichgewicht des
Klägers, der eine spezifische Persönlichkeitsstruktur mit ausgeprägtem depressiven Persönlichkeitsschwerpunkt
aufweist, durch den Verlust des Arbeitsplatzes nachhaltig gestört, und es traten zunehmend "ereignisunabhängige
Faktoren" hinzu. Insoweit hat Dr. L. in erster Linie die Beziehung zur Ehefrau genannt, wobei es zur Aufhebung der
sexuellen Beziehung und starken Reduzierung der persönlichen Kontakte kam (S. 29 f. des Gutachtens). Dass eine
überzeugende Abgrenzung der Kausalitätsfaktoren insoweit kaum möglich sein dürfte, wird auch aus den folgenden
eher hypothetischen Erwägungen des Dr. L. deutlich: Der Rückzug von Festivitäten und von Gelegenheiten, bei denen
lautstark durcheinander geredet werde, in Zusammenhang mit der Überempfindlichkeit des Hörens sei plausibel.
Andererseits werde man etwa die Verhaltens- und Kommunikationsmuster, die die eheliche Beziehung nach den
Angaben des Klägers prägten, nicht ausschließlich mit dem Tinnitus erklären können. Sie seien aber ihrerseits
Faktoren, die die psychogene Symptomatik unter den anderen unterhielten. Dass der Tinnitus letztlich nicht als
wesentliche Mitursache der Depression des Klägers ausreichend wahrscheinlich nachgewiesen werden kann, lässt
sich auch der Überlegung des Dr. L. entnehmen, der Kläger hätte die seiner Depression entspringenden
Krankheitszeichen nicht am Tinnitus festmachen können, wenn dieser nicht als Folge der BK schon vorhanden
gewesen wäre (S. 32 des Gutachtens). Auch die relativierende Bemerkung des Dr. L., er könne sich als medizinischer
Gutachter nicht anmaßen, die Frage beantworten zu wollen, ob im Zusammenhang mit allen Faktoren dem Tinnitus
die Bedeutung einer wesentlich mitwirkenden Teilursache zukomme, zeigt deutlich, dass ein hinreichend sicherer
Kausalitätsnachweis nicht gelingen kann. Deshalb spricht viel für die Annahme, dass der Tinnitus zwar "im Zentrum
(des) Erlebens der depressiven Symptomatik steht" (S. 4 der ergänzenden Stellungnahme des Dr. L.), dass er aber
nicht die wesentliche Mitursache der Depression ist. Ein Indiz hierfür ist auch der Umstand, dass der Tinnitus unter
günstigeren Lebensumständen - solange der Kläger noch seinen Arbeitsplatz innehatte - noch nicht dekompensiert
war.
Obwohl hiernach der Tinnitus als wesentliche Ursache der depressiven Erkrankung des Klägers nicht wahrscheinlich
gemacht werden kann, ist die durch ihn bedingte MdE auf 20 v.H. zu schätzen. Nach den allgemein anerkannten
Bewertungsgrundsätzen des Königsteiner Merkblattes (Ziffer 4.3.5.) ist ein lärmbedingter Tinnitus bei der Bewertung
des Gesamtschadensbildes zwar grundsätzlich mit einer MdE bis zu 10 % zu berücksichtigen. Eine solche
Bemessung der MdE ist jedoch ausnahmsweise dann zu niedrig, wenn der Tinnitus mit einem außergewöhnlichen
Leidensdruck verbunden ist (vgl. auch LSG Rheinland-Pfalz Breithaupt 1996, 288, 290 f.). Es entspricht
ohrenärztlicher und psychiatrischer Erfahrung, dass bei einem dekompensierten Tinnitus und erheblichen
psychovegetativen Begleiterscheinungen die Bewertung der MdE mit 20 v.H. angemessen ist (vgl. dazu Brusis, SGb
1999, S. 340, 343; s. auch Jäger/Hesse/Nelting/Lamprecht, MedSach 1998 S. 187, 190; Feldmann, Das Gutachten
des HNO-Arztes, 4. Aufl. 1997, S. 212 f.). Um einen solchen Ausnahmefall handelt es sich hier. Die außergewöhnlich
starke tinnitusbedingte Einschränkung der Erwerbsfähigkeit ergibt sich aus dem im Gutachten des Dr. L.
nachvollziehbar geschilderten Beschwerdebild. Danach steht der Tinnitus im Mittelpunkt des Erlebens der
depressiven Symptomatik. Damit stimmt überein, dass der Tinnitus des Klägers seit Anfang 1996 dekompensiert und
mit Reizbarkeit, innerer Unruhe und Schlafstörungen verbunden ist. Dabei wird der durch diese Erkrankung erzeugte
Leidensdruck des Klägers auch daran deutlich, dass dieser sich intensiven ärztlichen Behandlungen, darunter auch
zwei stationären Behandlungen in einer Spezialklinik, unterzogen hat, ohne dass sich - dies hat der Sachverständige
Dr. L. überzeugend zum Ausdruck gebracht - die geringsten Anzeichen für eine übertriebene Darstellung der
Beschwerden oder gar für deren Vorspiegelung ergeben (S. 14 des Gutachtens). Dokumentierte Behandlungsversuche
sind indessen ein wesentliches Indiz für den durch einen Tinnitus erzeugten Leidensdruck eines Versicherten
(Feldmann, a.a.O.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).