Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 29.04.2002

LSG Nsb: berufungskläger, schwerhörigkeit, erwerbsfähigkeit, minderung, niedersachsen, lärm, arbeitsunfall, beendigung, berufskrankheit, gutachter

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 29.04.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 18 V 32/98
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 9 V 20/99
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Höhe der beim Berufungskläger schädi-gungsbedingt eingetretenen Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE).
Der im Februar 1918 geborene Berufungskläger erlitt am 17. April 1945 bei Kampfhandlungen an der Oder-Front einen
Granatsplitter-Durchschuss im Bereich des rechten Sprunggelenkes. Als Folgen dieser Schädigung wur-den zuletzt
mit Teil-Abhilfebescheid vom 15. August 1985 (Bl. 255 VA)
"Bewegungseinschränkung im rechten unteren Sprunggelenk und der Zehen des rechten Fußes. Versteifung im
rechten unteren Sprunggelenk und queren Fußwurzelgelenk in Verbindung des Mit-telfußes und Plattfußstellung.
Reizlose Narben am linken und rech-ten Oberarm und an der linken Gesäßhälfte. Geringgradige Schwer-hörigkeit mit
Hochtonverlust beiderseits”
bei einer fortbestehenden MdE um 50 v.H. festgestellt. Ein danach im Ja-nuar 1988 gestellter
Verschlimmerungsantrag blieb nach erneuten medizi-nischen Ermittlungen, insbesondere der Einholung eines
Sachverständi-gengutachtens des Orthopäden I. vom 1. Juni 1988 ohne Erfolg.
Am 22. Januar 1996 stellte der Berufungskläger einen weiteren Ver-schlimmerungsantrag, zu dessen Begründung er
auf die Diagnose schwe-rer Osteochondrosen im Bereich der Lendenwirbelsäule hinwies und weiter ausführte, dass
sich die nach dem Schussbruch des rechten Fußes ver-bliebene Beinverkürzung um etwa 3,5 cm mittlerweile auf die
Lendenwir-belsäule ausgewirkt habe. Auch die als Schädigungsfolge festgestellte Schwerhörigkeit sei unterdessen
weitaus stärker geworden. Das Versor-gungsamt (VA) Hannover holte Befundberichte des Orthopäden Dr. J. vom 18.
März 1996, des Internisten Dr. K. vom 22. März 1996 sowie des Hals-Nasen-Ohren-Arztes Prof. Dr. L. vom 22. März
1996 ein und ließ sodann das versorgungsärztliche Gutachten des Dr. M. vom 22. Mai 1996 sowie das fachärztliche
Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes Dr. N. vom 18. Dezember 1996 erstatten. Während Dr. N. den progredienten
Verlauf einer schädigungsbedingten Hörstörung schlechthin ausschloss und des-halb zumindest hinsichtlich der
Zunahme der Schwerhörigkeit von einem nicht schädigungsbedingten Nachschaden ausging, interpretierte Dr. M. die
im Bereich der Lendenwirbelsäule eingetretenen Gesundheitsstörun-gen im Sinne schicksalhafter
Verschleißerscheinungen. Zur näheren Be-gründung wies er darauf hin, dass beim Berufungskläger im Bereich der
Halswirbelsäule ebenfalls gravierende Bewegungseinschränkungen vorlä-gen, die mindestens genauso ausgeprägt
seien wie diejenigen im Bereich der Lendenwirbelsäule. Dort sei im Übrigen auch keine fixierte Fehlhaltung
festzustellen. Bei der LWS – Skoliose zeigten sich schließlich auf den vor-handen Röntgenaufnahmen auch keine
konkavseitig betonten Verschlei-ßerscheinungen. Mit Bescheid vom 13. Januar 1997 lehnte daraufhin das VA
Hannover eine Änderung der bestandskräftigen Feststellungen ab. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies das
Landesversorgungsamt mit Widerspruchsbescheid vom 24. März 1998 zurück. Zur Begründung wies es ergänzend
darauf hin, dass zur Annahme einer schädigungsbedingten Verursachung der Gesundheitsstörungen im Bereich der
Lendenwirbel-säule eine strukturell knöchern fixierte Fehlstellung vorhanden sein müsse. Ein solches Schadensbild
liege aber bei dem Berufungskläger nicht vor.
Am 15. April 1998 ist Klage erhoben worden, die das Sozialgericht (SG) Hannover ohne weitere medizinische
Ermittlungen mit Urteil vom 10. Juni 1999 abgewiesen hat.
Mit seiner am 23. September 1999 eingelegten Berufung verfolgt der Be-rufungskläger sein Begehren weiter. Er hält
die in den rechten Oberschen-kel ausstrahlenden Schmerzbeschwerden im Bereich der Lendenwirbel-säule sowie die
Zunahme seiner Schwerhörigkeit weiterhin für mittelbare Schädigungsfolgen und beantragt nach seinem
schriftsätzlichen Vorbrin-gen sinngemäß,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 10. Juni 1999 und den Bescheid des Beklagten vom 13. Januar 1997
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. März 1998 aufzuheben und
2. den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Versor-gungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit – MdE –
um mehr als 50 v.H. zu gewähren.
Der Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtenen Bescheide sowie das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Der Senat hat zur weiteren Sachaufklärung auf Anregung des Berufungs-klägers den Abschlussbericht der Fachklinik
für Rheuma und Rehabilitation über die Durchführung einer fünf-wöchigen Behandlung im Juni und Juli 1999
beigezogen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt
der Gerichtsakten sowie der Versorgungs- und Schwerbehinderten-Akten des Berufungsbeklagten Be-zug genommen,
die beigezogen worden sind.
Entscheidungsgründe:
Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne
mündliche Verhandlung. Dabei ist die zulässige, insbesondere rechtzeitig eingelegte Berufung zurückzuweisen. Der
Berufungskläger hat keinen Anspruch darauf, dass der Berufungsbe-klagte den Teil-Abhilfebescheid des VA Hannover
vom 15. August 1985 für die Zeit seit Stellung des Verschlimmerungsantrages im Januar 1996 auf-hebt und ihm
Versorgungsrente nach einer MdE um mehr als 50 v.H. ge-währt.
Die hierfür gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X erforderliche wesentliche Ände-rung in den tatsächlichen oder rechtlichen
Verhältnissen, die dem Be-scheid vom 15. August 1985 zugrunde gelegen haben, vermag der Senat nicht
festzustellen. Soweit der Berufungskläger für die Zeit seit dem 15. August 1985 eine weitere tatsächliche
Verschlechterung seines Hör-vermögens geltend gemacht hat, geht zwar der Senat in Übereinstimmung mit dem von
Dr. N. unter dem 18. Dezember 1996 erstatteten Gutachten davon aus, dass eine solche Abnahme des
Hörvermögens zwischenzeitlich tatsächlich eingetreten ist; im Gegensatz zur Auffassung des Berufungs-klägers ist
diese jedoch nicht mit der erforderlichen überwiegenden Wahr-scheinlichkeit ursächlich auf eine militärische oder
militärähnliche Dienst-verrichtung, einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder mi-litärähnlichen
Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Ver-hältnisse zurückzuführen (§ 1 Abs. 1
Bundesversorgungsgesetz – BVG). Der Senat folgt auch insoweit dem Gutachten des Dr. N. vom 18. Dezember
1996, nach dem eine während des Krieges beim Dienst als Pionier lärmbedingt eingetretene Hörschädigung – nur
diese ist gem. § 1 Abs. 1 BVG in Betracht zu ziehen – aus medizinischer Sicht nicht geeignet erscheint, auch in der
Zeit nach Erlass des Bescheides vom 15. August 1985 noch einen weiteren progredienten Verlauf zu nehmen. Diese
An-nahme des Gutachters stimmt mit gesicherten Erkenntnissen in der hals-nasen-ohren-ärztlichen Wissenschaft
überein, wonach mit einem allmähli-chen Fortschreiten der Hörschädigung nach kurz dauernden, jedoch sehr lauten
Schallereignissen im Sinne eines Knalltrauma allenfalls dann zu rechnen ist, wenn nach der Starklärmexposition eine
unmittelbare primäre Schädigung mit Hörverlust von 80 dB und mehr eingetreten ist (vgl. Schönberger-Mehrtens-
Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 5. Aufl. 1993, Nr. 7.3.2.1, S. 349 f). Beim Berufungskläger ist
demgegenüber, wor-auf auch Dr. N. zutreffend hingewiesen hat, noch für das Jahr 1964 ein gutes Verständnis von
Umgangssprache ärztlicherseits attestiert (Gutach-ten des Dr. O. vom 10. September 1964, Bl. 146 R der
Versorgungsakten unter B.). Andererseits kann die beklagte Verschlechterung des Hörvermö-gens nach August 1985
auch nicht mit einer durch den militärischen Dienst bedingten Exposition gegenüber schädigendem Dauerlärm im
Sinne einer Lärmschwerhörigkeit erklärt werden. Denn abgesehen davon, dass von ei-ner für eine solche Erkrankung
in zeitlicher Hinsicht ausreichenden Lärm-exposition beim Wehrdienst des Berufungsklägers nicht ausgegangen
werden kann, ist es jedenfalls auch einer solchen Schädigung eigen, dass sie nach einer Beendigung der
Lärmexposition nicht weiter fortschreitet (Schönberger-Mehrtens-Valentin, a.a.O., Nr. 7.1.3.3.3.3, S. 356). Mit Recht
hat es deshalb der Sachverständige Dr. N. ausgeschlossen, dass der mili-tärische Dienst des Berufungsklägers für
die nach August 1985 eingetrete-nen Verschlechterungen seines Hörvermögens noch als ursächlich in Be-tracht zu
ziehen ist. Ob darüber hinaus die beim Berufungskläger erstmals in den 80er Jahren aufgetretene und mit dem Teil-
Abhilfebescheid vom 15. August 1985 als Schädigungsfolge festgestellte Schwerhörigkeit über-haupt als solche auf
den militärischen Dienst des Berufungsklägers zu-rückgeführt werden kann, mag hiernach ebenfalls zweifelhaft
erscheinen. Indessen bedarf diese Frage im vorliegenden Verfahren keiner Klärung. Soweit sich jedenfalls das
Hörvermögen des Berufungsklägers nach Au-gust 1985 weiter verschlechtert hat, fehlt es an der überwiegenden
Wahr-scheinlichkeit einer Verursachung durch den Militärdienst im Sinne von § 1 Abs. 1 BVG, so dass diese
Änderung auch nicht erheblich im Sinne von § 48 Abs. 1 SGB X ist.
Entsprechendes gilt für die vom Berufungskläger geltend gemachten Be-schwerden im Bereich seiner
Lendenwirbelsäule. Allerdings ist insoweit nicht grundsätzlich auszuschließen, dass eine Beinverkürzung, wie sie im
Falle des Berufungsklägers rechtsseitig auf Grund der Schädigung gege-ben ist, auf Grund langjähriger Fehlbelastung
und Fehlhaltung zu einer Schädigung der Wirbelsäule führt. Überwiegend wahrscheinlich ist eine solche Verursachung
in Abgrenzung zu einer rein degenerativen Entste-hung indessen allenfalls dann, wenn die Wirbelsäule eine fixierte,
d.h. un-abhängig von der Körperhaltung beibehaltene Fehlstellung zeigt. Hierauf hat das Landesversorgungsamt in
seinem Widerspruchsbescheid vom 24. März 1998 unter Hinweis auf die Anhaltspunkte für die ärztliche Gut-
achtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbe-hindertengesetz von 1996 (AHP 96) bereits
mit Recht hingewiesen. Der Gutachter Dr. M. hat demgegenüber beim Berufungskläger eine fixierte Fehlstellung der
Lendenwirbelsäule nicht feststellen können. Hinzu kommt, dass die durch Verkürzung oder Amputation eines Beines
verursachte Fehlstellung der Lendenwirbelsäule dadurch entsteht, dass der durch Ab-kippung des Beckens zum
verkürzten bzw. amputierten Bein hin entste-hende Beckenschiefstand durch eine gegenläufige Krümmung der Wirbel-
säule kompensiert wird. Bei rechtsseitiger Beinverkürzung ist mithin eine Krümmung der Lendenwirbelsäule zu
erwarten, die von unten her zunächst ebenfalls nach rechts ausschwingt und dann weiter oben nach links zurück
schwingt, insgesamt also ein nach links geöffnetes Kreissegment bildet (vgl. Schönberger-Mehrtens-Valentin, a.a.O.,
Nr. 8.13.5.1 zu Fehlbelas-tungsschäden als Amputationsfolge). Die hiermit verursachte Fehlbelas-tung fördert eine
spondylotische Degeneration an Bandscheiben und Wir-beln vor allem an der Bogeninnenseite (Schönberger-
Mehrtens-Valentin, a.a.O.). Dr. M. hat demgegenüber in seinem Gutachten vom 22. Mai 1996 auf den von ihm
befundeten Röntgenaufnahmen einen konkavseitig be-tonten Verschleiß der Lendenwirbelsäule nicht feststellen
können. Über-dies hat er hervorgehoben, dass sich die Verschleißerscheinungen im Falle des Berufungsklägers nicht
einmal auf den Bereich der Lendenwir-belsäule konzentrierten, sondern in gleichem Umfang die Halswirbelsäule
beträfen. Insgesamt hat er hieraus zur Überzeugung des Senats mit Recht den Schluss gezogen, dass es sich bei
den Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht um Schä-
digungsfolgen, sondern um schicksalhafte, degenerative Verschleißer-scheinungen handele. Im übrigen kommt hinzu,
dass der Berufungskläger nach seinem eigenen Vorbringen seit Kriegsende durchgängig Schuhwerk mit einem
Höhenausgleich für die rechtsseitige Beinverkürzung getragen hat, so dass nicht einmal davon ausgegangen werden
kann, dass die Beinverkürzung zu einer dauerhaften Schrägstellung der Hüfte mit mögli-chen Folgen für die Statik der
Lendenwirbelsäule geführt hat. Auch inso-weit sind nach alledem die seit August 1985 eingetretenen Veränderungen
im Sinne von § 48 Abs. 1 SGB X nicht erheblich.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Ein Grund, gem. § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG die Revision zuzulassen, besteht nicht.