Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 20.11.2009
LSG Nsb: faires verfahren, rechtliches gehör, verfälschung, niedersachsen, beteiligter, parteiöffentlichkeit, intimsphäre, form, gutachter, gespräch
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 20.11.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Oldenburg S 8 R 281/08
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 2 R 516/09 B
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Gründe:
I.
Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde dagegen, dass das Sozialgericht seinem gegen den Sachverständigen
Dr. F. gerichteten Ablehnungsgesuch nicht entsprochen hat.
Der Kläger begehrt eine Erwerbsminderungsrente. Der vom Sozialgericht zum Sachverständigen bestellte Facharzt für
Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. F. bestellte den Kläger für den 8. September 2009 zur Untersuchung. Der Kläger
wollte an dieser Untersuchung in Begleitung seiner Ehefrau teilnehmen. Der Sachverständige forderte die Ehefrau
jedoch auf, außerhalb des Untersuchungsraums zu warten, und untersuchte den Kläger in Abwesenheit seiner Gattin.
Das Gutachten des Sachverständigen vom 10. September 2009 ging am 16. September 2009 beim Sozialgericht ein.
Bereits mit Schriftsatz vom 10. September 2009 hatte der Kläger den Sachverständigen als befangen abgelehnt und
zur Begründung insbesondere geltend gemacht, dass dieser eine Teilnahme seiner Ehefrau an der Untersuchung ohne
sachlichen Grund abgelehnt habe. Dies begründete Misstrauen hinsichtlich der Objektivität und Neutralität des
Sachverständigen.
In seiner vom Sozialgericht angeforderten Stellungnahme vom 15. September 2009 zu diesem Befangenheitsgesuch
hat der Sachverständige ausgeführt, dass er den Eindruck gewonnen habe, dass eine Anwesenheit der aus seiner
Sicht den "dominierenden Part" innehabenden Ehefrau zu einer Verfälschung des gutachterlichen
Untersuchungsergebnisses führen würde. Nicht der Kläger, sondern die Ehefrau ihrerseits habe Wert auf ihre
Teilnahme an der Untersuchung des Klägers gelegt. Durch seine Vorgehensweise habe das Beschwerdebild des
Klägers einer "dezidierten Beurteilung" zuführen können.
Mit Beschluss vom 23. September 2009 hat das Sozialgericht den Antrag des Klägers auf Ablehnung des
Sachverständigen zurückgewiesen. Der Sachverständige habe durchaus sachliche und nachvollziehbare Gründe dafür
vorgetragen, dass er die Ehefrau des Klägers an der Untersuchung nicht habe teilnehmen lassen. Er habe das Ziel
verfolgt, eine Begutachtungssituation zu schaffen, bei der der Kläger sich möglichst unbeeinflusst und unbefangen
habe äußern und bewegen können.
Mit der am 19. Oktober 2009 eingelegten Beschwerde macht der Kläger geltend, dass der Sachverständige seine
prozessualen Rechte beschnitten habe. Als Begleitperson sei seine Ehefrau zu der vom Kläger als "äußerst
erniedrigend" empfundenen und "mitunter strapaziösen" Untersuchung zuzulassen gewesen, wobei sie auch das
Recht gehabt hätte, Fragen zu stellen und Hinweise zu geben. Rechtlich sei es gar nicht ausschlaggebend, ob eine
solche Begleitperson zur mentalen Unterstützung des Versicherten oder aus anderen Gründen an der Untersuchung
teilnehmen wolle.
Der Sachverständige habe das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs missachtet. Des Weiteren habe der
Sachverständige den Grundsatz der Parteiöffentlichkeit verletzt, wobei allerdings der Beklagten ohnehin kein Recht
zur Teilnahme an der Untersuchung zuzugestehen sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt
der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Der Senat teilt die Einschätzung des Sozialgerichts, dass kein
berechtigter Anlass ersichtlich ist, den Sachverständigen Dr. F. als befangen anzusehen.
Nach § 60 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. § 42 der Zivilprozessordnung (ZPO) kann ein Richter - für
Sachverständige gilt Gleiches (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 406 ZPO) - wegen Besorgnis der Befangenheit
abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen.
Dies ist nicht erst dann der Fall, wenn der Richter oder Sachverständige tatsächlich befangen ist, sondern schon
dann, wenn ein Beteiligter bei Würdigung aller Umstände und bei vernünftigen Erwägungen Anlass hat, an der
Unvoreingenommenheit und der objektiven Einstellung des Richters bzw. Sach¬ver¬ständigen zu zweifeln. Ein im
Rahmen gebotener Verfahrensweise liegendes Verhalten kann keinen Ablehnungsgrund begründen
(Landessozialgericht Baden-Württem¬berg, B. v. 7. September 2009 - L 10 R 3976/09 B -).
Das Verhalten des abgelehnten Sachverständigen ist weder fachlich noch rechtlich zu beanstanden. Es ist damit kein
vernünftiger Anlass ersichtlich, an seiner Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung zu zweifeln.
Die fachliche Durchführung der Untersuchung ist zunächst Sache des Sachverständigen. Das Gericht darf ihm
grundsätzlich keine fachlichen Weisungen darüber erteilen, auf welchem Weg er das Gutachten zu erarbeiten hat.
Wenn es ein Sachverständiger für erforderlich hält, die Untersuchung in Abwesenheit dritter Personen vorzunehmen,
weil er die Verfälschung des Ergebnisses der Exploration befürchtet, bewegt er sich (vorbehaltlich besonderer
Umstände etwa in Form von nicht anders angemessen überwindbarer Kommunikationsschwierigkeiten des
Probanden) im Bereich seiner Fachkompetenz. Es ist kein wissenschaftlicher Standard erkennbar, der die
Anwesenheit Dritter bei Gutachten der vorliegenden Art vorsieht (vgl. zu diesen Maßstäben: BGH, B. v. 8. August
2002 - 3 StR 239/02 - NStZ 2003, 101).
Der Kläger macht im vorliegenden Verfahren insbesondere orthopädische Beeinträchtigungen geltend, die mit
erheblichen Schmerzen verbunden seien (vgl. etwa den Befundbericht des Chirurgen Dr. G. vom 2. April 2009,
wonach bereits schmerztherapeutische Maßnahmen eingeleitet worden sind). Bei solchen Krankheitsbildern lässt sich
das Ausmaß der dadurch bedingten Leistungseinschränkungen nur bei einer Gesamtbetrachtung der somatischen und
psychischen Beeinträchtigungen angemessen beurteilen; dabei sind insbesondere auch Lokalisation, Häufigkeit und
Charakter der Schmerzen, biografische Schmerzerfahrungen, die Auswirkungen eigener Bewältigungsstrategien sowie
die Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens und bei der Partizipation in verschiedenen
Lebensbereichen zu berücksichtigen (vgl. hierzu und zu weiteren Gesichtspunkten: Schiltenwolf in
Rompe/Erlenkämper/Schiltenwolf/Hollo, Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane, 5. Aufl., S. 510 ff.;
Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl., S. 672 ff.).
Dies macht zugleich deutlich, dass in Zusammenhängen der vorliegenden Art auch ein orthopädischer Gutachter sich
nicht mit Messungen, Funktionsproben und etwa durch die Auswertung von (regelmäßig nur eine geringe Spezifität
aufweisenden; vgl. Schiltenwolf, aaO, S. 514) radiologischen Aufnahmen begnügen kann, sondern namentlich auch
die psychischen Auswirkungen des Krankheitsbildes unter Einschluss der individuellen Bewältigungsressourcen zu
beurteilen hat. Bezeichnenderweise hat der abgelehnte Sachverständige ausgehend von diesem Ansatz die
Notwendigkeit eines psychiatrischen Zusatzgutachtens bejaht.
Gerade bei der Erhebung und Bewertung entsprechender psychischer Begleitumstände ist es aber von besonderer
Bedeutung, dass sich der Sachverständige einen möglichst unmittelbaren und ungestörten Eindruck von den
Schmerzerfahrungen des Probanden und von seinem Umgang mit den Schmerzen verschaffen kann.
Dementsprechend wird auch in der Fachliteratur empfohlen, im Regelfall keine Teilnahme von Angehörigen am
gutachterlichen Gespräch zuzulassen (vgl. Venzlaff/Foerster, aaO, S. 19).
Dabei ist im vorliegenden Zusammenhang ferner zu berücksichtigen, dass der Kläger die materielle Beweislast für die
anspruchsbegründenden Tatsachen trägt. Eine sorgfältige Aufklärung des Sachverhalts trägt gerade auch seinen
Interessen Rechnung. Es trägt damit auch den wohlverstandenen eigenen Interesse eines Rentenbewerbers
Rechnung, wenn der Sachverständige seinem Gutachten über die Erwerbsfähigkeit nur möglichst unverfälscht und
zutreffend ermittelte Umstände zugrunde zu legen trachtet (vgl. OVG Hamburg, B. v. 15. Juni 2006 - 1 Bs 102/06 -
DÖD 2007, 175).
Auch das weitere Vorbringen des Klägers gibt keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung:
Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verpflichtet zunächst die Gerichte, rechtliches Gehör zu gewähren; die
Möglichkeiten des Klägers, sich – persönlich oder durch Vermittlung seines Anwalts oder seiner Ehefrau - gegenüber
dem Sozialgericht zu äußern, sind im vorliegenden Zusammenhang in keiner Weise eingeschränkt worden. Soweit
dieses Grundrecht überhaupt unmittelbare Verpflichtungen gegenüber einem Sachverständigen (als einem sog.
Gehilfen des Gerichts, vgl. dazu Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 118, Rn. 11a) zu begründen
vermag, ist zunächst erneut darauf hinzuweisen, dass dem Kläger (im Gegensatz zur Beklagten) gerade durch den
Sachverständigen die Möglichkeit eröffnet worden ist, noch einmal (über seinen bereits aktenkundigen
schriftsätzlichen Vortrag hinaus) persönlich im Einzelnen seine Beschwerden, seine Problematik und seinen
Standpunkt zu erläutern. Eine Vermittlung des rechtlichen Gehörs durch dritte Personen, etwa durch einen Anwalt
oder – wie hier – durch einen Angehörigen, gewährleistet Art. 103 Abs. 1 GG ohnehin nicht (BVerfG, B.v. 11. März
1975 - 2 BvR 135 – 139/75 – E 39, 156).
Bei dieser Ausgangslage ist nur ergänzend darauf hinzuweisen, dass das rechtliche Gehör eingeschränkt werden
kann, wenn dies durch sachliche Gründe hinreichend gerechtfertigt ist (vgl. BVerfGE 81, 123 [129f.] = NJW 1990,
1104; BVerfG, Beschluss vom 27.10.1999 - 1 BvR 385/90 - NJW 2000, 1175).
Das Gebot der Parteiöffentlichkeit findet zum Schutz der Intimsphäre des zu Begutachtenden bei ärztlichen
Untersuchungen ohnehin keine Anwendung (vgl. etwa OLG Köln, B. v. 25. März 1992 – 27 W 16/92 – NJW 1992,
1568). Schon deshalb kann der Sachverständige es nicht missachtet haben (abweichend wohl: Landessozialgericht
Rheinland-Pfalz, B. v. 23. Februar 2006 - L 4 B 33/06 SB - SGb 2006, 500). Dementsprechend ist nur ergänzend
klarzustellen, dass der Kläger als Beteiligter (im Gegensatz zur Beklagten) bei der Untersuchung selbstverständlich
anwesend war; seine Ehefrau ist ohnehin nicht Beteiligte im vorliegenden Verfahren.
Soweit der Kläger das Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (vgl. dazu – in ganz anderem Zusammenhang – den
vom Kläger zitierten Beschluss des BSG vom 9. April 2003 – B 5 RJ 140/02 B) missachtet sieht, erschließt sich aus
dem Befangenheitsgesuch schon nicht, dass die Vorgehensweise des Sachverständigen aus der Sicht eines
verständigen Beteiligten als unfair zu betrachten sein könnte. Namentlich lässt sich nichts dafür objektivieren, dass
der Kläger durch die Abwesenheit seiner Ehefrau an der Geltendmachung seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen
gegenüber dem Sachverständigen gehindert war. Das inzwischen vorliegende Gutachten gibt seine
Beschwerdeschilderungen vielmehr ausführlich wieder. Erst recht ist nichts dafür erkennbar, dass der Kläger
substantiiert gegenüber dem Sachverständigen sachliche Gründe dafür aufgezeigt hat, dass er – abweichend vom
Regelfall eines erwachsenen Probanden – auf eine Anwesenheit seiner Ehefrau zur sachgerechten Wahrnehmung
seiner Interessen angewiesen sei.
Vor diesem Hintergrund vermag der Senat auch dem - schon die erforderlich Substantiierung vermissen lassenden -
Hinweis des Klägers keine Relevanz beizumessen, wonach er im Beisein seiner Frau sein "Schamgefühl" eher hätte
überwinden können. Der mit der Untersuchung als solche verbundene (im vorliegendem Zusammenhang seinem
Umfang nach durchaus überschaubare) Eingriff in die Intimsphäre wird dem Betroffenen zugemutet (vgl. insbesondere
§ 62 SGB I) und wird aus der Sicht eines verständigen Beteiligten durch die Anwesenheit weiterer Personen bei der
Begutachtung auch nicht abgeschwächt (wenn nicht sogar verstärkt). Im Übrigen wird das vorliegende Verfahren auf
Wunsch des die Klage führenden Klägers betrieben.
Soweit der Kläger darauf hingewiesen hat, dass eben dieses "Schamgefühl" dazu geführt habe, dass er sich selbst
(etwa beim An- und Ausziehen) "geholfen" und nicht die angebotene Hilfe des Sachverständigen in Anspruch
genommen habe (wohingegen er im Falle der Anwesenheit seiner Ehefrau deren Hilfe offenbar beansprucht hätte),
bringt er im Übrigen letztlich selbst zum Ausdruck, dass eine Anwesenheit der Ehefrau die Gefahr einer Verfälschung
der Untersuchungsergebnisse in Form objektiv nicht erforderlicher Hilfeleistungen mit sich gebracht hätte.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).