Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 10.09.2001

LSG Nsb: vorläufiger rechtsschutz, aussetzung, unterlassen, einsichtnahme, rechtswidrigkeit, form, niedersachsen, verwaltungsakt, vollzug, verschwiegenheit

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 10.09.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 9 AL 992/00
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 8 AL 5/01 ER
Der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 27. November 2000 wird aufgehoben. Der Antrag vom 23. November
2000 auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Eilverfahrens um die Berechtigung der Antragsgegnerin (Ag), sich von der
Antragstellerin (Ast) im Rahmen von Außenprüfungen bestimmte Unterlagen (Tourenpläne) vorlegen zu lassen.
Auf Grund eines anonymen Hinweises über einen Verstoß gegen die Regelungen für geringfügig Beschäftigte wurde
durch die Ag am 14. August 1997 eine Außenprüfung gemäß § 150 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) iVm den §§ 107,
104 Sozialgesetzbuch – Viertes Buch – (SGB IV) angeordnet. Am 24. März 1998 wurde bei der Ast unter Übergabe
der Prüfungsverfügung eine Außenprüfung durchgeführt. Die Überprüfung von Zeiterfassungskarten und einem
Tourenplan aus dem Monat März 1998 ergab, dass die Geringfügigkeitsgrenze des § 8 SGB IV überschritten worden
war. Aus diesem Grund ordnete die Ag am 24. März 1998 eine weitere Außenprüfung für den 21. April 1998 an. Die
gewünschte Vorlage der Tourenpläne und Zeiterfassungskarten für die Zeit ab dem 1. Januar 1997 wurde von
Mitarbeitern der Ast verweigert. Nach umfangreichem Schriftwechsel wurde für den 16. November 1998 die
Fortsetzung der Außenprüfung angeordnet. Die Vorlage der gewünschten Unterlagen wurde wiederum verweigert. Der
Geschäftsführer der Ast wurde insoweit einer Ordnungswidrigkeit gemäß § 404 Abs 2 Nr 17 iVm § 306 Abs 1 Satz 1
SGB III für schuldig befunden und zur Zahlung einer Geldbuße von 3.000,00 DM verurteilt.
Mit Widerspruchsbescheid vom 13. März 2000 wies die Ag einen Widerspruch gegen die am 24. März 1998
übergebene Prüfungsanordnung als unbegründet zurück. Gemäß der nunmehr einschlägigen Regelung des § 304 SGB
III sei die Bundesanstalt für Arbeit berechtigt, zur Aufdeckung von Leistungsmissbrauch Außenprüfungen in Betrieben
durchzuführen und dort Einsicht in die Lohn-, Melde- und vergleichbaren Unterlagen des Arbeitgebers zu nehmen.
Hierzu gehörten auch die Tourenpläne. Hiergegen hat die Ast am 23. März 2000 Klage erhoben und die Aufhebung der
Prüfungsanordnung beantragt, soweit sie verpflichtet wird, ihre Tourenpläne vorzulegen. Das Verfahren ist beim
Sozialgericht (SG) Hannover unter dem Aktenzeichen S 9 AL 252/00 anhängig.
Mit Schreiben vom 7. November 2000 teilte die Ag der Ast mit, dass sie beabsichtige, am 20. November 2000 um
10.00 Uhr eine Außenprüfung durchzuführen. Weiter heißt es in dem Schreiben: "Bitte tragen Sie dafür Sorge, dass zu
diesem Zeitpunkt alle erforderlichen Geschäftsunterlagen zur Einsichtnahme bereit liegen. Hierbei handelt es sich um
die Tourenpläne und Zeiterfassungskarten aus dem Zeitraum vom 1. Januar 1997 bis 22. März 1998."
Mit am gleichen Tag beim SG Hannover eingegangenem Schreiben vom 23. November 2000 beantragte der
Prozessbevollmächtigte der Ast "im Wege der einstweiligen Anordnung festzustellen: Der Beklagten und Ag wird
untersagt, bis zum rechtskräftigen Abschluss dieses Verfahrens eine Außenprüfung bei der Klägerin durchzuführen”.
Mit Beschluss vom 27. November 2000 erließ das SG Hannover die begehrte einstweilige Anordnung. Der am 21.
Dezember 2000 eingegangenen Beschwerde hat das SG nicht abgeholfen und die Sache dem Landessozialgericht
(LSG) zur Entscheidung vorgelegt.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Voraussetzungen für den Erlass des angefochtenen Beschlusses liegen
nicht vor, er ist deshalb aufzuheben.
Die hier begehrte einstweilige Anordnung findet keine Rechtsgrundlage in den derzeitigen Regelungen des SGG. Die
Vorschrift des § 97 Abs 2 SGG bietet nur einstweiligen Rechtsschutz bei Anfechtungsklagen, nicht jedoch bei
Verpflichtungs-, Unterlassungs- oder Feststellungsklagen. Begehrt wird von der rechtskundig vertretenen Ast das
Unterlassen einer sie belastenden Handlung der Ag und damit keine Regelung, die einer Entscheidung nach § 97 Abs
2 SGG zugänglich ist.
In solchen Fällen ist zu prüfen, ob aus anderen Gründen vorläufiger Rechtsschutz gewährt werden kann.
Der im Sozialgerichtsgesetz (SGG) jedenfalls bis Ende des Jahres unvollständig geregelte vorläufige Rechtsschutz
(zur Situation ab dem 2. Januar 2002 vgl 6. Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes – 6. SGG-ÄndG – vom
17. August 2001, BGBl I Seite 2144) lässt in Anwendung des Rechtsgedankens des Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG)
weitergehenden vorläufigen Rechtsschutz (nur) dann zu, wenn andernfalls schwere, unzumutbare und anders nicht
abwendbare Nachteile entstehen, die nachträglich auch durch eine günstige Entscheidung in der Hauptsache nicht
behoben werden können (BVerfGE 46, Seite 166). Die einstweilige Anordnung soll also verhindern, dass durch
Hoheitsakte der Behörden und Leistungsträger Tatsachen geschaffen werden, die sich bei nachträglicher Feststellung
ihrer Rechtswidrigkeit im Hauptsacheprozess nicht mehr rückgängig machen lassen. Daraus ergibt sich, dass an
einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz hohe Anforderungen zu stellen sind, damit dieses Rechtsinstitut nicht
zur Abwehr eines jeden zu befürchtenden Nachteils missbraucht wird.
Das SG hat unter Berücksichtigung des ausdrücklich gestellten Antrages seine Entscheidung im vorläufigen
Rechtsschutz in die Form des (zwar nicht ausdrücklich erwähnten, jedoch entsprechend angewandten) § 123 VwGO
gekleidet und angenommen, dass die Voraussetzungen für eine Sicherungsanordnung (§ 123 Abs 1 Satz 1 VwGO)
vorliegen. Dies ist nicht der Fall.
Der Streitgegenstand des Hauptsacheverfahrens S 9 AL 252/00 kann durch die Durchführung einer Außenprüfung,
deren Unterlassen von der rechtskundig vertretenen Ast hier begehrt wird, nicht verändert werden. Im
Hauptsacheverfahren wendet sich die Ast mit einer Anfechtungsklage gegen eine konkrete Prüfungsanordnung und
die darin enthaltene Aufforderung, bestimmte Unterlagen vorzulegen. Weitere Außenprüfungen können diesen
Streitgegenstand nicht verändern, so dass die Voraussetzungen des § 123 Abs 1 Satz 1 VwGO (bzw zukünftig: § 86b
Abs 2 Satz 1 SGG) bereits tatbestandlich nicht vorliegen.
Für eine vorläufige Regelung in Bezug auf mögliche weitere Außenprüfungen fehlt der Ast das Rechtsschutzbedürfnis.
Wenn die Ast der Auffassung ist, dass Außenprüfungen rechtswidrig sind, kann sie – wie bereits in der Vergangenheit
geschehen – die Mitwirkung verweigern. Über die Rechtmäßigkeit wird dann ggf in einem Bußgeldverfahren zu
befinden sein.
Eine Umdeutung des Antrages kommt nicht in Betracht. Zwar hat der Vorsitzende ua darauf hinzuwirken, dass
sachdienliche Anträge gestellt werden (§ 106 Abs 1 SGG), auch ist das Gericht an die Fassung der Anträge nicht
gebunden (§ 123 SGG). Ein Grund, von klar formulierten Anträgen abzuweichen oder dies auch nur zu erörtern,
besteht dann nicht, wenn – wie hier – ein Rechtsanwalt einen klaren Antrag formuliert hat. In einem solchen Fall kann
das Gericht davon ausgehen, dass das Beantragte auch tatsächlich in dieser Form gewollt ist, auch wenn im Hinblick
auf das Hauptsacheverfahren ein anderer Antrag (Aussetzung des Vollzuges des Schreibens der Ag vom 7.
November 2000) angebracht gewesen wäre.
Im Übrigen hätten – so jedenfalls das Ergebnis einer summarischen Prüfung – auch die Voraussetzungen für eine
Aussetzung des Vollzuges bezogen auf das Schreiben der Ag vom 7. November 2000 nicht vorgelegen. Dieses
Schreiben enthält zum einen die Ankündigung einer weiteren Außenprüfung und zum anderen die Aufforderung,
Tourenpläne und Zeiterfassungskarten aus dem Zeitraum vom 1. Januar 1997 bis 22. März 1998 zur Einsichtnahme
bereitzulegen. Bezüglich der Ankündigung der Außenprüfung ist bereits fraglich, ob es sich insoweit um einen
Verwaltungsakt handelt, weil eine ausdrückliche Regelung nicht getroffen wird (anderer Ansicht: Theuerkauf in Hennig,
SGB III, § 306 Rdnr 4; Ambs in GK-SGB III, § 305 Rdnr 2). Vorläufiger Rechtsschutz wäre jedenfalls bereits deshalb
nicht zu gewähren, weil es sich bei der Ankündigung einer Maßnahme nicht um die Durchführung staatlicher
Maßnahmen handelt und damit keine Tatsachen geschaffen werden können, die sich bei nachträglicher Feststellung
ihrer Rechtswidrigkeit im Hauptsacheprozess nicht mehr rückgängig machen ließen. Die Ast wäre insoweit darauf zu
verweisen, dass sie – wie bereits in der Vergangenheit geschehen – die Mitwirkung verweigern und die
Rechtmäßigkeit ggf in einem Bußgeldverfahren überprüfen lassen kann.
Verwaltungsaktqualität ist allerdings dem zweiten Teil des Schreibens vom 7. November 2000 nicht abzusprechen.
Mit der Aufforderung, bestimmte Unterlagen bereitzuhalten, hat die Ag eine Verpflichtung der Ast geregelt. Diese
Regelung hält sich im Rahmen des § 305 Abs 1 Satz 1 SGB III; danach kann Einsicht in die Lohn-, Melde- oder
vergleichbaren Unterlagen genommen werden. Ob es sich bei den Tourenplänen tatsächlich um vergleichbare
Unterlagen iS dieser Vorschrift handelte, wird ggf im Hauptsacheverfahren zu entscheiden sein. Jedenfalls ist die
streitige Regelung nicht offensichtlich rechtswidrig.
Der Vollzug der Aufforderung könnte nur dann ausgesetzt werden, wenn das Vollzugsinteresse der Ag hinter dem
Interesse der Ast zurückzutreten hat. Dabei wäre zu beachten, dass es sich bei der Möglichkeit des § 97 Abs 2 SGG
ebenso wie bei anderen vergleichbaren Regelungen um die vom Gesetzgeber ermöglichte Ausnahme von der Regel
handelt. Pläne über rund drei Jahre zurückliegende Touren von Fahrern der Ast dürften die Sicherheitsinteressen der
bei ihr beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kaum noch beeinträchtigen, zumal die Ast selber
ausgeführt hat, dass ein Tourenplan keine Dokumentation über die tatsächlich durchgeführten Touren darstellt. Hinzu
kommt, dass die zur Durchführung der §§ 304 ff SGB III eingesetzten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ag zur
Verschwiegenheit verpflichtet sind, soweit sie nicht gesetzlich zur Weitergabe der erhaltenen Informationen
verpflichtet sind. Jedenfalls bei Abwägung der Interessen der Ast mit den Interessen der Allgemeinheit, insbesondere
an der Bekämpfung von Rechts- und Sozialmissbräuchen, würde hier das öffentliche Interesse überwiegen, so dass
auch insoweit eine Aussetzung des Vollzuges nicht in Betracht käme.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).