Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 26.02.2003

LSG Nsb: behandlung, innere medizin, krankenkasse, gsg, niedersachsen, zahnarzt, kieferanomalie, ausnahmefall, auskunft, leistungsanspruch

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 26.02.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 2 KR 556/00
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 4 KR 151/01
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist die Kostenübernahme einer kieferorthopädischen Behandlung.
Die am 1. November 1960 geborene Klägerin beantragte am 19. April 1999 die Kostenübernahme für eine
kieferorthopädische Behandlung. Der Beklagten wur-de ein kieferorthopädischer Behandlungs- und Kostenplan des
Prof Dr C., Fach-zahnarzt für Kieferorthopädie, Kieferorthopädische Abteilung, Klinik und Poliklinik für Zahn-, Mund- u.
Kieferheilkunde, Göttingen, vom 26. Januar 1999 vorgelegt. Danach bestehe bei der Klägerin die Diagnose "Massiver
Distalbiß mit Verlust von Zahn 13; Mittellinienverschiebung, stark retrudierte Oberkieferfront, starker Engstand der
Unterkieferfront.” Es sei vorgesehen, mit festen und herausnehm-baren Apparaturen die Dysgnathie zu beheben,
wobei die kieferorthopädische Behandlung aus karies- und parodontalprophylaktischen Gründen sowie zur Bes-serung
der Kaufunktion unbedingt notwendig sei. Die voraussichtlichen Behand-lungskosten sollten sich auf 7.864,39 DM
belaufen.
Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 26. April 1999 ab. Laut "§ 29” Sozialgesetzbuch
Fünftes Buch – SGB V – sei eine Kostenübernah-me für Versicherte, die bei Beginn der Behandlung das 18.
Lebensjahr vollendet haben, ausgegrenzt. Auf Empfehlung ihres Zahnarztes reichte die Klägerin am 12. November
1999 erneut einen kieferorthopädischen Behandlungs- und Kos-tenplan ein. Die Beklagte lehnte eine
Kostenübernahme erneut ab (Bescheid vom 17. November 1999). Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Zur
Begrün-dung ihrer kieferorthopädischen Behandlungsmaßnahme schilderte sie ihre Krankheitsgeschichte: sie führe die
ihr empfohlene kieferorthopädische Therapie durch, wobei für die orthopädische Behandlung insgesamt 3 Zähne
gezogen wor-den seien. Es seien feste Klammern oben und unten geklebt worden. Seit No-vember knacke das
Kiefergelenk nicht mehr und das Kiefergelenk sei nicht mehr versperrt (vgl im Einzelnen Schreiben der Klägerin vom
23. Dezember 1999). Die Beklagte holte eine Stellungnahme bei dem Medizinischen Dienst der Kranken-versicherung
Niedersachsen, Hannover, - MDK – ein. Die Widerspruchsstelle der Beklagten wies den Widerspruch der Klägerin mit
Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 2000 zurück. Nach § 29 SGB V bestehe der Anspruch auf kieferorthopädi-sche
Versorgung in medizinisch begründeten Indikationsgruppen grundsätzlich nur bis zur Vollendung des 18.
Lebensjahres. Die Klägerin habe bei Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr bereits vollendet. Es bestehe auch
keine Aus-nahme nach § 28 Abs 2 Satz 7 SGB V, die nur für Versicherte mit schweren Kie-feranomalien gelte, die ein
Ausmaß hätten, das kombinierte kieferchirurgische Behandlungsmaßnahmen erforderlich machen würden.
Die Klägerin hat am 8. August 2000 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben. Sie hat vorgetragen, sie
leide seit ihrer Kindheit unter kieferorthopädi-schen Problemen. Hierzu verweist sie auf ihr Schreiben vom
Widerspruchsverfah-ren vom 23. Dezember 1999, in dem sie diese ausführlich geschildert habe. Nach der Behandlung
bei mehreren Ärzten sei sie an die Universitätsklinik Göttingen überwiesen worden. Dort habe sie bei Prof Dr C. die
kieferorthopädische Be-handlung entsprechend dem Behandlungs- und Kostenplan vom 26. Januar 1999 durchgeführt.
Diese Behandlung sei erfolgreich verlaufen, denn sie sei seit No-vember 1999 praktisch beschwerdefrei.
Die Klägerin legte Arztbriefe des Dr D., Hals-Nasen-Ohrenarzt (14. Juli 1987; des Dr E., Arzt für Hals-, Nasen-, Ohren-
Heilkunde (14. Mai 1990), des Dr F., Arzt für Orthopädie (3. Juni 1992) und des Dr G., Arzt für Innere Medizin (3.
Dezember 1999), vor.
Die Klägerin hat ferner einen Arztbrief des Zahnarztes H. vom 6. November 2000 vorgelegt, wonach sie die Praxis im
Januar 1990 wegen massiven Kiefergelenks-beschwerden und Morbus-Menière aufsuchte und dort behandelt worden
sei. Es sei auch eine KFO-Unterstützung vor Ort in Erwägung gezogen und durchgeführt worden.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 3. Mai 2001 abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es im
Wesentlichen ausgeführt: Die streitbefangene kieferorthopädische Behandlung gehöre im vorliegenden Fall nicht zu
den von den gesetzlichen Krankenkassen geschuldeten Leistungen. Zwar hätten Versi-cherte grundsätzlich im
Rahmen des § 27 Abs 1 SGB V iVm § 29 SGB V An-spruch auf kieferorthopädische Behandlung unter den dort
aufgeführten Voraus-setzungen, jedoch sei dieser Anspruch gemäß § 28 Abs 2 Satz 6 SGB V ausge-schlossen, wenn
der Versicherte zu Beginn der kieferorthopädischen Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet habe. Das sei
vorliegend der Fall. Damit unterliege die streitbefangene Behandlung nicht der Leistungspflicht durch die Beklagte. Ein
Ausnahmefall gem § 28 Abs 2 Satz 7 SGB V sei nicht gegeben. Diese setze eine schwere Kieferanomalie voraus, die
eine kombinierte kieferchirurgische und kie-ferorthopädische Behandlungsmaßnahme erfordere. Selbst wenn die
Klägerin einwende, es sei eigentlich eine kieferchirurgische Behandlung vorgesehen ge-wesen, so gehe dies weder
aus dem vorgelegten kieferorthopädischen Behand-lungs- und Kostenplan vom 26. Januar 1999 hervor noch sei eine
solche Maß-nahme tatsächlich durchgeführt worden. Vielmehr sei allein eine kieferorthopädi-sche Behandlung
durchgeführt worden. Darüber hinaus könne das geltend ge-machte Kostenerstattungsbegehren nicht auf Art 33 § 5
Gesundheitsstrukturge-setz – GSG – (gültig ab 1. Januar 1993) gestützt werden. Danach hätten Versi-cherte, die das
18. Lebensjahr vollendet haben und deren kieferorthopädische Behandlung vor dem 1. Januar 1993 begonnen habe,
Anspruch auf Übernahme der Kosten der kieferorthopädischen Behandlung einschließlich zahntechnischer Leistungen
in der Höhe, wie sie das am 31. Dezember 1992 geltende Recht vor-gesehen habe, wenn die Krankenkasse vor dem
5. November 1992 über den An-spruch bereits schriftlich entschieden habe. Diese Voraussetzungen lägen nicht vor.
Zum einen habe die damalige Krankenkasse der Klägerin nicht vor dem 5. November 1992 über den Anspruch
schriftlich entschieden. Zum anderen sei die 1999 durchgeführte kieferorthopädische Behandlung nicht, wie die
Klägerin mei-ne, bereits 1999 begonnen und kontinuierlich fortgeführt worden. So lasse sich den Behandlungsdaten
des Zahnarztes H. nebst beigefügten Unterlagen nur ent-nehmen, dass die Klägerin seit 1990 regelmäßig in
zahnärztlicher Behandlung gewesen sei. Eine durchgehende kieferorthopädische Behandlung auf Grundlage eines
Behandlungsplanes sei nicht ersichtlich. Ein solcher Behandlungsplan liege auch nicht vor. Dies werde weiterhin
bestätigt durch die Auskunft der AOK (vorhe-rige Krankenkasse der Klägerin) vom 28. November 2000, in welcher die
Kran-kenkasse mitgeteilt habe, dass für die Klägerin keine Kostenübernahme für kie-ferorthopädische Behandlung
bewilligt worden sei.
Die Klägerin hat gegen dieses ihr am 18. Mai 2001 zugestellte Urteil am 16. Juni 2001 Berufung vor dem
Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Sie ist der Ansicht, bei ihr sei ein Ausnahmetatbestand gem § 28 Abs 2 Satz 7
SGB V gegeben. Au-ßerdem sei mit ihrer kieferorthopädischen Behandlung bereits vor dem 1. Januar 1993 begonnen
worden.
Die Klägerin legt eine Bescheinigung sowie die Rechnungen über die kieferortho-pädische Behandlung des Prof Dr C.
vor.
Mit den Beteiligten hat am 31. Oktober 2002 ein Erörterungstermin vor dem Be-richterstatter des Senats
stattgefunden. Bezüglich des Ergebnisses wird auf die Ergebnisniederschrift Bezug genommen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 3. Mai 2001 und die Bescheide der Beklagten vom 26. April 1999 und 17.
November 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2000 aufzuheben,
die Beklagte zu verurteilen, ihr die Kosten für die kieferorthopädi-sche Behandlung in Höhe von 4.138,66 EUR zu
erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf das erstinstanzliche Urteil.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Pro-zessakten des ersten und zweiten
Rechtszuges sowie die beigezogene Verwal-tungsakte der Beklagten und die beigezogenen Behandlungsunterlagen
des Zahnarztes H. verwiesen. Diese waren Gegenstand der Entscheidung.
Entscheidungsgründe:
Mit Einverständnis der Beteiligten hat der Senat gem § 124 Abs 2 Sozialgerichts-gesetz (SGG) ohne mündliche
Verhandlung entschieden.
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist gem §§ 143 f SGG statthaft und im Übrigen frist- und formgerecht erhoben
worden.
Die Berufung ist aber nicht begründet. Die Entscheidung des SG ist zutreffend. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf
Übernahme der Kosten für die erfolgte kie-ferorthopädische Behandlung.
Nach § 28 Abs 2 Satz 6 SGB V (die Vorschrift wurde durch das Gesundheits-strukturgesetz – GSG – vom 21.
Dezember 1992 – BSGBl I S 2266 – als Satz 2 des § 28 Abs 2 SGB V mit Wirkung zum 1. Januar 1993 eingeführt)
gehört die kieferorthopädische Behandlung von Versicherten, die – wie die Klägerin – zu Beginn der Behandlung das
18. Lebensjahr vollendet haben, nicht zur zahnärztli-chen Behandlung. Eine Ausnahme gilt nach § 28 Abs 2 Satz 7
SGB V nur für Versicherte mit schweren Kieferanomalien, die ein Ausmaß haben, das kombi-nierte kieferchirurgische
und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erfor-dert. Die Voraussetzungen für einen Ausnahmefall im Sinne
dieser Vorschrift lie-gen bei der Klägerin nicht vor. Den vorgelegten und beigezogenen ärztlichen Be-
handlungsunterlagen, insbesondere des Zahnarztes H. und des Prof Dr I. ist nicht zu entnehmen, dass bei der
Klägerin ein Fall einer schweren Kieferanomalie, die eine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische
Behandlungsmaß-nahme erfordert, vorlag. So ist ua der Bescheinigung des Prof Dr C. vom 25. September 2001 zu
entnehmen, dass bei der Klägerin zwar ein massiver Distal-biß mit Verlust von Zahn 13, Mittellinienverschiebung,
stark retrudierte Oberkie-ferfront und starker Engstand der Unterkieferfront vorlagen; eine schwere Kiefer-anomalie im
Sinne der Ausnahmeregelung des § 28 Abs 2 Satz 7 SGB V wird damit nicht begründet, denn unstreitig wurde auch
keine kombinierte kieferchirur-gische und kieferorthopädische Behandlungsform durchgeführt.
Die Klägerin kann auch keinen Leistungsanspruch aus der Überleitungsvorschrift des Art 33 § 5 GSG herleiten.
Danach haben Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und deren kieferorthopädische Behandlung vor
dem 1. Januar 1993 begonnen hat, Anspruch auf Übernahme der Kosten der kieferorthopädi-schen Behandlung
einschließlich zahntechnischer Leistungen in der Höhe, wie sie das am 31. Dezember 1992 geltende Recht vorsah,
wenn die Krankenkasse vor dem 5. November 1992 über den Anspruch bereits schriftlich entschieden hat. Diese
Voraussetzungen liegen hier ebenfalls nicht vor. Darauf hat das SG zu-treffend hingewiesen, denn die
Behandlungsmaßnahme begann erst im Jahre 1999 (vgl Bescheinigung des Prof Dr C., aaO sowie
kieferorthopädischer Be-handlungs- und Kostenplan vom 26. Januar 1999). Soweit sich die Klägerin in diesem
Zusammenhang auf gelegentlich durchgeführte kieferorthopädische Be-handlungs- bzw Unterstützungsmaßnahmen
durch ihren Zahnarzt beruft (vgl dazu die Bescheinigung des Zahnarztes H. vom 6. November 2000), stellt dies keine
kieferorthopädische Behandlung iSd Überleitungsvorschrift dar. Im Übrigen ver-weist der Senat auf die zutreffenden
Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils.
Ergänzend weist der Senat noch darauf hin, dass das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden hat, dass die
durch das GSG eingeführte Leistungsbegren-zung bei kieferorthopädischen Behandlungen bei Erwachsenen keinen
verfas-sungsrechtlichen Bedenken begegnet (vgl auch Urteil des Senats vom 20. No-vember 2002 – L 4 KR 47/02 –
unter Hinweis auf BSG SozR 3-2550 § 28 SGB V Nr 3).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision haben nicht vorgelegen (§ 160 Abs 2 Nrn 1, 2 SGG).