Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 26.11.2002
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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 26.11.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 17 SB 836/97
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 5/9 SB 48/00
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Nachteilsausgleiche ”aG” (außergewöhnlich gehbehindert) und ”RF” (Befreiung
von der Rundfunkgebührenpflicht).
Der am I. geborene Kläger leidet an vielfältigen Gesundheitsstörungen, wobei ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus
mit Sekundärerkrankungen und eine coronare Herzkrankheit im Vordergrund stehen.
In Ausführung eines vor dem Sozialgericht (SG) Hannover abgegebenen Anerkenntnisses stellte das Versorgungsamt
(VA) Osnabrück die Gesundheitsstörungen des Klägers zuletzt mit Bescheid vom 2.Oktober 1987 wie folgt fest:
Coronare Herzkrankheit mit Beteiligung mehrerer Gefäße nach abgelaufenem Hinterwandinfarkt, insulinpflichtiger
Diabetes mellitus, sekundäre Angio- und Neuropathie, Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule, beider
Schultergelenke, Hüft- und Kniegelenke, Sehnenverkalkung am rechten Schultergelenk, Knick- Senkfuß, Spreizfuß
beiderseits.
Der Grad der Behinderung (GdB) betrug 100. Der Nachteilsausgleich ”G” (erhebliche Beeinträchtigung der
Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) wurde zuerkannt.
Unter dem 4. Februar 1997 beantragte der Kläger die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs ”RF”, der bereits mit
Bescheid von Dezember 1983/Widerspruchsbescheid von Januar 1984 abgelehnt worden war. Der Kläger machte
geltend, seine Erkrankungen hätten sich wesentlich verschlechtert und er leide infolge seiner Stoffwechsellabilität an
Unterzuckerungsschocks. Um eine Unterzuckerung zu verhüten, sei er auf täglich mindestens 6 Blut- und
Urinzuckermessungen angewiesen, müsse 7 Mahlzeiten einnehmen und Insulininjektionen setzen. Daher sei eine
Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen. Nach Beiziehung und Auswertung der Befundberichte
des behandelnden Arztes Dr. J., des Kardiologen Dr. K. sowie des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie L. vom
März 1997 lehnte das VA Oldenburg – Außenstelle Osnabrück – den Antrag mit Bescheid vom 7. Mai 1997 ab.
Seinen dagegen eingelegten Widerspruch begründete der Kläger mit zunehmend auftretenden
Unterzuckerungszuständen infolge seines schlecht einstellbaren Diabetes. Die sich verschlimmernde diabetische
Polyneuropathie führe zu Taubheit und Kribbeln in beiden Händen und Beinen. Dadurch sei sein Gehvermögen stark
eingeschränkt. Auch die Störungen des Stütz- und Bewegungsapparates hätten sich verstärkt. Mit
Widerspruchsbescheid vom 21. Oktober 1997 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Dagegen hat sich der Kläger mit seiner am 28. Oktober 1997 erhobenen Klage gewandt, mit der er geltend gemacht
hat, im Rahmen eines hypoglykämischen Schocks zu Hause gestürzt zu sein und sich den Unterschenkel gebrochen
zu haben. Seine diabetische Rethinopathie sei bislang nicht eigenständig erfasst worden. Zudem verursachten die
Störungen des Stütz- und Bewegungsapparates sehr starke Rücken- und Gelenkschmerzen, die von deutlichen
Bewegungseinschränkungen begleitet würden. Er könne höchstens 150 m schmerzfrei gehen und beantrage deshalb
auch die Zuerkennung des Merkzeichens ”aG”.
Das SG Hannover hat den erstmals im Klageverfahren beantragten Nachteilsausgleich ”aG” im Wege der
Klageänderung in das Verfahren mit einbezogen und die Klage mit Urteil vom 17. Februar 2000 , zugestellt am
22.März 2000, abgewiesen.
Hiergegen richtet sich die am 18. April 2000 eingegangene Berufung des Klägers, mit der er geltend macht, eine
Teilnahme an Veranstaltungen sei schon deshalb ausgeschlossen, weil er die übrigen Teilnehmer durch die Einnahme
einer Mahlzeit oder Blutzuckermessung erheblich stören würde. Dies gelte umso mehr für den Eintritt eines
hypoglykämischen Schocks. Auch habe er Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens ”aG”. Insoweit habe das SG
die Auswirkungen des Umstandes, dass er bereits nach 100 m eine Pause einlegen müsse, für die Bewältigung einer
ortsüblichen Strecke verkannt. Wegen der bei ihm gebotenen Einstellung mit einer konventionellen Insulintherapie sei
er nicht flexibel. Der ausgearbeitete Zeitplan für die Einnahme der Mahlzeiten, die Blutzuckermessungen und
Insulingaben müssten strikt eingehalten werden, um eine u.U. lebensbedrohliche Unterzuckerung zu vermeiden. Zum
Beleg der Verschlimmerung seiner Beschwerden hat der Kläger Befundberichte seiner behandelnden Ärzte Dr.
(Weilacher), Dr. K., Dr. M., Herrn L., Herrn N., Prof. Dr. O., Dr. P. sowie einen Bericht des Zentralkrankenhauses
Links der Weser aus den Jahren 1998 bis 2002 vorgelegt.
Der Kläger beantragt:
1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 17. Februar 2000 und den Bescheid vom 7. Mai 1997 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 21. Oktober 1997 aufzuheben,
2. den Beklagten zu verurteilen, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche ”aG” und ”RF”
festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung verweist er auf die gutachterlichen Stellungnahmen seines Medizinischen Dienstes vom 7. August,
29. September, 16. Oktober und 26. Oktober 2000 sowie 7. Februar und 3. April 2001 durch die Fachärztin für
Neurologie Dr. Q ...
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge hat die den Kläger betreffende Schwerbehindertenakte (Az: R.) des VA
Oldenburg – Außenstelle Osnabrück – vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung ist nicht begründet.
Die Klage ist in Bezug auf den erstmals im Klageverfahren beantragten Nachteilsausgleich ”aG” unzulässig.
Unabhängig davon, ob es sich bei dem erstinstanzlich gestellten Antrag auf Anerkennung des Nachteilsausgleichs
”aG” um eine zulässige Klageänderung im Sinne des § 99 SGG handelt, war die Klage insoweit unzulässig (so die
Rechtsprechung des Senats, Urteil vom 14. Oktober 2002, L 5 SB 153/00). Von der Zulässigkeit einer Klageänderung
ist die Zulässigkeit der geänderten Klage zu unterscheiden (Hennig–Pawlak, SGG § 99 Rdnr. 37 m.N.). Auch wenn die
Klageänderung zulässig wäre, insbesondere weil die Beteiligten eingewilligt haben, muss die geänderte Klage selbst
zulässig sein. Wird ein neues Klagebegehren in den Rechtsstreit eingeführt, muss zunächst das
Verwaltungsverfahren durchgeführt worden sein. An dem vorgeschalteten Verwaltungsverfahren fehlt es hier.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens ”RF”.
Zu Unrecht hat das SG als Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers auf § 48 Abs. 1 SGB X abgestellt. § 48
SGBX ist nicht einschlägig, da in der Ablehnung des beantragten Nachteilsausgleichs ”RF” mit Bescheid vom
Dezember 1983 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom Januar 1984 kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liegt
(BSGE 58, 27). Damit waren in rechtlicher Hinsicht über den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Ablehnungsbescheides
hinaus keine Wirkungen verbunden. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs ”RF” sind
nicht erfüllt.
Der Anspruch auf Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht ist in Niedersachsen in der Verordnung über die
Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 3. September 1992 (Nds. Gesetz- und Verordnungsblatt 1992, Seite
239) geregelt. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 dieser Verordnung werden Schwerbehinderte mit einem GdB von mindestens 80,
die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können, von den Rundfunkgebühren
befreit. Das SG ist zutreffend in Anlehnung an die ständige Rechtsprechung des BSG davon ausgegangen, dass eine
enge Auslegung der Vorschrift geboten ist. Das BSG (Urteil vom 10. August 1993, Az: 9/9a RVs 7 / 91) hat in diesem
Zusammenhang ausgeführt, dass Telefon, Radio- und Fernsehgeräte heute nicht mehr als Geräte angesehen werden
können, die hauptsächlich dem Ausgleich bei Alter, Krankheit und Gebrechlichkeit dienen, wenn hierdurch der
Behinderte ständig an die Wohnung gebunden ist. Es werde daher zunehmend zweifelhaft, ob durch ”RF” tatsächlich
ein behinderungsbedingter Mehraufwand ausgeglichen wird, ob es sozial geboten erscheint, bestimmten finanziell
nicht bedürftigen Personengruppen die Benutzung solcher gewöhnlichen Geräte zu finanzieren. Diese Fragen
bedürften keiner abschließenden Klärung, verdeutlichten aber, dass eine enge Auslegung des Merkzeichens ”RF”
geboten sei, die praktisch eine Bindung an das Haus erfordert. Eine Unmöglichkeit der Teilnahme an öffentlichen
Veranstaltungen ist deshalb erst gegeben, wenn der Behinderte wegen seines Leidens ständig, d. h. allgemein und
umfassend vom Besuch ausgeschlossen ist (vgl. auch BSG, Urteil vom 12. Februar 1997, Az: 9 RVs 2/96). Davon
kann im Fall des Klägers nicht ausgegangen werden.
Selbst wenn für den Kläger der Besuch von Konzerten, Theater und Vorträgen nicht mehr in Betracht käme, weil er
durch die Einnahme seiner Mahlzeit oder die Blutzuckermessung störende akustische Nebengeräusche verursachen
sollte, fehlt es an einem umfassenden Ausschluss von der Öffentlichkeit, da ihm Veranstaltungen, die in einem
geräuschvolleren Rahmen stattfinden (Messen, Märkte, Museen, Sportveranstaltungen, Open- Air- Darbietungen ...)
noch offenstünden.
Aber auch die Teilnahme an öffentlichen Konzert -, Theater-, und Vortragsveranstaltungen ist dem Kläger durch die
Einhaltung des im Berufungsverfahren vorgelegten Zeit- und Diätplans nicht unmöglich. Selbst wenn der Senat
unterstellt, dass der Kläger diesen strengen Zeit- und Diätplan – entgegen den Ausführungen des Medizinischen
Dienstes - nicht flexibel handhaben kann, sondern strikt einhalten muss, ist die Teilnahme an solchen
Veranstaltungen nicht ausgeschlossen. Soweit aus dem Diät- und Zeitplan zu ersehen ist, sind Insulingaben nur
zweimal täglich erforderlich, nämlich um 7.15 Uhr und um 18.30 Uhr. Insofern schränkt die morgendliche Insulingabe
den Kläger in Bezug auf seine Teilnahme am kulturellen Leben überhaupt nicht ein, da in aller Regel keine
Veranstaltungen zu dieser frühen Stunde angesetzt werden. Die abends erforderliche Insulingabe wirkt sich nur sehr
eingeschränkt aus, da Abendveranstaltungen regelmäßig nicht vor 19.30 Uhr, zumeist sogar erst um 20.00 Uhr
beginnen. Dass der Kläger während einer Veranstaltung möglicherweise eine Mahlzeit einnehmen oder seinen
Blutzuckerspiegel bestimmen muss, schließt ihn nicht von der Teilnahme aus. Denn dem Behinderten kann im
Interesse seiner Eingliederung eine aktive Mitwirkung abverlangt werden, soweit dies unter Berücksichtigung aller
Umstände des Einzelfalles zumutbar erscheint. Danach kann vom Kläger erwartet werden, dass er einen
entsprechenden Imbiss mitführt und zu gegebener Zeit verzehrt. Gleiches gilt für die Bestimmung des Blutzuckers.
Es gibt inzwischen kleine Geräte, die unterwegs ohne großen Aufwand eingesetzt werden können. Soweit der Kläger
darauf abhebt, dass die übrigen Veranstaltungsteilnehmer durch diese Maßnahmen gestört werden, ist darauf zu
verweisen, dass von den Nichtbehinderten nach ständiger Rechtsprechung des BSG (z.B. Urteil vom 10. August 1993
- 9/9a RVs 7/91; Urteil vom 12. Februar 1997 - 9 RVs 2/96) ein hohes Maß an Toleranz gefordert werden muss. Um
die Lage von behinderten Menschen zu erleichtern, müssen Nichtbehinderte ihre Wahrnehmung korrigieren. Im Sinne
des Schwerbehindertenrechts, das der Eingliederung behinderter Menschen in Arbeit, Beruf und Gesellschaft dient, ist
ihre Ausgrenzung und ein Schutz der Öffentlichkeit vor ihnen nur in äußersten Randsituationen erlaubt. Dies kann
allenfalls bei starker motorischer Unruhe oder ekelerregender oder ansteckender Krankheit in Betracht kommen.
Solche Umstände sind vorliegend nicht erkennbar und wären auch dann nicht gegeben, wenn der Kläger sich eine
Insulingabe setzen müsste. Der Zweck des Nachteilsausgleichs ”RF” würde nämlich in sein Gegenteil verkehrt, wenn
er schon zuerkannt würde, um besonderen Empfindlichkeiten der Öffentlichkeit Rechnung zu tragen.
Schließlich ergibt sich auch aus der latenten Gefahr eines eintretenden hypoglykämischen Schocks kein
Ausschlussgrund, da auch dies keine Ausgrenzung des Klägers erlaubt. Für den allein lebenden Kläger bedeutet das
mögliche Auftreten eines Unterzuckerungsschocks während einer öffentlichen Veranstaltung ohnehin kein höheres,
sondern geringeres Risiko, da ihm schneller Hilfe zuteil würde.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG. Das BSG hat wiederholt
ausgeführt, dass die Bewertung , wann Auswirkungen einer Behinderung zum umfassenden
Veranstaltungsausschluss führen, im Wesentlichen tatrichterlicher Würdigung vorbehalten bleibt (z.B. BSG, Urteil
vom 10. August 1993, Az: 9/9a RVs 7 /91).