Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 04.06.2002
LSG Nsb: vergleich, befund, skoliose, niedersachsen, wahrscheinlichkeit, prothese, gutachter, unterliegen, unmöglichkeit, gleichbehandlung
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 04.06.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 18 V 69/97
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 5 V 47/00
Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Klage gegen den Bescheid vom 15. Oktober 2001 wird abgewiesen. Kosten
sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Rechtsstreit betrifft Umfang und Bewertung von Schädigungsfolgen nach den Maßstäben des
Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Der am 12. November 1926 geborene Kläger erlitt als Soldat am 20. Juni 1944
eine Verletzung am rechten Bein. Seit dem Bescheid vom 28. März 1947 ist ein Körperschaden mit seinen Folgen
anerkannt. Zuletzt stellte das Versorgungsamt (VA) H. mit Bescheid vom 30. Juni 1987 ab 1. Februar 1987 eine
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 wegen folgender Beschädigungen fest:
Verlust des rechten Beines im Unterschenkel mit ungünstigem Stumpf und Bewegungseinschränkung im rechten
Kniegelenk. Bewegungseinschränkung im linken Kniegelenk (Verriegelungsarthrose).
Grundlage des Bescheides war ein Untersuchungsgutachten des Dr. I. vom 22. Mai 1987. Untersuchungsgutachten
des Chirurgen Dr. J. vom 15. Mai 1993 und des Orthopäden Dr. K. vom 26. Januar 1994 führten nicht zu einer
veränderten Bewertung.
Auf den im September 1996 gestellten Antrag wegen Verschlimmerung, dem der Kläger Abschlussberichte des L.
vom 30. August 1996 sowie der Kurklinik M. von 1994 beifügte, holte das VA ein Untersuchungsgutachten des
Orthopäden N. vom 7. Februar 1997 ein. Dem Gutachten folgend lehnte es eine Neufeststellung ab und verneinte eine
Verschlimmerung der Schädigungsfolgen, weil die Voraussetzungen des § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch -
Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) nicht erfüllt seien (Bescheid vom 26. Mai
1997/Widerspruchsbescheid vom 18. September 1997). Auf der Grundlage des Gutachtens stellte das VA jedoch
einen Grad der Behinderung (GdB) von 90 nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) sowie die Voraussetzungen
der Nachteilsausgleiche "G” und "aG” fest wegen folgender Beeinträchtigungen: a) siehe Bescheid vom
Versorgungsamt H. vom 21. Juli 1987; b) umformende Veränderungen der Wirbelsäule mit
Bewegungseinschränkungen; c) umbauende Veränderungen im Bereich beider Hüftgelenke (Bescheid vom 18. Juni
1997).
Gegen den am 19. September 1997 abgesandten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 30. September 1997 Klage
erhoben. Er hat gerügt, dass eine Hypotonie unberücksichtigt geblieben und dass eine MdE um wenigstens 90
festzustellen sei.
Das Sozialgericht (SG) Hannover hat durch Urteil vom 8. Juni 2000 die Klage abgewiesen. In den
Entscheidungsgründen, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es ausgeführt, der Vergleich der von dem
Orthopäden N. erhobenen Befunde mit jenen aus dem Untersuchungsgutachten des Dr. K. vom 26. Januar 1994 habe
eine Änderung der als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen nicht ergeben. Vielmehr ließen
schädigungsunabhängig sich entwickelnde Gesundheitsstörungen den Kläger zu der Auffassung gelangen, es sei eine
Verschlimmerung eingetreten. Jedoch seien nicht alle bei dem Kläger bestehenden Leiden letztlich
Kriegsfolgeschäden. Eine Coxarthrose oder eine Varusgonarthrose seien als weitere Schädigungsfolgen nicht
anzuerkennen. Überdies könne die Bewertung nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) von der nach dem BVG
abweichen, weil erstere ohne Rücksicht auf die Ursache vorzunehmen sei.
Gegen das am 11. August 2000 abgesandte Urteil wendet sich der Kläger mit der am 13. September 2000
eingegangenen Berufung, mit der er die Auffassung vertritt, sämtliche Leiden seien auf seine Kriegsverletzung
zurückzuführen.
Während des erstinstanzlichen Verfahrens beantragte der Kläger am 5. Juni 2000 – neben einer Heilbehandlung - die
Feststellung einer wesentlichen Änderung der Schädigungsfolgen. Auf der Grundlage eines Befundberichtes des
Internisten Dr. O. vom 27. Juli 2001 sowie eines Untersuchungsgutachtens des Dr. P. vom 19. September 2001
lehnte das VA H. den Antrag ab (Bescheid vom 15. Oktober 2001).
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 8. Juni 2000 sowie den Bescheid vom 26. Mai 1997 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 18. September 1997 und den Bescheid vom 15. Oktober 2001 aufzuheben,
2. "umformende Veränderungen der Wirbelsäule mit Bewegungseinschränkung, umbauende Veränderungen im
Bereich beider Hüftgelenke sowie Hypotonie” als Schädigungsfolgen festzustellen,
3. den Beklagten zu verurteilen, Beschädigtenrente nach einer MdE um 90 v.H. zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 15. Oktober 2001 abzuweisen.
Der Beklagte hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Der Senat hat einen Entlassungsbericht der Versorgungskuranstalt Q. vom 6. März 2002 eingeholt. Neben den
Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Beschädigtenakten (Nr. 004793) des VA H.
sowie die Schwerbehinderten-Akten des VA H. (Aktenzeichen 045891) vorgelegen und sind Gegenstand der
Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung sowie die gemäß § 96 SGG zweitinstanzlich in das
Verfahren einzubeziehende Klage gegen den Bescheid vom 15. Oktober 2001 sind nicht begründet.
Prüfungsmaßstab ist § 48 Abs. 1 SGB X. Danach ist ein mit Dauerwirkung ausgestatteter Verwaltungsakt
aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine
wesentliche Änderung eintritt. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse besteht dann, wenn bei ihrem Vorliegen der
abzuändernde Bescheid nicht hätte erlassen werden dürfen. Im vorliegenden Fall kommt es darauf an, ob
umformende Veränderungen der Wirbelsäule mit Bewegungseinschränkung sowie umbauende Veränderungen im
Bereich beider Hüftgelenke und Hypotonie weitere Schädigungsfolgen sind und ob die bisher anerkannten
Schädigungsfolgen sich verschlimmert haben. Beides ist nicht der Fall:
Zur Anerkennung einer bisher nicht berücksichtigten Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die
Wahrscheinlichkeit, § 1 Abs. 3 BVG, dass die Schädigung oder deren Folgen die Gesundheitsstörung herbeigeführt,
zumindest aber bei ihrer Entstehung oder Verschlimmerung wesentlich mitgewirkt haben. Eine solche
Wahrscheinlichkeit besteht, wenn nach den medizinischen Erkenntnissen mehr für als gegen einen Zusammenhang
der Beeinträchtigung mit der Verletzung spricht. Dies trifft für die vom Kläger geltend gemachten Einschränkungen
nicht zu. Der Orthopäde Dr. K. hat bereits in seinem Gutachten vom 16. November 1982 festgestellt, dass
unabhängig von den Schädigungsfolgen die Überstreckung und Innenrotation der Hüftgelenke beidseits endgradig
eingeschränkt war, und dass die Wirbelsäule das klinische Bild wie 1970 zeigte. Bei der seinem Gutachten zu Grunde
liegenden Untersuchung vom 26. Januar 1994 hat Dr. K. erneut einen Zusammenhang des Zustands der Hüfte sowie
in Übereinstimmung mit dem Gutachten des Dr. I. vom 22. Mai 1987 der Wirbelsäule mit dem Versorgungsleiden
verneint. Ebenso hat der Orthopäde N. in dem Gutachten vom 7. Februar 1997 eine in der linken Hüfte festgestellte
Arthrose als anlagebedingt ohne Zusammenhang mit der Schädigungsfolge bezeichnet und eine nur mäßig
verminderte Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule befundet. Auch Dr. P. hat im Untersuchungsgutachten vom 19.
September 2001 eine funktionelle rechtskonvexe LWS-Skoliose ohne erkennbare Fixation, eine mäßige
Funktionsstörung der Brustwirbelsäule und der Lendenwirbelsäule festgestellt und Veränderungen im linken Hüftgelenk
auf allgemeine degenerative Veränderungen zurückgeführt. Aus diesen Befunden ergibt sich nachvollziehbar die
Schlussfolgerung, dass weitere Folgeschäden gegenüber dem Bescheid vom 30. Juni 1987 im orthopädischen
Bereich nicht entstanden sind. Die Verneinung einer weiteren Schädigungsfolge durch die Gutachter hält sich im
Rahmen der Maßstäbe der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und
nach dem Schwerbehindertengesetz” (AHP). Diese sollen u.a. die gleiche Beurteilung gleichartiger Behinderungen
erleichtern und für die ärztliche, aber auch die rechtliche Beurteilung weitgehend verbindlich sein. Sie unterliegen nur
einer eingeschränkten Kontrolle durch die Gerichte und können nicht durch Einzelfallgutachten hinsichtlich ihrer
generellen Richtigkeit widerlegt werden. Es gelten die Prüfmaßstäbe wie bei der Prüfung untergesetzlicher Normen,
d.h., die Rechtskontrolle beschränkt sich auf die Vereinbarkeit der AHP mit höherrangigem Recht und Fragen der
Gleichbehandlung (BSGE 72, 285; E 75, 176; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit Bundesverfassungsgericht
SozR 3-3870 § 3 Nr. 6). Sie sind antizipierte Sachverständigengutachten, d.h. letzten Endes die Summe von
Erfahrungssätzen, die normähnliche Qualität und Auswirkung haben und ähnlich wie Richtlinien wirken.
Nach Verlust einer unteren Extremität kann - statisch bedingt und fast immer mit einem Beckenschiefstand
verbunden - eine kompensatorische seitliche Verbiegung der Wirbelsäule auftreten, die dann meist großbogig verläuft.
Von entscheidender Bedeutung können hierbei vor allem die langdauernde Benutzung einer nicht längengerechten
Prothese, die Unmöglichkeit des Tragens einer Prothese, erhebliche Bewegungseinschränkungen der verbliebenen
Gelenke oder erschwerter Prothesengang infolge ungünstiger Stumpfverhältnisse sein (AHP S. 300). Bei der
Beurteilung von degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule bei Amputierten ist zu berücksichtigen, dass solche
Veränderungen als Verschleißerscheinungen auch bei nicht Amputierten häufig festzustellen sind. Einem
Gliedmaßenverlust kann nur dann eine wesentliche Bedeutung für degenerative Wirbelsäulenveränderungen
beigemessen werden, wenn infolge des Gliedmaßenverlustes eine nicht ausgleichbare Biegung der Wirbelsäule
vorliegt und soweit sich die degenerativen Veränderungen allein oder bevorzugt in diesem Bereich (konkavseitig)
befinden (AHP S. 301).
Diese Voraussetzungen liegen nach den oben genannten Befunden nicht vor. Bei dem Kläger besteht vielmehr nach
den Feststellungen des Dr. P. im Gutachten vom 19. September 2001 lediglich eine leichte Beckenkippung nach
rechts sowie eine funktionelle rechtskonvexe LWS-Skoliose, indes ist eine Fixation insoweit nicht erkennbar. Auch
der Orthopäde N. hat im Gutachten vom 7. Februar 1997 einen im Stehen annähernden Beckengradstand festgestellt.
Danach scheidet ein ursächlicher Zusammenhang der Beeinträchtigung der Wirbelsäule mit der Kriegsverletzung des
Klägers aus. Gleiches gilt für die Veränderungen in den Hüftgelenken, die der Orthopäde N. im Gutachten vom 7.
Februar 1997 übereinstimmend mit der Feststellung des Orthopäden Dr. K. im Gutachten vom 26. Januar 1994 als
anlagebedingt erkannt hat.
Eine Hypotonie als Schädigungsfolge kommt nach den Maßstäben der AHP nicht in Betracht.
Blutdruckerniedrigungen sind im Zusammenhang mit anderen gleichsinnigen Regulationsstörungen nur dann als
Schädigungsfolge anzusehen, wenn sie nach schweren schädigungsbedingten Erkrankungen und Verletzungen
entsprechender Hirnzentren auftreten (AHP S. 269). Solche sind bei dem Kläger nicht festgestellt.
Auch eine Verschlimmerung der bisher anerkannten Schädigungsfolgen ergibt sich nicht. Der Orthopäde N. hat im
Gutachten vom 7. Februar 1997 in den Kniegelenken klinisch nahezu übereinstimmende Befunde im Vergleich zu den
Befunden erhoben, die Dr. K. im Gutachten vom 26. Januar 1994 angegeben hatte, der deshalb seinerseits eine
Verschlimmerung der Befunde im Vergleich zu den von Dr. I. 1987 erhobenen verneint hatte. Auch radiologisch ergab
sich gegenüber den eine Verschlechterung ausschließenden gutachtlichen Feststellungen des Chirurgen Dr. J. vom
15. Mai 1993 keine Veränderung. Angesichts der von Dr. P. im Untersuchungsgutachten vom 19. September 2001
verneinten messbaren Funktionseinschränkung des rechten Kniegelenks scheidet insoweit eine Verschlimmerung
aus. Dies gilt auch für den Schaden am linken Kniegelenk. Dort hat sich zwar der Befund gegenüber den
Feststellungen durch den Orthopäden N. verschlimmert. Dieser hatte noch bezüglich der Kniegelenke einen nahezu
übereinstimmenden Befund gegenüber 1994 festgestellt. Demgegenüber ergab sich eine erhebliche Einschränkung der
Funktionsfähigkeit des linken Kniegelenkes anlässlich der Untersuchung vom 19. September 2001. Insoweit hat für
den Beklagten in der versorgungsärztlichen Stellungnahme Frau Dr. R. indes überzeugend darauf hingewiesen, dass
sich die als Schädigungsfolge anerkannte Verriegelungsarthrose des linken Kniegelenks, die nur das
Retropatellargelenk betrifft, nicht wesentlich geändert hat. Die darüber hinaus feststellbare Zunahme der
Beeinträchtigung des linken Kniegelenks ist mithin schädigungsunabhängig und führt nicht zu einer Erhöhung der
MdE.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.