Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 07.06.2001
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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 07.06.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 4 U 11/99
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 6 U 379/00
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 18. Juli 2000 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf Hinterbliebenen-rente hat. Sie ist die Witwe des am 30.
Oktober 1950 geborenen und am 29. Januar 1998 gestorbenen Montagetischlers H. (G.).
G. erlitt am 26. Januar 1998 einen Arbeitsunfall: Eine Schlauchkupplung schlug gegen seine Brille, und es gerieten
Glassplitter in das linke Auge. Der sogleich aufgesuchte Augenarzt Dr. I. entfernte multiple Haut- und
Bindehautfremdkör-per sowie eingespießte Hornhautfremdkörper und diagnostizierte eine Horn-schnittwunde des
linken Auges. Als unabhängige Veränderungen bezeichnete er ein chronisches Glaukom, d.h. eine krankhafte
Steigerung des Augen-innendrucks (Augenarztbericht vom 20. Januar 1998). Er beabsichtigte eine Behandlung des
erhöhten Augeninnendrucks. Auf seine Anfrage teilte ihm der Hausarzt des Klägers, der Facharzt für
Allgemeinmedizin Dr. J. - bei diesem befand sich der Kläger seit ca. 10 Jahren u.a. wegen einer chronischen Bron-
chitis in Behandlung - mit, gegen eine lokale Therapie mit Betablockern oder Clonidin bestünden keine Bedenken
(handschriftlicher Vermerk auf der Arbeits-unfähigkeitsbescheinigung vom 26. Januar 1998, VA Bl. 92). Danach
händigte Dr. I. dem G. Augentropfen mit der Medikamentenbezeichnung "Timomann" aus. Dabei handelt es sich um
einen sog. Rezeptorenblocker. Die Klägerin gab an, sie habe ihrem Mann am 28. Januar 1998 um 21.45 Uhr in jedes
Auge ei-nen Tropfen des vorgenannten Medikaments verabreicht, desgleichen am Mor-gen des 29. Januar 1998. Am
Abend des 29. Januar 1998 habe sich ihr Mann gegen 22.30 Uhr die Augentropfen selbst verabreicht und kurz danach
über erhebliche Atemnot geklagt, die sich zu einem Erstickungsanfall ausgeweitet habe. Kurze Zeit darauf war er in
sich zusammengesunken und habe kein Le-benszeichen mehr von sich gegeben. Der Tod des G. wurde um 23.00 Uhr
festgestellt.
Die Beklagte holte zur Aufklärung des Sachverhalts eine Auskunft der AOK K. vom 26. Februar 1998 über die
Arbeitsunfähigkeitszeiten des G. sowie einen Befundbericht des Dr. J. vom 4. März 1998 ein und zog die Akten der
Staats-anwaltschaft L. (Az. M. - Ermittlungsverfahren gegen Dr. I. - ) bei. Die Akten der Staatsanwaltschaft enthalten
u.a. das Obduktionsprotokoll des Dr. N. vom 6. Februar 1998 sowie das pharmakologisch-toxikologische Gutachten
des Prof. Dr. O. vom 18. Mai 1998. Darin heißt es zusammenfassend, es sei mit an Si-cherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Tod des G. durch die Verordnung der Timomann-Augentropfen bedingt
worden sei. Nach heute gängiger Lehrmeinung stelle die Vorerkrankung des G. (obstruktive A-temwegserkrankung)
eine absolute Kontraindikation für die Behandlung mit Ti-momann-Augentropfen dar. Diese Bewertung erfolge aufgrund
der gut doku-mentierten Eigenschaften der Inhaltsstoffe dieses Medikaments.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 27. August 1998 Hinterbliebenenleistun-gen mit der Begründung ab, dass ein
ursächlicher Zusammenhang zwischen der Unfallverletzung und dem Tod des G. nicht bestehe. Die Augentropfen, die
den Tod mitverursacht hätten, seien aufgrund einer anlagebedingten Vorer-krankung (Grüner Star) verordnet worden.
Der dagegen gerichtete Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 1998).
Dagegen hat die Klägerin am 7. Januar 1999 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben. Sie macht geltend,
ohne den Unfall hätte Dr. I. ihrem Mann nicht die Augentropfen ausgehändigt, und es wäre nicht zu dessen Tod ge-
kommen.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 18. Juli 2000 abgewiesen: Der Tod des G. sei nicht nach der in der gesetzlichen
Unfallversicherung geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung durch den Arbeitsunfall vom 26. Januar 1998 verur-
sacht worden. Die unfallfremde Gesundheitsstörung und der eigenständige Entschluss des Arztes, diese Erkrankung
mitzubehandeln, seien für den nach-folgenden Schaden von so überragender Bedeutung, dass der unfallbedingte
Behandlungsanlass nicht mehr als wesentlich mitursächlich angesehen werden könne. Wegen der Einzelheiten der
Begründung wird auf die Entscheidungs-gründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Gegen dieses ihr am 8. August 2000 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 6. September 2000 Berufung eingelegt. Zur
Begründung macht sie im Wesent-lichen geltend, bei einer normalen Kontrolluntersuchung der Augen wäre eine
ausreichende Anamnese erhoben und die Kontraindikation des Medikaments Timomann festgestellt worden.
Außerdem ergebe sich aus der schriftlichen Aussage des Dr. J. in den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft, dass
die-ser Arzt sehr wohl einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und einer not-wendigen Senkung des
Augeninnendrucks gesehen habe. Er habe nämlich wegen der Gefahr der Perforation des Auges abgewogen, ob eine
augen-innendrucksenkende Therapie mit Betablockern oder Clonidin wegen der Lun-generkrankung eine absolute
Kontraindikation dargestellt habe. Zur Vermei-dung der Perforation des Auges mit Verlust des Augenlichts sei die
Risiko-abwägung zugunsten der sofortigen Augeninnendruckabsenkung ausgefallen. Ob diese Beurteilung durch Dr. J.
richtig oder falsch gewesen sei, könne dahin-gestellt bleiben. Denn der Zusammenhang zwischen dem
Unfallgeschehen und der Freigabe des Medikaments durch Dr. J. sei eindeutig gegeben. Die Kläge-rin hat im
Zusammenhang mit ihrer Berufungsbegründung Kopien aus den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft vorgelegt,
und zwar das pulmologisch-internistische Gutachten des Prof. Dr. P. vom 2. März 2000 sowie die schriftli-che
Stellungnahme des Dr. J. vom 5. August 1998.
Die Klägerin beantragt,
1. das Urteil des SG Hannover vom 18. Juli 2000 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. August 1998 in der
Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 14. Dezember 1998 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, ihr Hinterbliebenenrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Hannover vom 18. Juli 2000 zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Dem Senat haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklag-ten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der
mündlichen Verhandlung und der Be-ratung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie ist jedoch nicht
begründet. Das SG hat zutreffend entschie-den, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen aus
der gesetzlichen Unfallversicherung hat, weil der Tod des G. nicht infolge eines Versicherungsfalles (§ 7 SGB VII) -
hier: des Arbeitsunfalls vom 26. Januar 1998 - eingetreten ist (§ 63 Abs. 1 S. 2 SGB VII).
Die unfallbedingte Augenverletzung hat zwar den Tod des G. im naturwissen-schaftlich-philosophischen Sinne
mitverursacht. Denn ohne die Behandlung der unfallbedingten Hornhautverletzung des linken Auges hätte Dr. I. nicht
die Ti-momann-Augentropfen verordnet, deren Anwendung wegen der Vorerkrankung des G. (obstruktive
Atemwegserkrankung) zu dessen Tod führte. Dies steht aufgrund des Ergebnisses der Ermittlungen der Beklagten im
Verwaltungsver-fahren, insbesondere aufgrund des pharmakologisch-toxikologischen Gutach-tens des Prof. Dr. O.
fest. Diese Folge des Arbeitsunfalls stellte aber für den Tod des G. keine wesentliche Ursache und damit keine
Ursache im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung dar.
Der Tod eines Versicherten ist dann eine mittelbare Folge eines Versiche-rungsfalles und damit wesentlich durch den
Unfall verursacht, wenn er infolge der Durchführung einer Heilbehandlung eintritt (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII). Ent-
scheidend ist hiernach, dass die Heilbehandlung wegen einer Unfallfolge er-folgte (BSG, SozR 2200 § 548 Nr. 59),
während es unerheblich ist, ob der wei-tere Schaden auf einer ärztlichen Fehlbehandlung beruht oder ob er durch
sachgemäße Behandlung eingetreten ist (BSGE 46, 283, 284). Maßgebend ist hiernach allein, ob der Arbeitsunfall als
wesentliche Bedingung der ärztlichen Behandlung und des hierbei eingetretenen weiteren Schadens angesehen wer-
den kann. Diese Voraussetzung liegt hinsichtlich der Verordnung der Timo-mann-Augentropfen durch Dr. I. nicht vor.
Deren Verordnung erfolgte weder objektiv noch aus der Sicht des behandeln-den Augenarztes Dr. I. wegen der
unfallbedingten Hornhautschnittwunde des linken Auges, sondern wegen der Erhöhung des Augeninnendrucks beider
Augen, den Dr. I. anlässlich der Behandlung der Unfallfolgen feststellte. Die von der Klägerin zitierte Annahme des Dr.
J. (vgl. dessen Stellungnahme vom 5. August 1998, Gerichtsakten Bl. 81), er sei von einer drohenden Perforation des
Auges ausgegangen, und die daraus gezogene Schlussfolgerung, er habe eine Risikoabwägung zugunsten der
Senkung des Augeninnendrucks vorge-nommen, führt zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung. Das gilt unabhängig
von den Zweifeln an der Glaubwürdigkeit dieser Annahme, die sich schon dar-aus ergeben, dass Dr.J. in seinem
Befundbericht vom 4. März 1998 (Verwal-tungsakten Bl. 40) einen Zusammenhang zwischen dem Tod des G. und
dem Arbeitsunfall verneinte und lediglich darauf hinwies, dass nach seinen "späte-ren Erkundigungen eine den
Augeninnendruck senkende Therapie mit Betablo-ckern begonnen und ohne weitere Probleme bis zum 29.1.98
durchgeführt" worden sei. Denn die als Ursache zu bewertende kontraindizierte augenärztli-che Verordnung der
Timomann-Augentropfen erfolgte nicht wegen der Un-fallfolgen. Die Beklagte weist in diesem Zusammenhang
zutreffend darauf hin, Dr. I. habe klargestellt, dass keine Perforationsgefahr aufgrund der Splitterver-letzung
bestanden habe. Dies stimmt mit dessen Eintragung in der Karteikarte (Verwaltungsakten Bl. 91) überein, in der der
Verdacht auf Perforation verneint wird.
Entscheidend ist somit, dass der für die augenärztliche Behandlung verantwort-liche Dr. I. dem G. die Augentropfen
verabreichte. Selbst wenn man entgegen der Auffassung des Senats Dr. J. als "mitbehandelnden" Arzt ansieht,
vermag die von diesem Arzt behauptete Befürchtung einer unfallbedingten Perforation - ungeachtet ihrer
Glaubwürdigkeit - keinen wesentlichen Zusammenhang mit dem Unfall zu begründen, da objektive Anhaltspunkte für
diese Befürchtung fehlten (vgl. dazu Benz, Die Berufsgenossenschaft - BG - 1989 S. 614, 621) und diese im Übrigen
durch Rückfrage bei Dr. I. ohne weiteres hätte zerstreut werden können.
Ebenso wenig ist aus der Erwägung der Klägerin, bei einer normalen Kontroll-untersuchung wäre die Kontraindikation
der Verordnung von Timomann-Augentropfen zutage getreten, ein Zusammenhang der Behandlung mit dem Unfall
herzuleiten. Denn die Tatsache, dass die Versorgung der Unfallverlet-zung dringlich war, stand einer anschließenden
ausreichenden Anamneseerhe-bung wegen der Glaukombehandlung nicht entgegen. Das wird schon daraus deutlich,
dass Dr. I. am Unfalltag noch keine Therapie wegen des Glaukoms einleitete, sondern sich zunächst bei Dr. J.
erkundigte, ob die Verabreichung der Augentropfen nach dessen Auffassung unbedenklich sei.
Allerdings nimmt das BSG auch dann eine mittelbare Folge eines Arbeitsunfalls an, wenn vom Versicherungsfall
unabhängige Beschwerden die Ursache der Heilbehandlung sind, soweit der Versicherte der Auffassung sein darf,
dass die Behandlung die Heilung des Versicherungsfalls bezweckt (BSGE 52, 57, 60; ablehnend mit beachtlicher
Argumentation Kassler Kommentar - Ricke, § 11 SGB VII, Rz 8). Eine Auseinandersetzung mit dieser
Rechtsprechung ist nicht erforderlich. Denn im vorliegenden Fall konnte G. nicht davon ausgehen, dass die
Feststellung eines erhöhten Augeninnendrucks und die Verordnung von Augentropfen etwas mit seiner unfallbedingten
Hornhautverletzung zu tun hatte. Vielmehr zeigt der dokumentierte Heilungsverlauf, dass Dr. I. ihn auf grünen Star
(erhöhten Augeninnendruck) und damit auf eine unfallunabhängige Er-krankung hingewiesen hatte (vgl. die schriftliche
Äußerung dieses Arztes ge-genüber der Staatsanwaltschaft L. vom 13. Juli 1998 - Akten der Staatsanwalt-schaft Bl.
113 - ).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).