Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 07.01.2003
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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 07.01.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 4 RA 179/01
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 1 RA 220/02
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Die im Jahre 1950 geborene Klägerin hat nach dem Besuch der Hauptschule den Beruf der Damen-Schneiderin erlernt
(1966-69) und - unterbrochen durch eine kin-dererziehungsbedingte Pause Mitte der 70-er Jahre – mehr als 20 Jahre
lang aus-geübt, zuletzt u.a. als Absteckerin. Im Jahre 1993 kündigte sie das Beschäftigungs-verhältnis und arbeitete
stattdessen als Verkäuferin in einem Modegeschäft, wo sie u.a. eine Computerkasse zu bedienen hatte. Nach
mehreren Arbeitsunfähigkeitszei-ten wurde ihr arbeitgeberseitig gekündigt (Juli 1998) und sie bezog Kranken- und
Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe wurde nicht gezahlt.
In gesundheitlicher Hinsicht leidet die Klägerin seit ca. 20 Jahren an einer Angststö-rung, depressiven Symptomatik
und an Erschöpfungszuständen, wegen denen sie sich u.a. 1986 und 1998/1999 in stationäre Behandlung begab und
in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung stand bzw. steht. Daneben bestehen Beschwer-den im Nacken und
in der Wirbelsäule, ein medikamentös eingestellter Bluthoch-druck sowie ein angegebener Ganzkörperschmerz.
Im November 2000 stellte die Klägerin den zu diesem Verfahren führenden Antrag auf Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU), und begründete ihn mit bestehenden
Depressionen. Die Beklagte zog den Reha-Entlassungsbericht vom 7. Mai 1999 und die Klägerin betreffende
medizinische Un-terlagen der zuständigen Krankenkasse bei, holte Befundberichte des Facharztes für
Allgemeinmedizin Dr. D. (vom 31. März 2001) sowie der Praktischen Ärztin Esche (vom 2. Mai 2001) ein und ließ die
Klägerin untersuchen und begutachten von dem Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. E ... Nach dem
Befundbericht der behan-delnden Ärztin F. leide die Klägerin u.a. an einer Kontaktstörung, einer Angststörung, einem
Überforderungssyndrom, einer instabilen psycho-sozialen Disposition und an rezidivierenden depressiven Episoden.
Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) kommt in seinem Gutachten vom 30. November 1998 zu der
Feststellung, dass weder Arbeitsunfähigkeit bestehe noch die Erwerbsfähigkeit gefährdet oder gemindert sei. Der
behandelnde Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. G. teilte in seinem Arztbrief vom 27. November 1998 mit,
dass die Klägerin unter einer nied-rigen antidepressiven Medikation symptomfrei sei. Aus der Reha im Frühjahr 1999
wurde sie nach dem Reha-Entlassungsbericht arbeitsfähig und vollschichtig leis-tungsfähig entlassen. Und nach dem
Sachverständigen Dr. E. (Gutachten vom 11. Januar 2001) bestünden zwar psychische Beeinträchtigungen, diese
seien aber the-rapeutisch zugänglich, weshalb die Klägerin in absehbarer Zeit wieder sowohl als Schneiderin als auch
als Verkäuferin wie auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig berufstätig sein könne. Die Beklagte lehnte
den Anspruch der Klägerin mit Bescheid vom 15. Februar 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.
Juli 2001 ab.
Gegen den laut Aktenvermerk der Beklagten am 25. Juli 2001 als Einschreibebrief zur Post gegebenen
Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 28. August 2001 vor dem Sozialgericht (SG) Stade Klage erhoben und zur
Begründung ergänzend vor-getragen, dass sie aufgrund der Angststörung nicht Auto fahren, nicht allein einkau-fen
und nicht allein unter Menschen gehen könne. Namentlich ihr Ehemann begleite sie stets. Damit sei sie
erwerbsunfähig. Zur Glaubhaftmachung hat sie eine Beschei-nigung der behandelnden Psychologischen
Psychotherapeutin Meuser-Muschard (ohne Datum) vorgelegt. Das SG hat einen Befundbericht von der Praktischen
Ärztin F. vom 4. Februar 2002 eingeholt und die Klägerin untersuchen und begutachten lassen von dem Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie Dr. H ... Der Sachver-ständige hat in seinem Gutachten vom 6. Juni 2002 im
einzelnen ausgeführt, dass nach dem Ergebnis der ihm möglichen Testungen, der Aktenlage und der Anam-
neseerhebung die Klägerin seit ca. 20 Jahren unter einer chronifizierten Depression im Sinne einer Dysthymia gepaart
mit einer Panikstörung leide. Aufgrund der nur leichtgradigen Ausprägung könne die Klägerin weiterhin vollschichtig
alle Arbeiten entsprechend ihrer Ausbildung und ihrem Lebensalter verrichten, auch diejenigen einer Schneiderin und
Modeverkäuferin. Daneben sei das Beschwerdebild therapeu-tisch besserungsfähig. Daraufhin hat das SG die Klage
mit Urteil vom 12. September 2002 abgewiesen und zur Begründung im einzelnen ausgeführt, dass die Klägerin den
Beruf der Schneiderin weiterhin vollschichtig ausüben könne, was sich aus den eingeholten Gutachten sowie aus den
anamnestischen Angaben der Klägerin über ihre Belastbarkeit im privaten Bereich ergebe. Ob die Klägerin daneben
auch die Tätigkeit einer Modeverkäuferin mit der dabei notwendigen Bedienung einer Com-puterkasse ausüben könne,
könne offen bleiben.
Gegen dieses ihr am 30. September 2002 zugestellte Urteil richtet sich die am 16. Oktober 2002 eingelegte Berufung,
mit der die Klägerin ergänzend vorträgt, dass sich ihre Erwerbsunfähigkeit nicht allein aus den psychischen
Beeinträchtigungen, sondern auch aus einem Ganzkörperschmerz-Syndrom ergebe.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,
1. das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 12. September 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 15. Februar
2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 2001 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähig-keit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, ab
dem 1. Dezember 2000 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtenen Bescheide als zutreffend und bezieht sich zur Be-gründung ergänzend auf das Urteil
des SG.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch den Berichter-statter mittels Urteil ohne
mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts-akte sowie auf die
Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung
gewesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte gem. §§ 155 Abse. 4, 3, 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Berichterstatter
mittels Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten zuvor hiermit einverstanden erklärt
haben.
Die gem. §§ 143f. SGG statthafte und zulässige Berufung ist unbegründet.
Weder das Urteil des SG noch die Bescheide der Beklagten sind zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch
auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, und zwar weder auf Rente wegen EU/BU nach dem bis zum 31.
Dezember 2000 geltenden (§§ 43, 44 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI - a.F.) noch auf Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem seit dem 1. Januar 2001 gel-tenden Recht (§§ 43, 240 SGB VI n.F.).
Das SG hat die maßgeblichen Rechtsgrundlagen herangezogen, richtig angewendet, sachdienliche Ermittlungen
angestellt, die erhobenen Beweise überzeugend gewür-digt und ist nach alledem zu dem richtigen Ergebnis
gekommen, dass der Klägerin keine Rente wegen EU/BU zusteht. Im Berufungsverfahren hat sich nichts Abwei-
chendes ergeben.
Die Beweiswürdigung des SG in seinem Urteil ist für den Senat überzeugend, da sie in widerspruchsfreiem
Zusammenhang mit der gesamten Aktenlage steht, auch mit den anamnestischen Angaben der Klägerin. Danach
verkennt der Senat zwar nicht, dass die Klägerin langjährig unter einer depressiven Symptomatik mit Angststörun-gen
leidet. Nach den übereinstimmenden Feststellungen durch Dr. Herbig, Dr. Traub sowie im Reha-Entlassungsbericht
sind die Beschwerden jedoch nur phasenweise erheblich, im Übrigen aber nur leichter Ausprägung und zudem weiter
besserungsfä-hig durch eine Kombinationstherapie mit Medikation, die von der Klägerin jedoch abgelehnt wird. So
weisen die beiden Sachverständigen übereinstimmend darauf hin, dass die Beschwerden sich lediglich episodenhaft
verstärkt darstellen, nament-lich nach psychischen Belastungen der Klägerin im familiären oder beruflichen Be-reich
(1985: Alkoholentwöhnung des Ehemannes; 1990: Tod des Vaters; 1991: Selbstmord der Tante; 1998: empfundene
Unfähigkeit zur Bedienung einer Compu-terkasse; Sorge um das berufliche Fußfassen des Sohnes). Diese
übereinstimmen-de Einschätzung der Sachverständigen stimmt mit der übrigen Aktenlage überein. Danach waren
therapeutische Versorgungen der Klägerin namentlich nach belas-tenden Familienereignissen nötig, so etwa im
Zusammenhang mit dem Konflikt um den seinerzeit noch alkoholkranken Ehemann. Auch hat die Klägerin selbst die
be-schriebenen Ereignisse als einschneidende Belastungen angegeben. Außerhalb die-ser als belastend empfundenen
Episoden stellte und stellt sich das Beschwerdebild der Klägerin jedoch als unauffällig dar. Für die psychiatrische
Beurteilung maßgebli-che erhebliche soziale Einschränkungen und Rückzugstendenzen sind nicht fest-stellbar, da die
Klägerin zahlreichen Hobbies und Freizeitaktivitäten nachgeht (Ma-len, Keramik, Radfahren, Ausgehen mit Ehemann,
Essengehen). Auch die Gestal-tung und Belastbarkeit in ihrer privaten Lebenssituation ist nicht wesentlich beein-
trächtigt. Die Klägerin versorgt die im gleichen Haus wohnende Mutter sowie das ca. 1000qm große Grundstück mit
Haus (ca. 265qm Wohnfläche). Daneben ist eine ei-gene Ferienwohnung in I. zu betreuen. Die Klägerin ist den Tag
über mit Haus- und Gartenarbeiten beschäftigt, die Einkäufe werden gemeinsam mit dem Ehemann ge-tätigt. Allein
die Versorgung der Mutter ist nach den anamnestischen Angaben der Klägerin auch der Grund dafür, warum ein
Urlaub an entfernten Urlaubsorten nicht möglich ist. Die Klägerin erfüllt daher eigene Pflichtenkreise mit
entsprechender Be-lastbarkeit. Bei alledem bedarf die Klägerin nur leichtgradiger therapeutischer Unter-stützung. So
hat der behandelnde Neurologe und Psychiater Dr. G. 1998 eine nied-rige antidepressive Medikation für ausreichend
gehalten, später hat die Klägerin selbst weitere einschlägige Medikationen abgelehnt, weil sie sich nicht den entspre-
chenden Nebenwirkungen aussetzen wolle.
Bei Würdigung dieser gesamten Umstände vermag sich der Senat ebenso wenig wie die Beklagte, die gehörten
Sachverständigen und das SG davon zu überzeugen, dass die Beschwerden der Klägerin auf psychiatrischem
Fachgebiet von erheblicher und erwerbsbeeinträchtigender Ausprägung seien.
Dies gilt auch für das von der Klägerin zuletzt angegebene Ganzkörperschmerzsyn-drom, das ausschließlich und
erstmals in dem Befundbericht der Praktischen Ärztin F. vom Februar 2002 erwähnt wurde und weder in allen anderen
vorhergehenden noch in den nachfolgenden medizinischen Feststellungen Bestätigung fand.
Schließlich darf aus rechtlichen Gründen nicht unberücksichtigt bleiben, dass sowohl behandelnde Ärzte (so etwa der
Arzt für Neurologie/Psychiatrie/Psychotherapie Dr. J. in seinem Arztbrief vom 12. September 1997) als auch die
gehörten Sachverstän-digen mehrfach darauf hingewiesen haben, dass die verbleibenden (und nicht er-
werbsmindernden) depressiven Symptome der Klägerin weiter besserungsfähig sei-en, sofern die Klägerin adäquat
therapeutisch versorgt würde, insbesondere mit an-tidepressiver Medikation (die die Klägerin jedoch - wie bereits
erwähnt - ablehnt). Die therapeutischen Möglichkeiten sind also nicht erschöpft. Beeinträchtigungen im psy-chischen
Befinden können jedoch nur dann zur Rentenberechtigung führen, wenn zuvor alle therapeutischen Möglichkeiten
ausgeschöpft wurden, mit deren Hilfe die Erwerbsunfähigkeit binnen eines halben Jahres überwunden werden kann
(BSGE 21, 189, 192, 193; LSG Niedersachsen, Urteil vom 25. Mai 2000, L 1 RA 154/99 und Urteil vom 25. November
1999, L 1 RA 208/98; Gesamtkommentar-Lilge, § 43 SGB VI, Anm. 10.2. m.w.N.).
War die Klägerin daher nicht erwerbs- oder berufsunfähig nach §§ 43,44 SGB VI a.F., so war sie erst recht nicht
erwerbsgemindert im Sinne von §§ 43, 240 SGB VI in der ab dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung, weil
insbesondere eine zeitliche Leistungsbegrenzung nicht feststellbar ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Es hat kein gesetzlicher Grund gem. § 160 Abs. 2 SGG vorgelegen, die Revision zuzulassen.