Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 28.05.2002

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 28.05.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 3 SB 47/00
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 10/9 SB 104/01
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 7. Juni 2001
aufgehoben und der Bescheid des Versorgungsamtes Verden vom 21. September 1999 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes Niedersachsen vom 11. Februar 2000 in der Fassung des
Ausführungsbescheides vom 2. Juli 2001 geändert. Der Beklagte wird verurteilt, bei der Klägerin die Voraussetzungen
des Nachteilsausgleiches der außergewöhnlichen Gehbehinderung (Merkzeichen "aG”) seit Februar 1999
festzustellen. Dem Beklagten werden die außergerichtlichen Kosten der Klägerin beider Instanzen auferlegt. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob bei der 1955 geborenen Klägerin die Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches
der außergewöhnlichen Gehbehinderung (Merkzeichen "aG”) vorliegen.
Der Beklagten hatte bei der Klägerin zuletzt mit Bescheid vom 4. September 1990 einen Grad der Behinderung (GdB)
von 50 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches der erheblichen Gehbehinderung
(Merkzeichen "G”) wegen der Funktionsstörungen
1. Minderbelastbarkeit des rechten Unterschenkels und Fußes 2. Hautleiden
festgestellt.
Im Februar 1999 beantragte die Klägerin bei dem Versorgungsamt Verden (VA) die Feststellung eines höheren GdB
sowie der Merkzeichen "aG”, "H” und "RF”. Nach Beiziehung von Befundberichten der behandelnden Ärzte die
Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 21. September 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
11. Februar 2000 mit Wirkung ab dem 26. Februar 1999 einen GdB von 60 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen
des zusätzlichen Merkzeichens "B” wegen der Funktionsstörungen
1. Minderbelastbarkeit des rechten Unterschenkels und Fußes 2. Funktionsbehinderung der rechten Hand mit
Schwellung und Bewegungseinschränkung
fest. Das Hautleiden wirke sich nicht erhöhend auf den GdB aus. Die Voraussetzungen der weiteren geltend
gemachten Merkzeichen lägen nicht vor.
Dagegen hat die Klägerin rechtzeitig Klage bei dem Sozialgericht Lüneburg (SG) erhoben und die Feststellung eines
GdB von mindestens 70 und der Voraussetzungen der Merkzeichen "aG”, "H” und "RF” begehrt. Zur Begründung hat
sie insbesondere vorgetragen, sie sei zur Fortbewegung außerhalb der Wohnung auf die Benutzung eines Rollstuhles
angewiesen, den sie wegen der Funktionsstörung der rechten Hand kaum zu bedienen in der Lage sei. Das SG hat die
Klägerin von Dr. E. auf chirurgischem Fachgebiet begutachten lassen. Der Sachverständige hat zusammenfassen
ausgeführt, bei der Klägerin sei eine Bewegungseinschränkung im Brust- und Lendenwirbelsäulenbereich nach
Bandscheibenvorfall im Dezember 1999 hinzugekommen. Seit Februar 1999 liege ein GdB von 80 vor. Die Klägerin
sei aber nicht außergewöhnlich gehbehindert. Mit Schriftsatz vom 31. August 2000 hat der Beklagte sich daraufhin
bereit erklärt, unter Berücksichtigung der zusätzlichen Funktionsstörung
Bewegungseinschränkung der Brust- und Lendenwirbelsäule, Muskelhartspann und chronisches Wurzelreizsyndrom
lumbal
seit Februar 1999 einen GdB von 80 festzustellen (Ausführungsbescheid vom 2. Juli 2001). Die weitergehende, nur
noch auf das Merkzeichen "aG” gerichtete Klage hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 7. Juni 2001
abgewiesen. Zur Begründung hat es sich insbesondere auf das Gutachten des Dr. E. bezogen. Die Klägerin sei nicht
so stark in ihrer Fortbewegung beeinträchtigt, wie Doppeloberschenkelamputierte oder Querschnittsgelähmte.
Gegen den ihr am 15. Juni 2001 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich die vorliegende am 27. Juni 2001 bei dem
Landessozialgericht eingegangene Berufung die Klägerin, mit der sie nur noch das Merkzeichen "aG" begehrt. Sie
sieht sich darin durch das Ergebnis des in zweiter Instanz eingeholten Gutachtens von Dr. F. bestätigt.
Nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen beantragt die Klägerin sinngemäß,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 7. Juni 2001 aufzuheben und den Bescheid des
Versorgungsamtes Verden vom 21. September 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des
Landesversorgungsamtes Niedersachsen vom 11. Februar 2000 in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 2.
Juli 2001 zu ändern,
2. den Beklagten zu verurteilen, bei der Klägerin die Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches der
außergewöhnlichen Gehbehinderung (Merkzeichen "aG”) seit Februar 1999 festzustellen.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid und die angegriffenen Bescheide für zutreffend. Er sieht sich in dieser
Auffassung durch das Ergebnis der Beweisaufnahme bestätigt. Die Klägerin sei durchaus in der Lage, mit Hilfe eines
Handstockes links und einer Begleitperson zumindest kurze Wege zu Fuß zurückzulegen
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat der Senat die Klägerin auf ihren Antrag hin von Dr. F. auf
orthopädischem Fachgebiet begutachten lassen. Dieser Sachverständige hat in dem Gutachten vom 12. Dezember
2001 zusammenfassend die Auffassung vertreten, durch das Zusammenwirken der Gesamtheit der Leiden der
Klägerin sei sie auf die Benutzung eines Rollstuhles angewiesen sei, den sie wegen der Gebrauchsunfähigkeit des
rechten Armes selbst aber nicht antreiben könne.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angegriffenen
Gerichtsbescheides, den sonstigen Aktenhalt sowie auf den Inhalt der Schwerbehindertenakte des Versorgungsamtes
Verden, Aktenzeichen 54-2143 Bezug genommen. Die genannten Akten haben der Entscheidungsfindung zugrunde
gelegen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid und die angegriffenen Bescheide des
Beklagten sind rechtswidrig, soweit der Klägerin die Zuerkennung des Merkzeichens "aG” bereits sein Antragstellung
versagt wird.
Nach § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) können Schwerbehinderten mit außergewöhnlicher
Gehbehinderung und Blinden Parkerleichterungen gewährt werden. Nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu §
46 StVO sind als Behinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der
Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges
bewegen können. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkel-
amputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu
tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie
andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem
vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Die Feststellungen über die Voraussetzungen der Vergünstigung sind von dem Beklagten zu treffen, § 4 Abs. 5 des
Schwerbehindertengesetzes, mit Wirkung ab dem 1. Juli 2001 ersetzt durch den inhaltsgleichen § 69 Abs. 5 des
Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX), jeweils in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Nr. 1 der
Schwerbehindertenausweisverordnung.
Zur Überzeugung des Gerichtes steht fest, dass die genannten Voraussetzungen der ersten Alternative der
Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO - nur mit fremder Hilfe - bei der Klägerin vorliegen. Es kann in
diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob die Klägerin sich wegen ihrer Leiden nur mit so großer Anstrengung
außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen kann, wie dies diejenigen Personen können, die zu den ausdrücklich in der
Verwaltungsvorschrift genannten Behindertengruppen gehören. Denn zwischen den Beteiligten ist inzwischen mit
Recht unstreitig, dass die Klägerin sich dauern nur mit fremder Hilfe außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen kann.
Die Überzeugung des Gerichtes beruht insoweit auf dem in sich schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des Dr.
F., der insbesondere auch auf die überaus ungünstige Ergänzung der Funktionsstörung des rechten Beines einerseits
und der Gebrauchsunfähigkeit der rechten Hand andererseits hingewiesen hat. Zwar kann, wie das Sozialgericht
zutreffend angenommen hat, die Klägerin damit immer noch einen Gehstock in der linken Hand führen. Damit kann die
Klägerin aber, wie Dr. F. zu Recht unter Bezugnahme auf den Bericht des Dr. G. feststellt, wegen der nicht
gegebenen Teilbelastungsfähigkeit des rechtes Beines nicht gehen. Andere Feststellungen hat auch Dr. E. nicht
getroffen. Er hat seine Auffassung nicht begründet, die Voraussetzungen des streitigen Nachteilsausgleiches lägen
nicht vor. Die Überzeugung des Gerichtes wird letztlich unterstützt durch die versorgungsärztliche Stellungnahme der
Dr. H. vom 18. Januar 2001. Auch sie bestätigt, dass die Klägerin allein nicht gehen kann. Sie benötigt vielmehr eine
Begleitperson.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG.