Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 19.04.2001

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 19.04.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hildesheim S 5 RI 1/99
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 10 RI 164/00
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 11. April 2000 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Rechtsstreit wird um die Frage der Anrechnung von Arbeitslosengeld (Alg) auf die Rente wegen Berufsunfähigkeit
(BU) geführt.
Der 1940 geborene Kläger bezieht aufgrund eines am 27. Juni 1996 eingetretenen Leistungsfalls seit dem 30. April
1997 Rente wegen BU (rechtsverbindlicher Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 17. Dezember 1997). Für die Zeit
davor erhielt er ab 1. Februar 1997 Übergangsgeld (Übg) bewilligt, weil er am 20. Februar 1997 einen Antrag auf
medizinische Rehabilitation (Reha) gestellt und in der Zeit vom 1. bis 29. April 1997 ein Heilverfahren mitgemacht
hatte, aus dem er mit einem aufgehobenen Leistungsvermögen für seinen bisherigen Beruf als Maurer wieder
entlassen worden war.
Ab 7. Februar 1998 gewährte das Arbeitsamt dem Kläger antragsgemäß Alg. Dieses rechnete die Beklagte unter
Abänderung ihres Bewilligungsbescheides vom 17. Dezember 1997 auf die BU an und forderte mit Aufhebungs- und
Erstattungsbescheid vom 22. Juli 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 1998 den in
der Vergangenheit vom 1. März bis 30. Juni 1998 entsprechend zuviel gezahlten Betrag an Rente in Höhe von DM
4.697,64 wieder zurück. Das Sozialgericht (SG) Hildesheim hat mit Urteil vom 11. April 2000 die Rechtmäßigkeit
dieses angefochtenen Bescheides bestätigt.
Damit ist der Kläger nicht einverstanden. Er räumt ein, dass die Beklagte formalrechtlich zutreffend den Rentenbeginn
mit dem 30. April 1997 angenommen habe. Das habe aber für ihn die nachteilige Folge, dass zwischen Rentenbeginn
und Alg-Beginn keine zwölf Monate liegen, deshalb sein Alg nicht aufgrund neuerworbener Anwartschaft gezahlt werde
und er nur deshalb eine Anrechnung auf die BU-Rente hinnehmen müsse. Es sei vielmehr der 1. Februar 1997 als
Beginnzeitpunkt der Rente anzunehmen, was auch der wahren Sachlage entspreche, denn das Übg sei hier nur ein
anderes Wort für Rente. Zumindest hätte die Beklagte ihn aber am 20. Februar 1997 umfassend beraten müssen.
Dann hätte er statt des Reha-Antrages gleich den Rentenantrag gestellt und eine Anrechnung wäre damit unterblieben.
Für diesen Fehler habe die Beklagte im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches einzustehen.
Der Kläger beantragt mit der am 9. Mai 2000 eingelegten Berufung,
das Urteil des SG Hildesheim vom 11. April 2000 und den Bescheid der Beklagten vom 22. Juli 1998 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 1998 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bezieht sich zur Begründung auf die darin enthaltenen
Ausführungen.
Die Gerichtsakten des ersten und zweiten Rechtszuges sowie die Rentenakten der Beklagten waren Gegenstand der
mündlichen Verhandlung und Beratung. Auf deren Inhalt wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.
Zu Recht hat die Beklagte ihren ursprünglichen BU-Bewilligungsbescheid vom 17. Dezember 1997 wegen nachträglich
eingetretener wesentlicher Änderung (Alg-Bezug) gemäß § 48 Abs 1 Satz 2 Nr. 3 des Sozialgesetzbuches Zehntes
Buch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) teilweise wieder aufgehoben und die Rente im Umfang des Alg-Bezuges für
die Zeit vom 1. März bis 30. Juni 1998 gemäß § 50 Abs. 1 SGB X wieder zurückgefordert. Denn das Alg war und ist
auf die BU-Rente anzurechnen.
Maßgebende Vorschrift für die Anrechnung ist § 95 des Sozialgesetzbuches Sechstes Buch – Rentenverfahren –
(SGB VI) in der zur Zeit der Anrechnung geltenden Fassung vom 18. Dezember 1989 (BGBl. I S. 2261 bzw. 1990 I S.
1337). Nach dessen Satz 1 wird auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit das für denselben Zeitraum
geleistete Alg generell angerechnet. Das hat die Beklagte hier zutreffend getan.
Von diesem Grundsatz der Anrechnung lässt Satz 2 dieser Vorschrift zwei Ausnahmen zu. Während die erste
Ausnahme schon vom Sachverhalt her unstrittig ausscheidet, trifft auch die zweite Ausnahme entgegen der
Auffassung des Klägers auf ihn nicht zu. Diese Vorschrift besagt, dass eine Anrechnung dann nicht erfolgt, wenn das
Alg aufgrund einer Anwartschaft, die insgesamt nach dem Beginn der Rente wegen BU erfüllt wird, geleistet wird.
Nach § 104 Abs. 1 Satz 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) bzw. nach § 123 des Sozialgesetzbuches Drittes
Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) beträgt die Anwartschaft für den Alg-Anspruch 360 Kalendertage bzw. zwölf
Monate. Im Falle des Klägers liegen zwischen Rentenbeginn am 30. April 1997 und dem Alg-Beginn am 7. Februar
1998 keine 360 Kalendertage bzw. zwölf Monate. Damit ist das Alg des Klägers nicht aufgrund einer insgesamt nach
Rentenbeginn liegenden Anwartschaft gewährt worden, was die Anrechnung des Alg auf die BU-Rente zur Folge hat.
Der Kläger macht gegen dieses Ergebnis zwei Einwände geltend, die indes beide nicht begründet sind. Eine
Vorverlegung des Zeitpunktes des Rentenbeginns vom 30. April 1997 auf die Zeitpunkt des Zahlungsbeginns des
vorgezogenen Übg am 1. Februar 1997 – in diesem Falle wäre tatsächlich das Erfordernis der neuen Anwartschaft
nach Rentenbeginn erfüllt – ist unzulässig. Zwar gilt bei einer erfolglosen Reha-Maßnahme der Antrag auf Reha als
Rentenantrag, vgl § 116 Abs. 2 SGB VI. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass das Übg und die BU-Rente
nach der Gesetzessystematik und nach den Zielvorstellungen des Gesetzgebers zwei völlig unterschiedliche
Leistungsarten sind. Das hat das Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 25. Juli 1995 – 8 RKn 3/94 – (SozR 3-
2600 § 95 Nr. 1) überzeugend ausgeführt, worauf hier im Einzelnen verwiesen werden kann.
Wenn der Kläger dagegen meint, dass diese Begründung des BSG lebensfremd sei, so ist dem entgegenzuhalten,
dass der Begriff "Beginn der Rente” vom Gesetzgeber auch für andere Sozialrechtsgebiete gebraucht wird und
deshalb zur Vermeidung von unerwünschten Divergenzen nur einheitlich verwendet und ausgelegt werden kann. So
bestimmt beispielsweise § 93 Abs. 5 Nr. 1 SGB VI, dass eine Rente aus der Unfallversicherung dann nicht zu einer
Minderung laufender Renten nach Maßgabe der Abs. 1 bis 4 führt, wenn sie für einen Arbeitsunfall geleistet wird, der
sich nach Rentenbeginn oder nach Eintritt der für die Rente maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit ereignet
hat. Auch hier ist der tatsächliche und nicht der fiktive Rentenbeginn gemeint (BSG a.a.O.).
Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang aber auch die weitere Tatsache, dass die Leistungen der Reha meist höher
sind als die der BU-Rente. Der Versicherte kann nun aber nicht einerseits den Vorteil des höheren Übg haben wollen,
andererseits aber auf die Bezeichnung "Rente” Wert legen, wenn es darum geht, den Nachteil der Alg-Anrechnung zu
vermeiden. Hier zeigt sich deutlich, dass eine "vermengende Gesetzesinterpretation” (so BSG Urteil a.a.O.) zu
Doppelleistungen führen würde, die vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt sind.
Auch der andere Einwand des Klägers von seiner unzureichenden Beratung durch die Beklagte, wofür diese jetzt im
Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches einzustehen habe, geht fehl. Seine Behauptung, er hätte am 20.
Februar 1997 statt des Reha-Antrages (evtl.) gleich einen Rentenantrag gestellt, wenn er nur auf diese Möglichkeit
hingewiesen bzw. entsprechend beraten worden wäre, setzt im Sinne eines erfolgreichen sozialrechtlichen
Herstellungsanspruches voraus, dass sich diese Möglichkeit dem Mitarbeiter der Beklagten seinerzeit geradezu
aufgedrängt und er gleichwohl jeden Hinweis darauf unterlassen hat. Einzuräumen ist dem Kläger, dass einem
leistungsgeminderten Maurer – der Kläger hat bis Juni 1996 als Maurer gearbeitet – wegen fehlender
Verweisungstätigkeiten in der Regel Rente wegen BU zusteht. Ob dieser Grundsatz aber stets zutrifft und ein solcher
Antrag auch in seinem Falle sinnvoll gewesen wäre, entscheidet sich nach den konkreten Gegebenheiten des
Einzelfalles. Diese sprachen hier nicht für die erfolgreiche Stellung eines Rentenantrags, jedenfalls nicht im
maßgebenden Zeitpunkt des Reha-Antrages am 20. Februar 1997. Denn diesen hatte der Kläger auf Anraten seines
Hausarztes H. gestellt, der wiederum sich auf das medizinische Votum des Prof. Dr. von I. verlassen hatte. Prof. Dr.
von I. hatte den Kläger im J.-Krankenhaus K. seinerzeit nicht nur operiert, sondern auch die Nachbehandlung durch
Anwendung der Chemotherapie übernommen. Er hatte in seinen Arztbriefen vom 27. Januar und vom 3. Februar 1997
ausgeführt, dass jetzt eine Vollremission eingetreten und keine Dauertherapie mehr erforderlich sei. Angesichts dieser
medizinischen Ausgangslage sprach alles für ein ernsthaftes und unverzügliches Bemühen um Reintegration des
Klägers in das Erwerbsleben. Dieses Ziel kann nur durch eine medizinische Reha-Maßnahme erreicht werden. Ein
Rentenantrag war ganz fernliegend und sogar kontraindiziert. Denn er hätte das Bemühen um Reintegration
unterlaufen. Von einem Beratungsfehler auf Seiten der Beklagten durch einen unterbliebenen Hinweis auf Rente kann
deshalb schlechterdings nicht die Rede sein.
Wenn schließlich der Prozessbevollmächtigte des Klägers darauf hinweist, dass seine Beratung seiner Klienten
anders ausgesehen hätte und anders aussieht als die der Beklagten, so verkennt er die unterschiedliche
Ausgangslage. Die Beklagte hat als Versicherungsträger eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren Versicherten, die sich
vor Erreichen der Regelaltersrente vornehmlich auf die Erhaltung bzw. Wiederherstellung deren Leistungsfähigkeit
erstreckt (Grundsatz: Reha vor Rente). Demgegenüber ist der Aufgabenkreis eines Rechtsvertreters viel weiter
gesteckt.
Da über die Höhe des Erstattungsbetrages kein Streit besteht, war zu entscheiden wie geschehen.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 193 und 160 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).