Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 24.01.2007

LSG Nsb: hohes alter, soziale sicherheit, zwangsarbeit, form, entgeltlichkeit, beitragszeit, bevölkerung, erlass, wartezeit, freiwilligkeit

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 24.01.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Oldenburg S 82 R 195/06
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 2 R 464/06
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 10. November 2006 und der Bescheid der Beklagten vom
29. Dezember 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2006 werden aufgehoben. Die Beklagte
wird verpflichtet, dem Kläger ab Juni 1997 Regelaltersrente unter Berücksichtigung des Zeitraums vom 1. Juli 1942
bis 15. August 1943 als Beitragszeit im Sinne der §§ 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 ZRBG zu gewähren. Die Beklagte trägt
die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers aus beiden Rechtszügen. Die Revision wird nicht zugelassen
...
Tatbestand:
Der am 31. Juli 1928 in Lettland geborene Kläger begehrt unter Berufung auf das Gesetz zur Zahlbarmachung von
Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG – BGBl I 2002, 2074) die Gewährung einer Altersrente unter
Berücksichtigung einer Beitragszeit von Juli 1942 bis August 1943.
Der im lettischen J. (K.) geborene Kläger gehörte zur jüdischen Bevölkerung in L ... Nach dem Einmarsch der
deutschen Truppen in L. wurden jüdische Schüler vom Schulbesuch ausgeschlossen.
Dem Kläger und seiner Mutter wurde im Juni 1942 eine Unterkunft in dem Gebiet des Ghettos in J. zugewiesen.
Bereits vor der Unterbringung im Ghetto folgte der Kläger einem Aufruf der deutschen Besatzungskräfte, sich zur
Arbeit zu melden. Er wurde zunächst einem Kommando zum Reinigen und Stapeln von Ziegeln zugeteilt. In der
Folgezeit sägte und hackte er bei einem sog. Tankholzkommando Holz. Später arbeitete er im M. Kriegshafen bei den
Marienausbesserungswerken, und zwar zunächst in der Kleiderkammer und später in der Marineschlosserei.
Auch während der Zeit im Ghetto arbeitete der Kläger tagsüber an Arbeitsplätzen außerhalb des Ghettos, und zwar
zunächst in einer Rapsölfabrik und später erneut im Kriegshafen. Insbesondere wurde er dort als Schlosserarbeiter bei
Wasserleitungen und bei der Reparatur von Schlössern eingesetzt.
Am 5. August 1942 traf der deutsche Gebietskommissar in J. eine Anordnung über die Beschäftigung und Bezahlung
von jüdischen Arbeitskräften. Ihr zufolge sollte der Einsatz aller jüdischen Arbeitskräfte durch die Abteilung
Arbeitsverwaltung beim Gebietskommissariat in J. erfolgen, die die Arbeitskräfte den Betrieben,
Wehrmachtstruppenteilen und anderen Dienststellen auf Anforderungen zuweisen sollte. Der Lohn war so zu
berechnen wie für einheimische Arbeitskräfte mit gleicher Tätigkeit.
Für gelernte und ungelernte Arbeitskräfte mit normalen Leistungen war dieser so errechnete Gesamtlohn an das
Gebietskommissariat abzuführen. Bei Akkordlöhnen durfte von dem an das Gebietskommissariat abzuführenden Lohn
25 % eines über einen normalen Arbeitsverdienst erzielten Mehrverdienstes, höchstens jedoch 2,50 RM wöchentlich,
einbehalten und an das "jüdische Gefolgschaftsmitglied" ausgezahlt werden.
Von August 1943 bis Juli 1944 war der Kläger im KZ N. und danach bis zum April 1945 im KZ O. inhaftiert. Von dort
wurde er nach P. verlegt, wo er am 3. Mai 1945 von britischen Truppen befreit wurde.
Der Kläger wurde in das Landeskrankenhaus Q. u.a. wegen schwerster Unterernährung und einer TBC-Erkrankung
aufgenommen. Nach diesem und weiteren Krankenhausaufenthalten wurde der Kläger in verschiedenen
Flüchtlingslagern und zuletzt im Kinderheim "R. " in S. untergebracht, bis er im Januar 1948 in seine heutige Heimat
T. auswanderte.
Mit Vergleich vom 17. Dezember 1971 gewährte das Amt für Wiedergutmachung der Freien und Hansestadt U. dem
Kläger zur Entschädigung des an Körper und Gesundheit erlittenen Schadens nach §§ 28 ff. BEG für die vergangenen
Zeiträume ab Mai 1945 eine Entschädigung in Höhe von rund 38.000,00 DM und für die Folgezeit eine Rente in Höhe
von anfänglich monatlich 187,00 DM. Des weiteren wurde dem Kläger eine Entschädigung aufgrund des Todes seiner
beiden Eltern in Höhe von 740,00 DM zuerkannt.
Mit Schreiben vom 28. Oktober 2002, bei der Beklagten eingegangen am 30. Oktober 2002, suchte der Kläger um die
Bewilligung einer Altersrente nach.
Mit Bescheid vom 29. Dezember 2004 lehnte die Beklagte das Rentenbegehren mit der Begründung ab, dass der
Kläger nicht glaubhaft gemacht habe, dass er von Juli 1942 bis zum 6. Oktober 1943 aus eigenem Willensentschluss
und gegen Entgelt im Ghetto beschäftigt gewesen sei. Da der Kläger keine Beitragszeiten aufzuweisen habe, könnten
auch keine Ersatzzeiten anerkannt werden; er erfülle nicht die für die Rentengewährung erforderliche Wartezeit.
Zur Begründung seines Widerspruchs hob der Kläger hervor, dass während seines Aufenthalts im Ghetto J. der
dortige Judenrat das Ziel einer weitestmöglichen Eingliederung der jüdischen Bevölkerung in den Arbeitsprozess
verfolgt habe, um ihre Überlebenschancen zu verbessern. Da Inhaber einer Arbeitskarte am ehesten vor den ständig
drohenden Deportationen geschützt gewesen seien, habe es nie einen Mangel an Arbeitswilligen gegeben. Selbst
schwere Arbeiten unter widrigen Umständen seien freiwillig akzeptiert worden. Auch er habe sich freiwillig zur Arbeit
gemeldet. Als Gegenleistung habe er Lebensmittelkarten, Teilverpflegung am Arbeitsplatz und zeitweise auch
geringfügige Lohnzahlungen erhalten.
Der Kläger übersandte des weiteren einen (den Zusatz "to be published in "Encyclopaedia of the Holocaust"
tragenden, den Verfasser allerdings nicht ausweisenden) Bericht über das Schicksal der Juden in J ...
Darüber hinaus legte er eine schriftliche Zeugenerklärung der am 15. November 1914 in J. geborenen, dort später
ebenfalls im Ghetto lebenden und inzwischen auch in T. wohnenden V., geborene W., vor. Diese führte in ihrer
Erklärung insbesondere aus: Sie habe "aus eigener Wahrnehmung" gesehen, dass sich der Kläger schon bald nach
dem Einmarsch der Deutschen und der Erschießung seines Vaters aus eigenem Willen zur Arbeit gemeldet habe.
Ebenso wie der Kläger habe auch sie selbst während der Ghettozeit regelmäßig gearbeitet. Die Arbeitenden hätten
sich frühmorgens am Ghettotor einfinden müssen. Dort seien sie ebenso wie abends bei der Rückkehr gezählt
worden. Die Arbeitenden hätten die Arbeitsplätze teilweise in Gruppen zu Fuß aufgesucht; bei weiter entfernt
gelegenen Arbeitsplätzen etwa bei der Marine seien sie auch mit Lastwagen morgens abgeholt und abends
zurückgebracht worden.
Die außerhalb des Ghettos Arbeitenden seien geringfügig bezahlt worden; auch die Ghettoverwaltung sei durch
Zahlungen des Gebietskommissars unterstützt worden. Mit dem kleinen Lohn, den jeder Arbeitende erhalten habe,
hätten sie in einem kleinen Geschäft im Ghetto einkaufen können, in dem es allerdings nur geringe Portionen und
allenfalls Pferdefleisch gegeben habe.
Mit Bescheid vom 30. Mai 2006 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Es sei zwar unstreitig, dass
sich der Kläger von Juli 1942 bis August 1943 im Ghetto J. aufgehalten und verschiedene Arbeiten außerhalb des
Ghettos verrichtet habe. Der Widerspruchsausschuss sei aber zu der Auffassung gelangt, dass die Beschäftigungen
nicht aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen seien. Auch wenn sich der Kläger selbst beim örtlichen
Judenrat zur Arbeitsleistung gemeldet habe, so sei doch jedenfalls für die konkret ausgeübten Tätigkeiten eine
Zuweisung durch die Arbeitsverwaltung beim Gebietskommissariat in J. erfolgt.
Überdies sei der Kläger beim Verlassen und Wiederbetreten des Ghettos zusammen mit den anderen Arbeitskräften
gezählt worden; am Arbeitsplatz habe er den deutschen Meistern und der SS unterstanden. Hiervon ausgehend seien
die verrichteten Tätigkeiten eher als Zwangsarbeit anzusehen.
Die am 2. Juni 2006 erhobene, erstinstanzlich nicht näher begründete Klage hat das Sozialgericht Oldenburg mit
Gerichtsbescheid vom 10. November 2006 mit der Begründung abgewiesen, dass nach Überprüfung der
Verwaltungsakte Rechtsfehler nicht erkennbar seien.
Mit der am 29. November 2006 eingelegten Berufung macht der Kläger geltend, dass die Zeit der Beschäftigung im
Ghetto J. nach den Vorgaben des ZRBG als Beitragszeit in der deutschen Rentenversicherung zu berücksichtigen
sei, da es sich um freiwillige und entgeltliche Tätigkeiten gehandelt habe. Es seien keine Kriterien einer echten
Zwangsarbeit erkennbar.
Der grundsätzliche Lohnanspruch habe sich zwar durch verschiedene schikanöse Abzüge zu Lasten der jüdischen
Arbeiter vermindert, dies dürfe bei der Auslegung des Begriffs der Entgeltlichkeit aber nicht den Betroffenen
angelastet werden. Bei der Auslegung des Begriffs der Entgeltlichkeit sei das Urteil des BSG vom 14. Dezember 2006
(B 4 R 29/06) zu berücksichtigen.
Der Kläger beruft sich ferner auf das zur Gerichtsakte gereichte Buch von X. und Y. "Jews in K., Z. 1941 – 1945"
(erschienen bei AA., AB., AC., 2001) sowie auf das ebenfalls vorgelegte Dokument " J. – Liepaja Encyclopedia of
Jewish Communities in Latvia und Estonia – Translation of Libau – Liepaja chapter from Pinkas Hakehillot Latvia v
Estonia" von AD ...
Er beantragt, 1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 10. November 2006 und den Bescheid der
Beklagten vom 29. Dezember 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2006 aufzuheben und
2. die Beklagte zur Gewährung einer Regelaltersrente ab Juni 1997 unter Berücksichtigung des Zeitraums vom 1. Juli
1942 bis 15. August 1943 als Beitragszeit im Sinne der §§ 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 ZRBG zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt
der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf die begehrte Regelaltersrente. Für den streitigen
Zeitraum von Juli 1942 bis August 1943 gelten Beiträge zur deutschen Rentenversicherung nach § 2 ZRBG als
gezahlt, so dass der Kläger unter Einbeziehung dieser fingierten Beitragszeit und weiterer Ersatzzeiten die nach § 50
Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI erforderliche Wartezeit von 60 Monaten für die begehrte Altersrente erfüllt. Im Zeitpunkt der
nach § 3 Abs. 1 S. 1 ZRBG fingierten Rentenantragstellung am 18. Juni 1997 war der Kläger auch bereits 68 Jahre alt
und hatte mithin die nach § 35 Nr. 1 SGB VI maßgebliche Altersgrenze von 65 Jahren überschritten.
1. Das ZRBG gilt nach seinem § 1 Abs. 1 S. 1 für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich
dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn (Nr. 1) die Beschäftigung a) aus eigenem Willensentschluss zustande
gekommen ist und b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und wenn (Nr. 2) das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das
vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus
einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird.
Zwischen den Beteiligten steht zu Recht außer Streit, dass der wegen seiner jüdischen Glaubenszugehörigkeit
verfolgte Kläger sich von Juli 1942 bis August 1943 zwangsweise im Ghetto J. aufgehalten hat, dass er während
dieses Zeitraums fortlaufend gearbeitet hat, und zwar insbesondere zunächst in einer Rapsölfabrik und später im
Marinehafen von J., und dass für den genannten Zeitraum nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen
Sicherheit erbracht wird. L. und damit auch J. waren im streitigen Zeitraum vom Deutschen Reich besetzt.
Unterschiedlich beurteilt werden allerdings die weiteren der erläuterten tatbestandlichen Voraussetzungen, ob der
Kläger diese Beschäftigungen aus eigenem Willensentschluss und gegen Entgelt ausgeübt hat. Beide
Voraussetzungen sind im Ergebnis zugunsten des Klägers zu bejahen.
a) Nach Maßgabe des früheren § 1226 Abs 1 Nr 1 RVO waren in der Invalidenversicherung/Arbeiterrentenversicherung
insbesondere Arbeiter versichert. Voraussetzung der Versicherung war, dass sie gegen Entgelt (§ 160 RVO)
beschäftigt wurden (vgl § 1226 Abs 2 RVO). Hiervon ausgehend ist eine von den Merkmalen der Freiwilligkeit und
Entgeltlichkeit bestimmte Beschäftigung, die grundsätzlich der Versicherungspflicht unterliegt, von nicht
versicherungspflichtiger Zwangsarbeit abzugrenzen (vgl BSG SozR 3-5070 § 14 Nr 3; BSG SozR 3-2200 § 1248 Nr
17). Dies gilt auch, soweit die Arbeit unter den allgemeinen Bedingungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft
verrichtet worden ist (vgl BSG SozR 3-2200 § 1248 Nr 16; BSG SozR 3-5070 § 14 Nr 3). Hinsichtlich des
Erfordernisses eines freiwilligen Beschäftigungsverhältnisses gegen Entgelt ist durch die Einführung des ZRBG nichts
geändert worden (vgl. BSG, U.v. 20. Juli 2005 – B 13 RJ 37/04 R –). Auch die Gesetzesbegründung bestätigt, dass
die Voraussetzungen des Begriffs des freiwilligen Beschäftigungsverhältnisses gegen Entgelt im Sinne von § 1 ZRBG
der bisherigen Rechtslage entsprechen und die Trennung zur nicht versicherten Zwangsarbeit verdeutlichen sollen (vgl
BSG, aaO, und BT-Drucks 14/8583 zu § 1 des Gesetzentwurfs, S 6). Dabei ist Zwangsarbeit insbesondere in Form
von Tätigkeiten in Betracht zu ziehen wie sie von Strafgefangenen, Fürsorgezöglingen, Kriegsgefangenen oder im
Inland zurückgehaltenen Angehörigen feindlicher Staaten verrichtet wird (vgl. BSG, U.v. 18. Juni 1997 – 5 RJ 66/95 –
E 80, 250).
Bei der Konkretisierung der erläuterten Voraussetzungen einer aus eigenem Willensentschluss zustande
gekommenen Beschäftigung ist im vorliegenden Zusammenhang zu berücksichtigen, dass § 1 ZRBG darüber hinaus
ausdrücklich einen "zwangsweisen" Aufenthalt im Ghetto verlangt. Bei den zum Aufenthalt im Ghetto Gezwungenen
ist nach den gesetzlichen Vorgaben danach zu differenzieren, ob sie sich gerade während dieses Zwangsaufenthaltes
aus eigenem oder aus fremdem Entschluss der Beschäftigung zugewandt haben.
Dementsprechend kann der Zwangsaufenthalt im Ghetto als solcher noch nicht der Annahme einer aus eigenem
Willensentschluss zustande gekommenen Beschäftigung entgegenstehen. Gleiches gilt für die den Zwangsaufenthalt
im Ghetto typischerweise prägenden Begleitumstände. Die in den Ghettos vorherrschenden prekären
Lebensumstände, die einen äußerst starken wirtschaftlichen Druck zur Ergreifung jedweder Verdienstmöglichkeiten
erzeugt haben, beeinträchtigen als solche nicht die Freiwilligkeit einer Beschäftigungsaufnahme. Auch außerhalb von
Verfolgungsmaßnahmen ist es für die Frage der Freiwilligkeit eines Beschäftigungsverhältnisses im
rentenversicherungsrechtlichen Sinne und für die daran anknüpfende Versicherungspflicht ohne Relevanz, ob ein
Arbeitnehmer "der Not gehorchend" oder aus anderen Motiven heraus seine Arbeitskraft einsetzt. Die Beweggründe,
die jemanden zur Aufnahme einer Beschäftigung veranlassen (etwa Bedarfsdeckung, Gewinn- bzw.
Einkommensmaximierung, Selbstverwirklichung), spielen keine Rolle für die Frage, ob eine
rentenversicherungspflichtige Beschäftigung vorliegt oder nicht. Namentlich haben die allgemeinen sonstigen
Lebensumstände des Versicherten außer Betracht zu bleiben, die nicht die Arbeit und das Arbeitsentgelt als solche,
sondern sein häusliches, familiäres, wohn- und aufenthaltsmäßiges Umfeld betreffen (vgl. BSG, U.v. 18. Juni 1997,
aaO).
Mithin steht einem eigenen Willensentschluss ebenso wenig entgegen, wenn sich die Betroffenen bei ihrer
Entscheidung für eine Arbeitsaufnahme auch von der Hoffnung haben leiten lassen, dass eine Eingliederung in den
Arbeitsprozess und ein darin zum Ausdruck kommendes Gebrauchtwerden einen rudimentären Schutz vor allgemein
den Juden seinerzeit drohenden Deportationen oder anderen Verfolgungsmaßnahmen bieten konnte.
Die freie Willensentschließung muss sich nur auf die grundsätzliche Aufnahme einer Beschäftigung beziehen, mag
dann auch die konkrete Tätigkeit und der Beschäftigungsort sich aus einer an die freiwillige Entscheidung zur
Arbeitsaufnahme zeitlich anschließenden Zuweisung durch eine öffentliche Stelle erfolgen. Auch wenn die
Entscheidungsfreiheit des einzelnen sich darauf beschränkt, sich generell für oder gegen die Ausübung (irgend)einer
Beschäftigung zu entscheiden, nimmt der eigene Entschluss zu ihrer Aufnahme der Beschäftigung den Charakter
einer Zwangsarbeit. Auch der Leiharbeitnehmer verrichtet die ihm aufgetragenen Tätigkeiten nicht im
rentenversicherungsrechtlichen Sinne unfreiwillig, weil Ort, Art und Zeit der auszuübenden Tätigkeit durch das
Direktionsrecht des Leiharbeitgebers konkretisiert werden. Dementsprechend muss der Senat nicht weiter der Frage
nachgehen, welche Bedeutung im vorliegenden Zusammenhang der in der Anordnung des deutschen
Gebietskommissars in J. vom 5. August 1942 angesprochenen "Zuweisung" der Arbeitskräfte durch die
Arbeitsverwaltung beim Gebietskommissariat im Arbeitsalltag zukam und ob diese möglicherweise eine eher nur
formale Bedeutung zur Wahrung der fiskalischen Interessen des Gebietskommissariats aufwies. Jedenfalls ist nichts
dafür greifbar, dass von einer solchen Zuweisung auch Ghettobewohner betroffen waren, die nicht arbeiten wollten.
Der Kläger hat glaubhaft vorgetragen, dass er selbst den Entschluss zur Aufnahme und zur Fortsetzung der –
insbesondere in der Rapsölfabrik und im Marinehafen ausgeübten – Beschäftigung gefasst hat. Er ist dazu
insbesondere weder durch individuelle Bedrohungen noch durch Strafandrohungen oder sonst durch obrigkeitlichen
oder gesetzlichen Zwang gezwungen gewesen. Die genannten Beschäftigungen, die sich über den gesamten Zeitraum
von Juli 1942 bis August 1943 erstreckt haben, sind damit aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen. Es
handelte sich um Arbeit im Sinne eines zweckgerichteten Einsatzes der körperlichen und geistigen Kräfte und
Fähigkeiten.
Die Darstellung des Klägers überzeugt um so mehr, als er einleuchtend dargelegt hat, dass es aus der Sicht der
verfolgten – und durch die bereits erfolgte Liquidierung eines Großteils der einheimischen jüdischen Bevölkerung
ohnehin zutiefst verängstigten – Bevölkerung des Ghettos ohnehin im eigenen Interesse lag, allen erreichbaren
Beschäftigungen nachzugehen. Tätigkeiten außerhalb des Ghettos bargen überdies mitunter die Chance in sich, (trotz
strenger Verbote) an Schmuggelaktivitäten zu partizipieren und damit die größte Not ein wenig lindern zu können. Bei
dieser Ausgangslage bedurfte es keiner irgendwie gearteten speziellen Zwangsmaßnahmen um beim Kläger oder bei
den anderen arbeitsfähigen Bewohnern den Entschluss zur Arbeitsaufnahme hervorzurufen. Nur ergänzend sei
angemerkt, dass schon der jugendliche Bewegungs- und Entdeckungsdrang einen 14jährigen Jungen – auch um den
Preis der Mühen einer schweren Arbeit – dazu bewogen haben dürfte, jede Gelegenheit zum Verlassen des kleinen
mit Stacheldraht eingezäunten – und mit nach Aktenlage knapp 1000 Bewohnern völlig überfüllten – Ghettos zu
nutzen.
Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit des Klägers sind um so weniger erkennbar, als dieser bereits in den 50er Jahren
– lange vor Erlass des ZRBG – in dem damaligen Entschädigungsverfahren darauf hingewiesen hat, dass er sich
alsbald nach dem Einmarsch der deutschen Truppen zur Arbeit gemeldet habe.
Der Annahme einer eigenverantwortlich aufgenommenen Beschäftigung steht auch nicht entgegen, dass die
außerhalb des Ghettos Tätigen morgens beim Verlassen des Ghettos und abends bei der Rückkehr gezählt wurden.
Diese Maßnahme war Ausfluss des Zwanges zum Aufenthalt im Ghetto, der, wie erläutert, zu den tatbestandlichen
Voraussetzungen des § 1 ZRBG zählt und daher als solcher der Anwendung des ZRBG gerade nicht entgegenstehen
kann. Entsprechendes gilt, soweit Sicherungsmaßnahmen am Arbeitsplatz (neben dem Schutz vor Sabotage) und auf
den Arbeitswegen ein Entweichen der jüdischen Beschäftigten erschweren sollten. Dass der Kläger als ungelernter
Jugendlicher am Arbeitsplatz den Weisungen der Meister unterstand, ergab sich bereits aus dem Vorliegen eines
Beschäftigungsverhältnisses und steht der Annahme seiner freiwilligen Aufnahme von vornherein nicht entgegen.
b) Der Kläger hat die genannten Beschäftigungen auch gegen Entgelt ausgeübt. Anknüpfungspunkt für die Auslegung
dieses Tatbestandsmerkmals ist zunächst die vom Gesetzgeber beim Erlass der ZRBG vorgefundene Legaldefinition
des § 14 Abs. 1 S. 1 SGB IV, wonach unter einem Arbeitsentgelt alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer
Beschäftigung zu verstehen sind, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher
Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im
Zusammenhang mit ihr erzielt werden.
Wie der Zusammenhang mit §§ 1 Abs 3 und 2 ZRBG verdeutlicht, müssen die Zeiten der Beschäftigung zu
rentenrechtlichen Zeiten führen, was wiederum nur möglich ist, wenn das Entgelt iS des § 1 Abs 1 Nr 1 Buchst b
ZRBG als ein die Versicherungspflicht in der Rentenversicherung begründendes Entgelt anzusehen ist. Daher soll das
Entgelt sich nach der Rechtsprechung des BSG nicht in der bloßen Gewährung von freiem Unterhalt erschöpfen
dürfen, weil ansonsten Versicherungsfreiheit kraft Gesetzes für diese Beschäftigung vorliege (vgl. U.v. 3. Mai 2005 –
B 13 RJ 34/04 R – E 94, 294).
Die Anforderungen an den erforderlichen Nachweis bzw. an eine Glaubhaftmachung der Entgeltlichkeit der ausgeübten
Beschäftigung dürfen ausgehend von den gesetzlichen Zielen des ZRBG nicht überspannt werden. Das ZRBG ist erst
57 Jahre nach Verfolgungsende in Kraft getreten; überdies haben die Verfolgung als solche und die Wirren der
Nachkriegszeit bei einem Großteil der Betroffenen zu einem vollständigen Verlust aller Unterlagen geführt. Dem damit
einhergehenden unverschuldeten und vom Gesetzgeber beim Erlass des ZRBG vorgefundenen Beweis– (und letztlich
auch schon Darlegungs-)Notstand muss bei der Gesetzesanwendung angemessen Rechnung getragen werden. Dies
ist erforderlich, um der gesetzgeberischen Intention gerecht zu werden, mit diesem Gesetz "für Menschen, die alle
bereits ein hohes Alter erreicht haben und gewöhnlich im Ausland leben, eine Lücke im Recht der Wiedergutmachung"
zu schließen (vgl den zu Protokoll gegebenen Redebeitrag von Ulrike Mascher, Parlamentarische Staatssekretärin
beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, BT-StenBer. 14. Wahlperiode, 233. Sitzung, 25. April 2002, S.
23282, unter B, C und D und BSG, U.v. 3. Mai 2005 – B 13 RJ 34/04 R – E 94, 294).
Im vorliegenden Fall hat sich der Senat aufgrund der glaubhaften Angaben des Klägers und der glaubhaften
schriftlichen Erklärung der Zeugin Kohn die Überzeugung gebildet, dass er für seine Beschäftigung im streitigen
Zeitraum ein Entgelt insbesondere in Form von Lebensmittelgutscheinen bzw. -berechtigungskarten und – in
begrenztem Maße (vgl. auch Anders/Dubrovskis, aaO, S. 19: "trifling pay") – von Geldzahlungen erhalten hat. Das
Entgelt hat sich insbesondere auch nicht in der Gewährung freien Unterhalts im Sinne des o.g. BSG-Urteils vom 3.
Mai 2005 erschöpft. Abgesehen von einer nur während der Arbeitszeit bezogenen Teilverpflegung oblag es dem – gar
nicht an der Arbeitsstelle wohnenden – Kläger selbst, für seine Verpflegung Sorge zu tragen. Gerade auch zu diesem
Zweck hat er die Lebensmittelkarten und die geringen Barbeträge erhalten. Diese konnte der Kläger in dem sich in
dem Ghetto befindlichen Laden (naturgemäß nur nach Maßgabe des dort jeweils vorhandenen Warenangebots) nach
eigener Entscheidung für seine persönlichen Bedürfnisse (und die seiner Mutter) einsetzen. Überdies kommt den in
Notzeiten ausgegebenen Lebensmittelkarten im Alltag die Bedeutung einer Ersatzwährung zu. Ob der Kläger diese
aufgrund der Beschäftigung empfangenen materiellen Vorteile unmittelbar durch den jeweiligen Arbeitgeber oder durch
Vermittlung des Judenrates bzw. der jüdischen Ghettoverwaltung erhalten hat, ist für die Frage einer Entgeltlichkeit im
rentenrechtlichen Sinne nicht entscheidungserheblich.
Soweit das BSG in seinem – dem Erlass des ZRBG vorausgehenden und dieses letztlich auslösenden – Urteil vom
18. Juni 1997 (aaO) noch auf das Erfordernis einer Entlohnung in Höhe von über einem Drittel des damals
maßgeblichen Ortslohnes abgestellt hat, hat es dieses Erfordernis in diesem Urteil zugleich relativiert und letztlich
auch weitgehend aufgehoben. Im Ergebnis hat das BSG auch Zahlungen in Form von Mark-Quittungen, d.h. in Form
des sog Ghettogeldes, als ausreichende Gegenleistung für die Arbeitsleistung eines Arbeitnehmers genügen
gelassen. Dieses Ghettogeld war nicht konvertibel und außerhalb des Ghettos wertlos. Das BSG (aaO) hat es
bezeichnenderweise nicht für erforderlich erachtet, näher der Frage nachzugehen, welche (nach welchen Maßstäben
auf welcher auch heute noch feststellbaren tatsächlichen Grundlage zu bestimmende?) reale Kaufkraft das Ghettogeld
im Ghetto repräsentierte und in welchem Verhältnis diese zur damaligen Kaufkraft der Reichsmark außerhalb des
Ghettos gestanden haben mag.
Jedenfalls im Anwendungsbereich des ZRBG kommt es auf einen solchen Mindestlohn von über einem Drittel des
damals maßgeblichen Ortslohnes ohnehin nicht mehr an. Diese Bezugsgröße war bei Erlass des ZRBG bereits seit
Jahrzehnten nicht mehr maßgebend. Ihre Anwendung war überdies bei einer aus Sach- und Geldleistungen
kombinierten Vergütung mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden (nach der Entscheidung des RVA vom 30. März
1933 II 2266a 1/32 – [Amtliche Nachrichten 1933, 197] waren dann etwa bei Lehrlingsvergütungen neben den örtlichen
Lebenshaltungskosten und "Gebräuchen" auch "Überlieferungen im Lehrlingswesen" zu berücksichtigen). Hätte der
Gesetzgeber im Jahr 2002 gleichwohl weiterhin ein Drittel eines während der Verfolgungszeit maßgeblichen
Ortslohnes für ausschlaggebend erachten wollen, wäre eine entsprechende Klarstellung zu erwarten gewesen wäre.
Stattdessen hat der Gesetzgeber aber jedes "Entgelt" genügen lassen.
Für Ghettos außerhalb des Deutschen Reiches und damit auch L. ist für eine Heranziehung der genannten
Bezugsgröße um so weniger Raum, als es sich bei dem Ortslohn im Sinne der §§ 149 ff. RVO a.F. um eine normative
Größe handelte, die sich zwar an den tatsächlichen Lohnverhältnissen im jeweiligen Bezirk zu orientieren hatte, dem
für die Festsetzung zuständigen Oberversicherungsamt aber auch einen Festsetzungsspielraum eröffnete (vgl.
insbesondere §§ 149 Abs. 2 und 150 Abs. 3 RVO a.F.). Für Gebiete außerhalb des Deutschen Reiches fehlen
entsprechende normative Festsetzungen. Auch sonst ist nicht ersichtlich, wie für den streitigen Zeitraum für die
lettische Bevölkerung in dem vom Deutschen Reich besetzten (und – wie alle besetzten Staaten – ausgebeuteten)
Lettland ein "Ortslohn" im Sinne des § 149 RVO a.F. – noch dazu mit der in § 150 Abs. 1 und 2 RVO a.F.
vorgesehenen Differenzierung nach Alter und Geschlecht – bestimmt werden könnte.
2. Da die streitigen Beschäftigungszeiten des Klägers im Ghetto von Juli 1942 bis August 1943 nach § 1 ZRBG
berücksichtigungsfähig sind, gelten für diese Zeiten Beiträge zur deutschen Rentenversicherung nach § 2 ZRBG als
gezahlt.
Der Kläger lebte und arbeitete zu Beginn des Monats August 1943 im Ghetto J. und ist erst im Laufe dieses Monats
in das KZ N. verbracht worden. Da sich das genaue Datum, an dem er das Ghetto verlassen hat, nicht mehr
feststellen lässt, ist dieses der Monatsmitte zuzuordnen, so dass als Zeitpunkt der Beendigung der entgeltlichen
Beschäftigung im Ghetto der 15. August 1943 anzusehen ist.
3. Im Anschluss an den vorstehend festgestellten (zu fingierenden) Beitragszeitraum von Juli 1942 bis August 1943
war der Kläger von August 1943 bis Juli 1944 im KZ N. und danach bis zum April 1945 im KZ O. inhaftiert. Von dort
wurde er bis zur Befreiung am 3. Mai 1945 nach P. verlegt. In diesen Zeiträumen war dem Kläger, der nach den
Bestimmungen des Bundesentschädigungsgesetzes entschädigt worden ist, die Freiheit im Sinne der §§ 43 und 47
des Bundesentschädigungsgesetzes entzogen, im Anschluss daran bis zur Ausreise nach T. Anfang Januar 1948 war
der Kläger arbeitsunfähig oder – sofern er nach der verfolgungsbedingten schweren Erkrankung vor der Ausreise
überhaupt wieder die Arbeitsfähigkeit erlangt haben sollte – jedenfalls unverschuldet arbeitslos. Dementsprechend
sind diese Zeiträume als Ersatzzeiten nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI zu berücksichtigen.
Da im Ergebnis der gesamte – 67 Kalendermonate umfassende – Zeitraum vom 1. Juli 1942 bis Anfang Januar 1948
als Beitrags– oder Ersatzzeit nach § 51 Abs. 1 und 4 SGB VI auf die 60 Monate betragende Wartezeit nach § 50 Abs.
1 Nr. 1 SGB VI anzurechnen ist, hat der Kläger diese unabhängig von der Frage erfüllt, ob noch weitere Zeiten nach
Art. 6 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und T. über Soziale Sicherheit vom 13. Dezember
2000 (BGBl. II 2307) zu berücksichtigen sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht
gegeben.-