Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 05.06.2002

LSG Nsb: wiedereinsetzung in den vorigen stand, befangenheit, unparteilichkeit, qualifikation, kongress, niedersachsen, beweiswert, beschwerdefrist, zivilprozessordnung, gesellschaft

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 05.06.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Osnabrück S 8 U 327/98
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 6 B 110/02 U
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Osnabrück vom 21. Dezember 2001 wird
zurückgewiesen.
Gründe:
I.
Die Beschwerde betrifft das gegen eine medizinische Sachverständige gerichtete Ablehnungsgesuch.
Die Klägerin, die im Oktober 1991 bis März 1994 als Sekretärin auf dem Gelände einer Müllverbrennungsanlage in B.
tätig war, begehrt die Anerkennung von Gesundheitsstörungen (u.a. einer Atemwegserkrankung und einer
Polyneuropathie) als Folgen einer Berufskrankheit – BK – oder einer Erkrankung, die wie eine BK zu entschädigen ist.
Sie führt diese Gesundheitsstörungen auf eine berufliche Exposition gegenüber Schadstoffen (Staub, Schwermetalle
usw.) zurück. Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin nach Ermittlungen zur Exposition am Arbeitsplatz und nach
Einholung medizinischer Gutachten ab (Bescheid vom 17. Februar 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 22. Oktober 1998).
Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht – SG – Osnabrück mit Beweisanordnung vom 27. November
2001 Frau Prof. Dr. C., zur ärztlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt.
Die Klägerin hat diese Sachverständige mit Schreiben vom 6. Dezember 2001 wegen Befangenheit abgelehnt und
diesen Antrag mit Schreiben vom 18. Dezember 2001 im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Beurteilung der
Zusammenhangsfrage sei besonders verantwortungsvoll und erfordere detaillierte Kenntnisse des Gegenstandes.
Frau Prof. Dr. D. habe bereits in einem vergleichbaren Fall begutachtet. Das Ergebnis sei nicht nachvollziehbar, da
sie einen weltweit unumstrittenen Sachverhalt unrichtig dargestellt habe. Gegen das inhaltlich falsche und mit
diversen Mängel versehene Gutachten habe der zuständige Rechtsanwalt Widerspruch eingelegt. Aufgrund dieser
unsachlichen Einstellung der Frau Prof. Dr. D. bestehe ihrerseits (d.h. seitens der Klägerin) Misstrauen an der
Unparteilichkeit. Erwähnenswert sei auch, dass es sich bei der Sachverständigen um eine Schülerin des Prof. Dr. E.
handle, der dem Gericht sicher als "Experte für Unbedenklichkeit” bekannt sei. Sie bitte das Gericht, die
Sachverständige von der Begutachtung zu entbinden, weil ein Fachgutachten mit unbelegten allgemeinen Hinweisen
und Mutmaßungen kein Gewicht habe könne.
Das SG hat den Befangenheitsantrag der Klägerin mit Beschluss vom 21. Dezember 2001 zurückgewiesen, weil vom
Standpunkt des Verfahrensbeteiligten bei vernünftiger und objektiver Betrachtungsweise kein Grund vorliege, der
Zweifel an der Unparteilichkeit der Frau Prof. Dr. D. begründe. Der Hinweis der Klägerin auf ein in einem anderen
Rechtsstreit erstattetes ungünstiges Gutachten rechtfertige nicht die Annahme von Misstrauen. Es bestehe kein
Anlass, dass die Sachverständige im Fall der Klägerin den ursächlichen Zusammenhang und die Schätzung der MdE
nicht eigenständig abgeben werde. Zweifel an ihrer Qualifikation begründeten ebenfalls keine Besorgnis der
Befangenheit. Denn die Behauptung der Fehlerhaftigkeit eines Gutachtens sei für sich allein ebensowenig ein
Ablehnungsgrund wie der Vorwurf mangelnder Qualifikation.
Dieser Beschluss ist der Klägerin am 24. Dezember 2001 durch Niederlegung zugestellt worden. Am 7. Februar 2002
hat diese zu Protokoll der Urkundsbeamtin des SG Osnabrück erklärt, sie lehne eine Begutachtung durch die
Sachverständige Frau Prof. Dr. D. ab. Zur Begründung hat sie ausgeführt: "Die Sachverständige ist m.E. nicht
unparteiisch. Es bestehen enge, geschäftliche Beziehungen zu Berufsgenossenschaften. Außerdem liegt eine nähere
Bekanntschaft auf gesellschaftlicher Ebene sowie persönliche Kontakte vor. Ich bitte, diesem Befangenheitsantrag
stattzugeben und einen anderen SV zu beauftragen. Es hat m.E. auch keinen Sinn, mich von einem Gutachter
begutachten zu lassen, den ich nicht will und zu dem ich kein Vertrauen habe.”
Nachdem ihr der Beschluss des SG vom 21. Dezember 2001 erneut am 20. März 2002 zugestellt worden ist, hat die
Klägerin am 2. April 2002 Beschwerde eingelegt. Sie hat sich zur Begründung auf ihr bisheriges Vorbringen bezogen
und zusätzlich ausgeführt: Im April/Mai des Jahres 2001 sei die Sachverständige im Auftrag des Hauptverbandes der
gewerblichen Berufsgenossenschaften "auf dem Kongress A + S in Düsseldorf” tätig gewesen. Für diese Tätigkeit sei
von der BG Honorar gezahlt worden (Schriftsatz vom 3. April 2002).
Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Der Vorsitzende des Senats hat die Klägerin mit prozessleitender Verfügung vom 2. Mai 2002 darauf hingewiesen,
dass die Beschwerde verspätet eingelegt worden ist. Die Klägerin hat sich dahingehend geäußert, dass sie von dem
am 24. Dezember 2001 zugestellten Beschluss keine Kenntnis gehabt habe (vgl. im Einzelnen ihren Schriftsatz vom
8. Mai 2002).
II.
Die Beschwerde der Klägerin ist schon deshalb erfolglos, weil sie nicht innerhalb der gesetzlichen Monatsfrist (§ 173
Sozialgerichtsgesetz – SGG -) und damit verspätet eingelegt worden ist. Der angefochtene Beschluss ist am 24.
Dezember 2001 im Wege der Ersatzzustellung durch Niederlegung wirksam zugestellt worden. Die Beschwerde der
Klägerin ist jedoch erst am 2. April 2002 eingelegt worden. Nach § 67 SGG ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
zu gewähren, wenn jemand ohne sein Verschulden an der Einhaltung von Verfahrensfristen verhindert war. Auch unter
Berücksichtigung der Angaben, die die Klägerin telefonisch gegenüber dem Vorsitzenden des Senats gemacht hat
(vgl. den Vermerk vom 17. Mai 2002: Gemeinsamer Briefschlitz im Vier-Familienhaus) ist eine – wenn auch
geringfügige – Nachlässigkeit nicht zu verkennen. Denn entweder hat die Klägerin die Benachrichtigungsmitteilung
übersehen oder nicht dafür gesorgt, dass diese aus den der Hausgemeinschaft gemeinsam zugestellten
Postsendungen ausgesondert und ihr übermittelt wurde (vgl. OLG München, MDR 1994 S. 410 mit weiteren Nachw.).
Aber auch wenn man zu Gunsten der Klägerin davon ausgeht, dass ihr wegen der Versäumung der Beschwerdefrist
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einzuräumen ist, hat die Beschwerde keinen Erfolg. Denn das
Ablehnungsgesuch ist nicht begründet. Eine Sachverständige kann aus denselben Gründen, die zur Ablehnung eines
Richters berechtigen, abgelehnt werden (§§ 118 Abs. 1 SGG iVm § 406 Abs. 1 ZPO). Nach § 60 Abs. 1 SGG iVm §
42 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) findet die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund
vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Es muss sich um
einen vernünftigen Grund handeln, der den Antragsteller von seinem Standpunkt aus befürchten lassen kann, dass
der Richter nicht unparteiisch und sachlich entscheiden werde. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht
erfüllt.
Die im Übrigen nicht konkretisierte und fernliegende Annahme der Klägerin, Frau Prof. Dr. D. sei fachlich unqualifiziert
und deshalb voreingenommen, ist nicht rechtserheblich. Denn die fachliche Qualifikation betrifft den Beweiswert des
Gutachtens und hat nichts mit der Befürchtung zu tun, ein Sachverständiger sei im konkreten Fall gegenüber einem
Verfahrensbeteiligten voreingenommen. Diesen unbestrittenen Grundsatz hat das SG bereits zutreffend unter Hinweis
auf andere Gerichtsentscheidungen herausgestellt. Nichts anderes gilt für den Hinweis, die Sachverständige sei eine
Schülerin von Prof. Dr. E ...
Zu einer anderen Beurteilung führt schließlich auch nicht die – vom Senat als zutreffend unterstellte – Behauptung,
Frau Prof. Dr. D. unterhalte geschäftliche Kontakte zu Berufsgenossenschaften, weil sie im April/Mai 2001 für den
Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften auf einem Kongress gegen Honorar tätig gewesen sei. Die
Tatsache, dass medizinische Sachverständige an Tagungen (Kongressen) öffentlicher oder privater Institutionen als
Referenten teilnehmen und sich an Diskussionen beteiligen, lässt bei vernünftiger Betrachtung nicht den Schluss zu,
dass sie ihre fachliche Beurteilung einseitig und unkritisch an den Interessen der jeweiligen Institution ausrichten.
Eine andere Einschätzung würde zu der unsinnigen Konsequenz führen, dass objektive Beurteilungen durch
Sachverständige unmöglich sind, weil diese in einer pluralistischen Gesellschaft regelmäßig Kontakte zu bestimmten
öffentlichen und privaten Institutionen unterhalten. Diese liegen im Übrigen im Interesse einer ergiebigen und auch
durch kontroverse Auffassungen gekennzeichneten wissenschaftlichen Diskussion.
Es kann im vorliegenden Fall offen bleiben, ob und unter welchen Umständen die wirtschaftliche Abhängigkeit eines
Sachverständigen im konkreten Fall Zweifel an dessen Unvoreingenommenheit begründet (verneinend im Hinblick auf
die Tätigkeit eines Sachverständigen für einen Haftpflichtversicherer OLG Köln, Versicherungsrecht – VersR - 1992 S.
849). Denn die Sachverständige Frau Prof. Dr. D. ist weder vom Hauptverband der gewerblichen
Berufsgenossenschaften noch von einzelnen Berufsgenossenschaften wirtschaftlich abhängig. Daran ändert auch der
Hinweis der Klägerin im Schriftsatz vom 31. Mai 2002 auf die Unterstützung der Abteilung Arbeitsmedizin der MHH
ua. durch Berufsgenossenschaften nichts.
Dieser Beschluss kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (§ 177 SGG).