Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 04.02.2013

LSG Niedersachsen: krankenversicherung, gerät, sachleistung, behinderung, vorverfahren, krankenkasse, meinung, beiladung, erlass, anpassung

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1. Die Versorgungsanzeige des Hörgeräteakustikers an die
Krankenversicherung ist als umfassender Antrag des Versicherten zu werten,
der sich nicht nur auf die Versorgungspauschale bezieht, sondern auch auf
den darüber hinausgehenden Eigenanteil. Die Krankenversicherung wird
durch diesen Antrag erstangegangener Leistungsträger
2. Der erstangegangene Leistungsträger bleibt auch nach Erlass eines
(eventuell rechtswidrigen) Verwaltungsaktes zuständig für die
Hörgeräteversorgung des Versicherten, sowohl hinsichtlich der
Versorgungspauschale, als auch hinsichtlich des darüber hinausgehenden
Festbetrages.
3. Der erstangegangene Leistungsträger kann nach notwendig erfolgter
Beiladung gem. § 75 Abs 5 SGG verurteilt werden. Ihr früher ergangener
teilablehnender Bescheid steht dem nicht entgegen.
4. Inhaltliche Bescheide des zweitangegangenen Leistungsträgers, sind
aufzuheben, da dieser sachlich unzuständig war.
5. Das Auswahlermessen der Krankenversicherung zwischen mehreren
gleich geeigneten Hörgeräten, reduziert sich auf Null, wenn der Versicherte
seinen Mitwirkungspflichten ausreichend nachgekommen ist (hier durch
Austestung von zehn Hörgeräten, darunter auch eigenanteilsfreie). Möchte
die Krankenversicherung verhindern, dass der Kläger sich auf das am besten
getestete Gerät festlegt, muss sie konkrete eigenanteilsfreie
Versorgungsalternativen aufzeigen. Sie muss insbesondere ein bestimmtes,
ihrer Meinung nach geeignetes Gerät und einen Hörgeräteakustiker
benennen, der bereit ist, dieses Gerät eigenanteilsfrei anzupassen.
SG Oldenburg (Oldenburg) 81. Kammer, Urteil vom 04.02.2013, S 81 R 290/11
§ 33 SGB 5, § 75 SGG, § 14 SGB 10
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 17.11.2010 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 03.05.2011 wird aufgehoben.
2. Der Bescheid der Beigeladenen zu 1) vom 29.09.2010 wird geändert.
3. Die Beigeladene zu 1) wird verurteilt, den Kläger mit den Hörgeräten Oticon
agil Pro BTE 13 zu versorgen.
4. Die Beigeladene zu 1) trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der
anderen Beteiligten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Kostenübernahme für die beidseitige
Hörgeräteversorgung mit den Geräten Oticon agil Pro BTE 13.
Der am F..1958 geborene Kläger ist bei der Beklagten rentenversichert und bei
der Beigeladenen zu 1) krankenversichert. Er leidet unter einer hochgradigen
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Innenohrschwerhörigkeit beidseits. Der Kläger erhielt aufgrund
Hörverschlechterung von seinem Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. G. am 09.09.2010
eine Verordnung über eine neue beidseitige Hörgeräteversorgung. Mit dieser
Verordnung wandte sich der Kläger an den Hörgeräteakustiker H., der eine
Anpassung mit Hörgeräten durchführte.
Der Akustiker übersandte der Beigeladenen zu 1) am 28.09.2010 eine
Versorgungsanzeige, woraufhin diese mit Bescheid vom 29.09.2010 die
entstehenden Kosten in Höhe des Vertragspreises von 1.192,80 € übernahm.
Der Kläger legte gegen diesen Bescheid am 05.10.2011 Widerspruch ein und
trug vor, der Antrag auf Hörgeräteversorgung sei damals auch auf den
überschießenden Betrag über den Vertragspreis hinaus gerichtet gewesen. Ein
Widerspruchsbescheid ist bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht
ergangen.
Der Kläger beantragte am 11.10.2010 bei der Beklagten die Übernahme der
über die Versorgungspauschale hinausgehenden Kosten. Er reichte einen
Kostenvoranschlag des Akustikers H. über einen Eigenanteil von 3.557,00 € ein.
Zudem legte er eine Bescheinigung seines Arbeitgebers vor, wonach er als
Physiotherapeut Gruppenstunden in Form von Bewegungsbädern und
Gymnastik in gefliesten Räumen mit Wasserrauschen abhalten müsse und es
zudem auch erforderlich sei, dass er telefonieren könne.
Mit Bescheid vom 17.11.2010 lehnte die Beklagte den Antrag ab, da kein
berufsspezifischer Mehrbedarf vorliege. Der Kläger benötige bereits im Alltag
höherwertige Hörgeräte.
Mit seinem Widerspruch trug der Kläger vor, Gespräche seien während seiner
Arbeit unerlässlich, es gebe Nebengeräusche und er müsse sich in gekachelten
Räumen verständigen können. Er könne nicht im erforderlichen Umfang
mit Patienten kommunizieren und werde seinen beruflichen Anforderungen
daher nicht gerecht. Der Kläger reichte eine Stellungnahme seines Hals-Nasen-
Ohrenarzt Dr. G. ein, wonach die Hörgeräte auch aufgrund der beruflichen
Situation notwendig seien.
Mit Widerspruchsbescheid vom 03.05.2011 wies die Beklagte den Widerspruch
zurück. Sie führte aus, die Krankenkasse sei zuständig, da der Kläger unter
einer hochgradigen Schwerhörigkeit leide, die bereits im Alltagsgebrauch
höherwertige Hörgeräte erforderte. Zweier- und Gruppengespräche sowie
Telefonate auch bei Störgeräusch würden zu den Grundbedürfnissen des
täglichen Lebens gehören. Die Versorgung sei daher nicht ausschließlich und
unmittelbar aus beruflichen Gründen notwendig.
Der Kläger hat am 24.05.2011 Klage erhoben.
Das Gericht hat sodann die Beigeladene zu 1) als in Betracht kommender
Kostenträger notwendig beigeladen. Nachdem diese sich an den
Hörgeräteakustiker H. gewandt hatte und die Anpassung dort für nicht
vertragskonform hielt und den Kläger bat, er möge sich erneut mit dem Akustiker
in Verbindung setzen, erprobte der Kläger neue Hörgeräte, diesmal bei dem
Akustiker I., der Beigeladenen zu 2). Der Kläger testete bei diesem Akustiker
folgende Hörgeräte aus:
Gerät
Hörverstehen im Störgeräusch (65 dB)
Oticon Co ProVC (eigenanteilsfrei) 70 %
15 %
Phonak Milo micro (eigenanteilsfrei) 65 %
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Oticon agil PRO BTE 13
80 %
40 %
Oticon ACTO PRO 13
75 %
20 %
Audio service mood 8
75 %
10 %
Phonak Dalia M H20
75 %
20 %
Der Kläger beantragt,
1. den Bescheid der Beklagten vom 17.11.2010 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 03.05.2011 aufzuheben,
2. den Bescheid der Beigeladenen zu 1) vom 29.09.2010 aufzuheben und
3. die Beigeladene zu 1) zu verurteilen, den Kläger mit den Geräten Oticon
agil Pro BTE 13 zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beigeladene zu 1) beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie führt aus, eine Differenz im Sprachverstehen von 5% bis 10% liege im
Bereich der Messtoleranz und biete keinen erheblichen Gebrauchsvorteil. Die
Beigeladene zu 1) sei daher mit den angebotenen aufzahlungsfreien Hörgeräten
ihren Verpflichtungen gegenüber dem Kläger nachgekommen.
Die Beigeladene zu 2) stellte keinen Klageantrag.
Das Gericht hat die Beigeladene zu 1) notwendig beigeladen, weil eine
Entscheidung ihr gegenüber nur einheitlich ergehen konnte. Das Gericht hat die
Beigeladene zu 2) einfach beigeladen, weil ihre Interessen durch die
Entscheidung in diesem Rechtstreit berührt werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Der Kläger hat einen
Anspruch auf Kostenübernahme für die aufgrund der durchgeführten Testungen
am besten geeigneten Geräte Oticon agil Pro BTE 13.
1. Der Anspruch des Klägers ergibt sich aus § 33 Sozialgesetzbuch Fünftes
Buch (SGB V). Versicherte haben nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf
Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen
Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der
Krankenbehandlung zu sichern (1. Alternative), einer drohenden Behinderung
vorzubeugen (2. Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (3.
Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände
des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V
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ausgeschlossen sind.
Wie in allen anderen Leistungsbereichen der gesetzlichen Krankenversicherung
müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und
wirtschaftlich sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.
Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte
nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die
Krankenkasse nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V; s. stellvertretend BSG, Urteil
vom 16. September 2004 - B 3 KR 19/03 R).
Ein Anspruch auf die begehrte Versorgung besteht nach § 33 Abs. 1 Satz 1
Alternative 3 SGB V, denn die begehrten Hilfsmittel Oticon agil PRO BTE 13 sind
erforderlich, um das Gebot eines möglichst weitgehenden
Behinderungsausgleichs zu erfüllen. Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen
Krankenversicherung immer dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der
Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein
Grundbedürfnis betrifft. Nach der ständigen Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts gehören zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens
das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen,
Ausscheiden, die elementare Körperpflege, selbstständiges Wohnen sowie das
Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (s. z.B. BSG
a.a.O. unter Hinweis auf BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 3, dort m.w.N.).
Der Kläger kann, gemessen an diesen Maßstäben, zum Ausgleich der bei ihm
bestehenden Hörbehinderung als Leistung der gesetzlichen
Krankenversicherung die Versorgung mit den streitgegenständlichen
Hörgeräten beanspruchen.
Der grundsätzliche Bedarf neuer Hörgeräte ist zwischen den Beteiligten nicht
streitig. Streitig ist lediglich, ob ein Anspruch auf Versorgung mit genau diesen
Geräten besteht. Dies ist vorliegend der Fall. Versicherte haben Anspruch auf
die Hörgeräteversorgung, die die nach dem Stand der Medizintechnik
bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlaubt, da der
unmittelbare Behinderungsausgleich betroffen ist. Es gilt das Gebot eines
möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter
Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen
Fortschritts (BSG, Urt. vom 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R).
Das begehrte Gerät ermöglicht nach den Messergebnissen ein gegenüber den
anderen Geräten deutlich höheres Sprachverständnis von 80 % im
Einsilbenverstehen und 40 % im Störgeräusch. Das nächst beste Gerät Oticon
acto Pro BTE 13 erreicht im Einsilbenverstehen mit 75 % mäßig abweichende
Werte, im Störgeräusch jedoch deutlich abweichende Werte von nur 20 %. Das
Hören mit Umgebungsgeräuschen gehört zu den Grundbedürfnissen, da es in
normalen Alltagssituationen erforderlich ist, etwa im Straßenverkehr, in einer
Unterhaltung in der Gruppe mehrerer Menschen oder beim Einkaufen mit
Hintergrundmusik und Hintergrundgesprächen anderer Menschen. Das Hören
im Störgeräusch ist daher im Rahmen der Hilfsmittelversorgung durch die
Krankenversicherung zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urt. v. 17.12.2009 - B 3 KR
20/08 R, zitiert nach Juris).
Die Versorgung mit den Geräten Oticon agil PRO BTE 13 bietet daher im Falle
des Klägers von allen getesteten Geräten die bestmögliche Angleichung an das
Hörvermögen Gesunder und auch im Alltag einen erheblichen Gebrauchsvorteil
gegenüber anderen Hörhilfen.
2. Zwar besteht im Rahmen der Erfüllung von Sachleistungsansprüchen
grundsätzlich ein Auswahlermessen der Beklagten zwischen mehreren
gleichgeeigneten Leistungen, dieses wurde jedoch nicht ausgeübt und hat sich
daher auf Null reduziert. Denn der Kläger ist seinen Mitwirkungspflichten
ausreichend nachgekommen. Er hat insgesamt zehn Geräte ausgetestet. Da die
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Beigeladene zu 1) dem Kläger keine konkrete zuzahlungsfreie
Versorgungsalternative aufgezeigt hat, muss sie die vollen Kosten für die
Hilfsmittelversorgung übernehmen, die aufgrund der erfolgten Erprobung die
besten Hörergebnisse erzielt hat.
Denn die Beigeladene zu 1 verstößt gegen ihre Sachleistungspflicht und auch
gegen ihre Obhuts- und Beratungspflichten, wenn Sie dem Versicherten eine
beantragte Versorgung verwehrt, auf die unstreitig grundsätzlich ein Anspruch
besteht, ohne eine Möglichkeit der zuzahlungsfreien Versorgung aufzuzeigen.
(vgl. auch SG Oldenburg, Beschl. v. 21.03.2012 - S 61 KR 6/12 ER, zitiert nach
Juris) Die Beigeladene zu 1) hätte dem Kläger, um eine über die bereits
erfolgten Mitwirkungshandlungen des Klägers hinausgehende Mitwirkungspflicht
zur Erprobung weiterer Geräte, ggf. bei einem anderen Akustiker, begründen zu
können, konkrete eigenanteilsfreie Versorgungsalternativen aufzeigen müssen.
Sie hätte insbesondere ein bestimmtes, ihrer Meinung nach geeignetes Gerät
und einen Hörgeräteakustiker benennen müssen, der bereit ist, dieses Gerät
eigenanteilsfrei anzupassen.
Gesteigerte Obhuts- und Informationspflichten bestehen insbesondere, wenn
bei anpassungsbedürftigen Hilfsmitteln der notwendige Überblick über die
Marktlage und geeignete Angebote auch bei zumutbarer Anstrengung für
Versicherte schwierig zu erlangen sind. Dies ist bei der Versorgung von
Hörgeräten in besonderer Weise der Fall. Die Krankenversicherung trägt im
Rahmen der Sachleistung die Verantwortung für die Leistungsverschaffung (vgl.
BSG, Urt. v. 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R, Rn. 36, zitiert nach Juris). Hat der
Versicherte das ihm zumutbare getan, um die notwendige Leistung möglichst
kostengünstig zu erlangen, hat er insbesondere mehrere Hörgeräte getestet,
darunter auch solche zu Vertragspreisen, erfüllt der Versicherte regelmäßig
seine Mitwirkungspflichten (vgl. auch LSG Sachsen, Urt. v. 07.02.2012 - L 5 R
488/11). So lag der Fall hier. Der Kläger hatte keinen Anlass, weitere Geräte zu
erproben, er durfte sich in seinem Klageantrag auf ein Gerät festlegen. Möchte
die Krankenversicherung verhindern, dass der Kläger sich auf das am besten
getestete Gerät festlegt, muss sie konkrete eigenanteilsfreie
Versorgungsalternativen aufzeigen.
Etwaige Festbetragsregelungen oder vertraglich vereinbarte Pauschalpreise
entheben die Krankenkassen nicht von ihrer Pflicht, im Rahmen der
Sachleistungsverantwortung für die ausreichende Versorgung der Versicherten
Sorge zu tragen. Das System der gesetzlichen Krankenversicherung ist vom
Prinzip der Naturalleistung geprägt. Die Sachleistung ist ein grundsätzliches
Strukturprinzip. (BSG v. 07.08.1991 - 1 RR 7/88; BSG v. 14.03.2001 -
B 6 KA 67/00 R, zitiert nach Juris) Diese Verschaffungspflicht gewährleistet,
dass der Versicherte eine notwendige Leistung der Krankenpflege erhält, ohne
sie sich selbst erst beschaffen zu müssen und insbesondere ohne bei ihrer
Inanspruchnahme für Kosten aufkommen zu müssen. Der Kläger ist seinen
Mitwirkungspflichten ausreichend nachgekommen, indem er verschiedene
Hörgeräte ausgetestet hat und auch der späteren Bitte nachgekommen ist,
weitere Geräte zu erproben. Das Risiko, dass der Hörgeräteakustiker (evtl.
entgegen dem BIHA-Vertrag) keine geeigneten zuzahlungsfreien Geräte
anbietet, trägt in letzter Konsequenz die Krankenversicherung. Denn sie ist zur
Sachleistung verpflichtet und muss dem Grunde nach für eine ausreichende
medizinische Versorgung ihrer Versicherten sorgen. (vgl. SG Oldenburg, Urt. v.
04.07.2012 - S 61 KR 221/10, zitiert nach Juris)
Im Zuge dessen obliegt es der jeweiligen Krankenversicherung auch, ihre
Vertragspartner (in diesem Fall die Hörgeräteakustiker als Hilfsmittelerbringer) zu
einem vertragskonformen Verhalten zu bewegen. Zu berücksichtigen ist dabei,
dass der Hörgeräteakustiker als Hilfsmittellieferant im Lager der Beigeladenen
zu 1) steht und diese sich sein Fehlverhalten im Verhältnis zum Versicherten
daher grundsätzlich zurechnen lassen muss. (vgl. auch SG Oldenburg, Beschl.
v. 21.03.2012 - S 61 KR 6/12 ER) Der Hörgeräteakustiker ist nicht
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Vertragspartner der einzelnen Versicherten, sondern der
Krankenversicherungen (durch den BIHA-Vertrag). Nur letztere haben die
vertraglich eingeräumten Druckmöglichkeiten durch Verhängung einer
Vertragsstrafe, Regressmöglichkeiten oder das Geltend machen von
Schadensersatzansprüchen. Das Risiko von Vertragsverletzungen können die
Krankenkassen nicht auf die Versicherten abwälzen (vgl. Sozialgericht
Oldenburg, Urt. v. 04.07.2010 - S 61 KR 221/10, zitiert nach Juris). Sollte die
Beigeladene der Auffassung sein, der Akustiker habe seine Verpflichtungen aus
dem BiHA-Vertrag nicht erfüllt, da er nicht das bestgeeignete Gerät zum
Vertragspreis abgegeben habe, so wäre dieser Streit über die Auslegung des
BiHA-Vertrages in einem separaten Verfahren zwischen der Beigeladenen zu 1)
und dem Hörgeräteakustiker zu klären.
3. Das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V steht der Leistungspflicht
der Beklagten nicht entgegen. Denn auch eine kostenaufwendige Versorgung
ist von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst,
wenn durch sie eine Verbesserung bedingt ist, die einen wesentlichen
Gebrauchsvorteil gegenüber kostengünstigeren Geräten bietet (vgl. BSG, Urt. v.
17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R, Rn. 21, zitiert nach Juris). Dies war hier der Fall,
da die begehrten Geräte insbesondere im Störschall gegenüber den anderen
getesteten Geräten deutlich bessere Messwerte ermöglichten.
4. Ein berufsspezifischer Mehrbedarf lag nicht vor. Der Kläger hatte nicht nur im
Rahmen seines Berufs, sondern bereits im Rahmen der Grundversorgung des
Krankenversicherungsrechts Anspruch auf Verschaffung der besten Geräte. Ein
berufsbedingter Mehrbedarf ergibt sich darüber hinaus nicht. Die Versorgung
liegt hier im materiellen Zuständigkeitsbereich der gesetzlichen
Krankenversicherung, weil die Hörhilfen notwendig zur Verwirklichung
elementarer Grundbedürfnisse des täglichen Lebens sind. Sie gewährleisten
durch das bessere Hören im Störgeräusch eine einfachere Teilnahme am
Straßenverkehr und in sonstigen allgemeinen Hörsituationen mit gewissem
Störschall, wie in Unterhaltungen mit mehreren Personen, im Umgang mit
Kindern oder in beim Einkaufen mit laufender Hintergrundmusik.
Der Kläger kann mit den jetzt begehrten Hörgeräten nicht ausschließlich im
Beruf, sondern auch im privaten Bereich am besten hören, so dass die
Versorgung in die Leistungspflicht nach Krankenkassenrecht fällt. Dies ist
angesichts der Messergebnisse schlüssig. Die Hörgeräte, die der Akustiker
eigenanteilsfrei angeboten hat, erfüllten hingegen nicht die für den Kläger
notwendigen Anforderungen an die bestmögliche Hörgeräteversorgung, da sie
erheblich schlechtere Messergebnisse aufwiesen. Deshalb stellen sie keine
ausreichende Versorgung im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB V für die bei dem
Kläger bestehende Hörbehinderung dar.
5. Die Beigeladene zu 1) war als erstangegangener Leistungsträger direkt zu
verurteilen. Denn die Versorgungsanzeige des Akustikers H. bei der
Beigeladenen zu 1) ist als umfassender Antrag des Versicherten zu werten, der
sich nicht nur auf die Versorgungspauschale bezieht, sondern auch auf den
darüber hinausgehenden Eigenanteil. (SG Oldenburg, Urt. v. 04.07.2012 - S 81
R 84/11).
Die Verurteilungsmöglichkeit des Beigeladenen nach § 75 Abs. 5
Sozialgerichtsgesetz (SGG) entspricht dem Charakter der Beiladung nach Abs.
2 zweite Alternative, mit der im Grunde eine Klageerweiterung oder
Klageänderung vorgenommen wird (vgl. BSGE 14, 86, 89). Die Verurteilung des
Beigeladenen nach § 75 Abs. 5 setzt - jedenfalls soweit es um die Verurteilung
zu einer Leistung geht - ein Vorverfahren nicht voraus (vgl. BSG, Urt. v. 30. 06.
2009, B 2 U 19/08 R; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 07.10.2009 - L 18 AS
2221/07, zitiert nach Juris). Hat der Beigeladene den Anspruch bereits durch
bindenden VA abgelehnt, kann er zwar grundsätzlich nicht verurteilt werden
(BSG SozR 1500 § 75 Nr. 38; LSG Nds SozVers 83, 303). Jedoch ist es
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entsprechend dem Schutzzweck des SGB IX erforderlich, diese
Rechtsprechung nicht auf Fälle der Geltendmachung von
Rehabilitationsleistungen zu übertragen (vgl. hierzu auch BSG vom 21.8.2008 -
B 13 R 33/07 R; BSG Urt. v. 29.09.2009 - B 8 SO 19/08 R, zitiert nach Juris). Um
entsprechend § 14 SGB IX einen effektiven Rechtsschutz des behinderten
Menschen zu gewährleisten, war bezüglich des Bescheides der Beigeladenen
zu 1) vom 29.09.2010 daher kein abgeschlossenes Vorverfahren erforderlich.
6. Die Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und waren daher aufzuheben.
Die Zuständigkeit eines Rehabilitationsträgers schließt im Außenverhältnis zum
Versicherten diejenige aller anderen Träger aus (BSG Urt. v. 20.10.2009 - B 5 R
5/07 R; LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.09.2011 - L 4 R 56/10, zitiert nach Juris).
Wie bereits dargelegt blieb die Zuständigkeit der Beigeladenen zu 1) auch nach
Abschluss des bei ihr anhängigen Verwaltungsverfahrens durch Erlass eines
Bescheides bestehen. Die Beklagte konnte also keine Entscheidungsbefugnis
bezüglich des später bei ihr gestellten Antrages erlangen. Die Bescheide sind
rechtswidrig wegen sachlicher Unzuständigkeit und daher aufzuheben. (vgl.
BSG Urt. v. 20.10.2009 - B 5 R 5/07 R ; LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.09.2011
- L 4 R 56/10; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 25.11.2010 - L 31 R 37/10 zitiert
nach Juris)
6. Nach alledem hat die Klage Erfolg. Die Beigeladene zu 1) ist im Wege der
Sachleistung verpflichtet, dem Kläger das begehrte Hilfsmittel mit Ausnahme der
gesetzlichen Zuzahlung zu verschaffen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz und entspricht
dem Ausgang des Verfahrens.