Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 08.11.2007

LSG Nsb: medizinische rehabilitation, geschäftsführung ohne auftrag, vernehmung von zeugen, jugendhilfe, krankenkasse, konkludentes verhalten, sachleistung, dokumentation, leistungserbringer

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 08.11.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 16 KR 42/01
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 1 KR 200/05
Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine weiteren Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Übernahme der Kosten für seinen Aufenthalt in einer Einrichtung des Jugendhilfe e.V. I. in J.
für die Zeit vom 20. Juni 2000 bis zum 19. Februar 2001.
Der 1957 geborene Kläger war drogenkrank. Im Februar 2000 beantragte er wegen dieser Erkrankung eine stationäre
Rehabilitationsmaßnahme. Die Beklagte holte eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen
(MDK) ein, worin eine Übernahme der Kosten für zunächst 6 Monate empfohlen wurde. Mit Bescheid vom 6. April
2000 übernahm die Beklagte zunächst die Kosten für einen zweimonatigen Aufenthalt in der Therapeutischen
Gemeinschaft J. des Jugendhilfe e.V. I ... Der Kläger wurde dort am 19. April 2000 aufgenommen. Am 9. Juni 2000
stelle die Einrichtung einen Verlängerungsantrag bis zum 19. Februar 2001. Nach einer negativen Stellungnahme des
MDK lehnte die Beklagte den Verlängerungsantrag mit Bescheid vom 18. Juli 2000 ab. Sie begründete die Ablehnung
damit, dass nunmehr psychosoziale Komponenten im Vordergrund stünden und daher nicht sie, sondern ggf. der
Sozialhilfeträger zuständig sei. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid
vom 18. Januar 2001 zurück.
Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Klage erhoben und geltend gemacht, die Voraussetzungen für eine
Übernahme der Kosten durch die Beklagte hätten bis zum 19. Februar 2001 insgesamt vorgelegen.
Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat zur Klärung der Frage, inwieweit eine medizinisch notwendige Rehabilitation
stattgefunden habe, das Gutachten des Sachverständigen Dr. K. vom 29. November 2004 eingeholt. Der
Sachverständige ist darin zu dem Ergebnis gekommen, dass sich eine medizinische Rehabilitation nur für maximal 4
Monate nachweisen lasse.
Mit Urteil vom 19. Mai 2005 hat das SG daraufhin den angefochtenen Bescheid abgeändert und die Beklagte
verurteilt, auch für die Zeit vom 20. Juni 2000 bis zum 20. August 2000 die Kosten für eine medizinische
Rehabilitation in der Einrichtung J. zu erbringen. Die darüber hinausgehende Klage hat es abgewiesen. Das SG hat
sich dabei auf das Sachverständigengutachten von Dr. K. gestützt. Es ist diesem dahingehend gefolgt, dass sich aus
der vorliegenden Dokumentation der Einrichtung J. über den Zeitraum von maximal 4 Monaten hinaus nicht
entnehmen lasse, auch danach habe noch eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme stattgefunden. Dies könne
nur durch eine schriftliche Dokumentation nachgewiesen werden, die zeitnah erstellt worden sein müsse. Diese
müsse die tatsächlich erbrachten medizinischen Leistungen ausweisen. Soweit der Kläger nunmehr die Vernehmung
von Zeugen angeboten habe, um die entscheidungsrelevanten Tatsachen zu bekunden, sei die Kammer dem nicht
gefolgt, weil eine Dokumentation aus der Erinnerung heraus nicht nachgearbeitet werden könne. Wegen der übrigen
Einzelheiten der Begründung wird Bezug genommen auf das angefochtene Urteil.
Gegen dieses ihm am 17. Juni 2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 18. Juli 2005 Berufung eingelegt. Er vertritt
die Auffassung, dass über das angefochtene Urteil hinaus auch ein Anspruch des Klägers auf Übernahme der Kosten
bis zum 19. Februar 2001 bestehe. Das Gericht habe zu Unrecht von der Anhörung der Zeugen abgesehen. Der
Rechtsstreit habe nicht allein aufgrund der angeblich zu fordernden Dokumentationsverpflichtung der behandelnden
Therapeuten entschieden werden dürfen. Eine solche Dokumentation sei in der Vergangenheit weder von der
Beklagten, der LVA Hannover, den Krankenkassen oder von Sozialhilfeträgern gefordert worden. Es bestehe auch
keine Dokumentationsverpflichtung aufgrund der beruflichen Qualifikation der benannten Zeugen. In dem
Psychotherapeutengesetz sei eine Dokumentationsverpflichtung erst zu einem späteren Zeitpunkt eingeführt worden.
Die Einrichtung J. sei eine Einrichtung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), die unter "weicheren
Kriterien" arbeite, insbesondere nicht gehalten oder verpflichtet sei, engmaschige Therapiemaßnahmen zu
dokumentieren. Insgesamt sei das Gutachten nicht geeignet, das Urteil zu stützen und es sei erforderlich, im Rahmen
einer ordnungsgemäßen Beweiserhebung ein weiteres Gutachten einzuholen. Der Kläger sehe sich für den streitigen
Zeitraum durch das Schreiben vom 31. Dezember 2000 zudem Forderungen des Jugendhilfe e.V. ausgesetzt.
Nach seinem schriftlichen Vorbringen beantragt der Kläger,
1. das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 19. Mai 2005 abzuändern, soweit die Klage abgewiesen wurde, 2. den
Bescheid der Beklagten vom 18. Juli 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Januar 2001
abzuändern, 3. die Beklagte zu verurteilen, auch für die Zeit vom 21. August 2000 bis zum 19. Februar 2001 die
Kosten der medizinischen Rehabilitation des Klägers in der Therapeutischen Einrichtung J. zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf das angefochtene Urteil.
Die Beigeladene beantragt ebenfalls schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie weist zusätzlich darauf hin, die angefochtene Entscheidung belaste den Kläger selbst nicht. Zudem sei eine
umfassende Dokumentation Voraussetzung für die Gewährleistung qualitätssichernder Maßnahmen, dem
Leistungsnachweis gegenüber Dritten, d.h. Kostenträgern, anderen Einrichtungen und dem Klienten. Auch frage sich,
wie ohne Dokumentation Hilfepläne überprüft werden und Übergaben sinnvoll erfolgen könnten.
Nachdem der Senat zuständig geworden ist, hat er die Beteiligten darauf hingewiesen, dass die Berufung seiner
Auffassung nach keine Aussicht auf Erfolg habe. Das SG habe in dem angefochtenen Urteil überzeugend dargelegt,
dass für den hier streitigen Zeitraum nicht nachgewiesen werden könne, dass eine Rehabilitation medizinisch
notwendig gewesen sei. Auch sei der Senat der Auffassung, dass die Aussage von behandelnden Personen im
Nachhinein eine fehlende Dokumentation nicht zu ersetzen vermöge und daher kein geeignetes Beweismittel für den
Anspruch auf die geltend gemachte Vergütung sei. Der Senat hat zudem darauf hingewiesen, dass erhebliche Zweifel
an dem Rechtsschutzinteresse des Klägers bestünden, da nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH)
kein Anspruch eines Leistungserbringers gegenüber einem gesetzlich Krankenversicherten bestehe, Kosten für eine
Leistung zu fordern, die grundsätzlich eine Sachleistung sei.
Die Beteiligten haben sich auf Anfrage des Senats mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
Wegen der übrigen Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die
Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der Beklagten, die bei der Entscheidung vorgelegen haben.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die Berufung ist zulässig, weil der Kläger, ungeachtet der Frage eines Rechtsschutzbedürfnisses, durch das
angefochtene Urteil formal beschwert ist. Sie ist jedoch nicht begründet.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats zu Kostenerstattungs- bzw. Freistellungsansprüchen (vgl. zuletzt
Urteile vom 27. September 2007 in den Verfahren L 1 KR 34/07 und L 1 KR 201/07) hat der Kläger keinen Anspruch
gegen die Beklagte auf Freistellung von der Forderung des Jugendhilfe e.V.
Ein Anspruch auf Freistellung ergibt sich nicht aus § 13 Abs. 3 SGB V. Dieser bestimmt: Konnte die Krankenkasse
eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind
dadurch dem Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in
der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.
Diese Vorschrift ist jedoch dann nicht als Rechtsgrundlage heranzuziehen, wenn der Versicherte keine
Kostenerstattung begehrt, sondern die Freistellung von einer Forderung für eine selbst beschaffte Leistung. Diese
Vorschrift gibt einen Kostenerstattungsanspruch für den Fall, dass der Versicherte wegen eines Systemversagens
gezwungen ist, sich eine Behandlung, die ihm die Krankenkasse an sich als Sachleistung schuldet, außerhalb des für
Sachleistungen vorgesehenen Weges selbst zu beschaffen. Die Vorschrift ist somit auf Fälle zugeschnitten, in denen
der Anspruchsteller sich bewusst außerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung behandeln lässt,
indem er einen nicht zugelassene Leistungserbringer aufsucht oder mit einem zugelassenen Leistungserbringer eine
abweichende privatrechtliche Vereinbarung trifft. Dagegen greift § 13 Abs. 3 SGB V nicht ein, wenn - wie im
vorliegenden Fall - die Behandlung sowohl von Seiten des Leistungserbringers als auch von Seiten des Versicherten
erkennbar als Sachleistung zu den Bedingungen der gesetzlichen Krankenversicherung durchgeführt werden soll und
lediglich bei der Abwicklung gegen die Grundsätze des Leistungsrechts verstoßen wird (BSG, Urteil vom 9. Juni 1998
- B 1 KR 18/96 = BSGE 82, 158, 159 = SozR 3-2500 § 39 Nr. 5; Urteil vom 9. Oktober 2001 - B1 KR 6/01 R= BSGE
89, 39, 42 = SozR 3-2500 § 39 Nr. 25 ).
Weigert sich die Krankenkasse, die Kosten der erbrachten Leistung zu tragen, geht es nicht um einen
Kostenerstattungsanspruch, sondern um die Erfüllung des Sachleistungsanspruchs und die Freistellung von etwaigen
Vergütungsforderungen des Leistungserbringers. Dafür findet sich die Rechtsgrundlage nicht in § 13 Abs. 3 SGB V,
sondern in den §§ 27 ff. SGB V, die den Umfang der von der Kasse geschuldeten Krankenbehandlung regeln.
Der Kläger hat im vorliegenden Fall keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Freistellung von einer
Vergütungsforderung des Leistungserbringers. Eine Zahlungsverpflichtung des Klägers gegenüber dem Jugendhilfe
e.V., von der er durch die Beklagte freigestellt werden müsste, besteht hier nämlich nicht.
Der Kläger hat keine vertragliche Vereinbarung, auf der eine derartige Forderung beruhen könnte, mit dem Jugendhilfe
e.V. abgeschlossen. Ein Austausch entsprechender ausdrücklicher Willenserklärungen durch Angebot und Annahme
im Sinne der §§ 145 ff. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist unter Würdigung des gegebenen Sachverhalts nicht
erfolgt.
Es liegt auch kein Vertragsschluss durch konkludentes Verhalten vor. Nach § 133 BGB ist bei der Auslegung einer
Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.
Zwischen dem Jugendhilfe e.V. und der Beklagten ist die Aufnahme des Klägers in die Einrichtung J. als
Sachleistung vereinbart und bis zum 20. August 2000 auch unstreitig als Sachleistung erbracht worden. Auch für die
Folgezeit ist durch den Verlängerungsantrag eindeutig festzustellen, dass sich die Beteiligten weiterhin im Bereich der
Sachleistung befanden. Damit konnte und musste der Kläger davon ausgehen, dass ihm die Rehabilitationsleistung
auch weiterhin als Sachleistung zu Verfügung gestellt werden würde.
Nach § 2 Abs. 1 und 2 SGB V stellen die Krankenkassen ihren Versicherten die im 3. Kapitel des Gesetzes
genannten Leistungen zur Verfügung. Sie bedienen sich dabei der zugelassenen Leistungserbringer, mit denen sie
entsprechende Verträge schließen (§ 2 Abs. 2 Satz 2 SGB V). Die Leistungen sind Bestandteil der
Krankenbehandlung und nach den §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 33 und 34, 12 Abs. 2 SGB V als Sachleistung zu
erbringen. Vergütungsansprüche bestehen nur im Verhältnis zwischen den Leistungserbringern und der Krankenkasse.
Die Vergütung erfolgt im Rahmen der bestehenden Verträge. Gemäß §§ 126, 127 SGB V erhält der Versicherte die
von den Leistungserbringern unter Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung (§ 73 SGB V) notwendige Leistung auf
Kosten der Krankenkasse. Der Jugendhilfe e.V. konnte daher den Antritt der Rehabilitationsmaßnahme nicht so
verstehen, dass der Kläger selbst sein Vertragspartner werden sollte oder wollte. Wenn der Versicherte im Zeitpunkt
der Behandlung - wie hier - davon ausgeht, er erhalte die Leistung als Kassenpatient zu den Bedingungen der
gesetzlichen Krankenversicherung, so kann eine eigene Zahlungsverpflichtung gegenüber dem Leistungserbringer
nicht entstehen. Der Leistungserbringer muss einen Streit über die Leistungspflicht der Krankenkasse dann
unmittelbar mit dieser austragen (BSGE 39, 44).
Der Kläger kann nach der Rechtsprechung des BSG auch nicht im Wege des Aufwendungsersatzes nach den
Vorschriften über die Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) gemäß §§ 683, 677 und 678 BGB von dem
Leistungserbringer herangezogen werden, weil die Erbringung von Sachleistungen nicht sein eigenes Geschäft im
Sinne dieser Vorschrift darstellt, sondern das der Beklagten. Dementsprechend wäre Anspruchsgegnerin des
Jugendhilfe e.V. nicht der Kläger, sondern allenfalls die Beklagte (vgl. zum Anspruch aus GoA- BSGE 89, 39, 43;
LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26. April 2006 - 4 KR 273/04). Auch der Bundesgerichtshof (BGH) hat
entschieden, dass der Leistungserbringer bei der Gewährung von Leistungen nach dem Sachleistungsprinzip auf
Vergütungsansprüche gegen die Krankenkasse beschränkt ist. Eine Vergütungsverpflichtung des Versicherten nach
den Vorschriften über die GoA besteht nicht (BGH, Urteil vom 26. November 1998 - III ZR 223/97= BGHZ 140, 102=
NJW 1999, 858). Der im Schreiben des Jugendhilfe e.V. vom 31. Dezember 2000 geltend gemachte Anspruch ist
daher gegen den Kläger auch zivilrechtlich nicht durchsetzbar.
Die Freistellung kann schließlich nicht wegen eines möglichen Anspruchs des Jugendhilfe e.V. gegen den Kläger
nach den Vorschriften der ungerechtfertigten Bereicherung nach § 812 Abs.1 Satz 1 BGB begehrt werden. Nach
dieser Vorschrift ist derjenige, der durch die Leistung eines Anderen oder in sonstiger Weise auf dessen Kosten etwas
ohne rechtlichen Grund erlangt hat, diesem zur Herausgabe verpflichtet. Nach § 814 BGB kann das zum Zwecke der
Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete aber nicht zurückgefordert werden, wenn der Leistende zum Zeitpunkt der
Leistungserbringung gewusst hat, dass er gegenüber dem Empfänger der Leistungen nicht verpflichtet war. So liegt es
hier. Zum Zeitpunkt der Fortsetzung der Rehabilitationsmaßnahme hatte der Jugendhilfe e.V. mit diesem keine
vertragliche Vereinbarung getroffen und konnte auch durch die Entgegennahme der Leistung durch den Kläger nicht
davon ausgehen, dass dieser mit ihm einen Vertrag schließen wollte (zum Bereicherungsanspruch BSGE 89, 39, 44;
LSG Niedersachsen-Bremen, aaO).
Es bedarf daher keiner Entscheidung über die Frage, ob sich die Notwendigkeit einer medizinischen
Rehabilitationsmaßnahme, für die die Beklagte zuständig wäre, über den 20. August 2000 hinaus nachweisen lässt.
Der Senat hat in seinem rechtlichen Hinweis vom 15. Mai 2007 allerdings deutlich gemacht, dass er die im
angefochtenen Urteil dargelegte Auffassung des SG teilt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.