Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 23.10.2001

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 23.10.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Oldenburg S 11 SB 370/99
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 9 SB 59/00
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Feststellung weiterer bei dem Berufungskläger vorliegender
Funktionsbeeinträchtigungen als "Behinderung" i.S.d. Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) sowie um die
Zuerkennung des mit Teilanerkenntnis vom 9. März 2001 anerkannten Nachteilsausgleichs "Befreiung von der
Rundfunkgebührenpflicht" (Merkzeichen "RF") bereits mit Wirkung von März 1998.
Bei dem 1939 geborenen Berufungskläger war mit zuletzt bindend gewordenem Bescheid vom 24. Oktober 1995 ein
Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt worden. Dem lag folgende Funktionsbeeinträchtigung zugrunde:
"Wirbelsäulensyndrom bei degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule und nach Lendenbandscheibenoperation
sowie entzündlichen Veränderungen der Wirbelknochen".
Am 9. Januar 1998 erlitt der Berufungskläger bei Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit einen schweren Unfall.
Aufgrund dessen stellte er im März 1998 einen Neufeststellungsantrag. Das Versorgungsamt (VA) Oldenburg zog zur
Ermittlung des Sachverhalts u.a. den Entlassungsbericht des Querschnittsgelähmtenzentrums des
berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses Hamburg (Chefarzt Chirurg Dr. H.) vom 14. Oktober 1998 bei. Nach
Auswertung der beigezogenen Unterlagen durch den Ärztlichen Dienst (Ärztin I. am 2. November 1998) erkannte das
VA dem Berufungskläger mit Bescheid vom 17. November 1998 einen GdB von 100 sowie die Merkzeichen "G", "B",
"aG" und "H" zu. Das ebenfalls beantragte Merkzeichen "RF" wurde nicht zuerkannt. Dem lagen folgende
Funktionsbeeinträchtigung zugrunde:
a) Querschnittssyndrom mit Schwäche beider Beine und Blasen- und Mastdarmlähmung, b) Wirbelsäulensyndrom bei
degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule und nach Lendenbandscheibenoperation sowie entzündlichen
Veränderungen der Wirbelknochen.
Hiergegen wandte sich der Berufungskläger mit Widerspruch, zu dessen Begründung er einerseits darauf hinwies,
nicht sämtliche bei ihm vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen seien vom Bescheid erfaßt und andererseits stünde
ihm auch die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" zu.
Zur weiteren Ermittlung des Sachverhalts zog das VA sodann einen Befundbericht des Allgemeinmediziners Dr. J.
vom 6. Juli 1999 bei, dem Anlagen beigefügt waren. U.a. gelangte der Arztbericht des Urologen Dr. K. vom 23. April
1999 und ein weiterer Bericht von Dr. H. vom 31. Mai 1999 zur Akte. Diese Unterlagen wurden erneut vom Ärztlichen
Dienst des VA ausgewertet (Internist Dr. L. am 6. August 1999).
Daraufhin wies das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben den Widerspruch des
Berufungsklägers mit Widerspruchsbescheid vom 14. Oktober 1999 zurück.
Der Berufungskläger hat am 18. November 1999 Klage erhoben, zu deren Begründung er im wesentlichen erneut die in
seiner Widerspruchsbegründung vorgetragenen Argumente wiederholt.
Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat die Klage nach vorheriger Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom
22. März 2000 abgewiesen. Zur Begründung hat das SG darauf hingewiesen, soweit der Berufungskläger erstrebe,
weitere Funktionsbeeinträchtigungen in den Bescheid aufgenommen zu haben, sei die Klage unzulässig, da insoweit
kein Rechtsschutzinteresse bestehe. Soweit der Berufungskläger die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" erstrebe,
hat das SG darauf hingewiesen, daß die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Merkzeichens nicht vorlägen,
da der Berufungskläger nicht gehindert sei, an allen öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Der Berufungskläger hat gegen den ihm am 31. März 2000 zugestellten Gerichtsbescheid am 2. Mai 2000 Berufung
eingelegt. Zu deren Begründung hat er im wesentlichen darauf hingewiesen, seine Behinderungen müßten voll
umfänglich in den Bescheid aufgenommen werden. Er könne nicht länger als 30 Minuten an einer öffentlichen
Veranstaltung teilnehmen – ihm stehe auch keine Begleitperson ständig zur Verfügung.
Der Berufungsbeklagte hat nach weiterer Sachverhaltsermittlung durch den Senat das Teil-Anerkenntnis vom 9. März
2001 abgegeben, worin er dem Berufungskläger das Merkzeichen "RF" mit Wirkung vom Februar 2001 zuerkannte.
Dieses Anerkenntnis ist von dem Berufungskläger als Teil-Anerkenntnis angenommen worden.
Der Berufungskläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Oldenburg vom 22. März 2000 aufzuheben sowie den Bescheid des
Versorgungsamtes Oldenburg vom 17. November 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des
Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 14. Oktober 1999 sowie des Teil-
Anerkenntnisses vom 9. März 2001 zu ändern,
2. den Beklagten zu verurteilen, weitere Funktionsbeeinträchtigungen als Behinderung bei dem Berufungskläger
anzuerkennen sowie diesem das Merkzeichen "RF" mit Wirkung von März 1998 zuzuerkennen.
Der Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht er sich auf seine angefochtenen Bescheide sowie auf Äußerungen seines Ärztlichen Dienstes
vom 20. Februar und 23. April 2001.
Der Senat hat zur weiteren Ermittlung des Sachverhalts auf Antrag des Berufungsklägers ein Gutachten des
Chirurgen Dr. H. vom 2. Februar 2001 eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das
Gutachten Bezug genommen.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie auf den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des VA Oldenburg (Az.: M.) Bezug
genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden
erklärt.
Entscheidungsgründe:
Der Senat entscheidet in Anwendung von § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung.
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Das SG hat zutreffend erkannt, daß das Begehren des Berufungsklägers unzulässig ist, soweit er die Aufnahme
weiterer Funktionsbeeinträchtigungen in den anerkennenden Bescheid des Berufungsbeklagten verlangt. Unter
Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), der auch der Senat in ständiger
Rechtsprechung folgt, hat das SG zutreffend dargelegt, daß insoweit kein Rechtsschutzbedürfnis besteht (vgl. neben
der vom SG bereits zitierten Entscheidung des BSG v. 24. Juni 1998, Az. B 9 SB 17/97 R in BSGE 82, 176 ff aus der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Entscheidung vom 28. August 1987, Az. 4 N 3/86 in BVerwGE
78, 85 ff). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheides
vom 22. März 2000 Bezug genommen (S. 5, 3. Abs. der Entscheidungsausfertigung), § 153 Abs. 2 SGG. Lediglich
ergänzend und zur Erläuterung weist der Senat darauf hin, daß auch Dr. H. in seinem Gutachten ausführt, die
Bezeichnung der Behinderung als "Querschnittssyndrom mit Schwäche beider Beine und Blasen- und
Mastdarmlähmung" umfasse die von ihm weiter aufgelisteten Diagnosen, die der Berufungskläger festgestellt wissen
will.
Der Berufungskläger hat für die Zeit vor Januar 2001 keinen Anspruch auf die Zuerkennung des Merkzeichens "RF".
Das SG hat zutreffend die rechtlichen Voraussetzungen dargestellt, auch insoweit wird nach § 153 Abs. 2 SGG
Bezug genommen (S. 6 der Entscheidungsausfertigung).
Die Anspruchsvoraussetzungen sind für die Zeit vor Januar 2001 nicht nachgewiesen. Insoweit weist das beklagte
Land in seinem Anerkenntnis vom 9. März 2001 zutreffend darauf hin, daß erstmals in dem Gutachten von Dr. H. vom
2. Februar 2001 erwähnt worden ist, daß eine Stuhlinkontinenz vorliege, die ständig zu Geruchsbelästigungen der
Umgebung führen könne. Erst dies ist aber nach RdNr. 33 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im
sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, Ausgabe 1996 (AP 96) Anlaß für die
Zuerkennung des Merkzeichens "RF" gewesen. Danach haben regelmäßig Anspruch auf die Zuerkennung dieses
Merkzeichens Behinderte, die durch ihre Behinderung auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend wirken,
etwa bei Geruchsbelästigungen bei unzureichend verschließbarem Anus praeter. Erst in Anwendung dieser –
normähnlichen – Grundlage konnte das beklagte Land zu der Auffassung gelangen, nunmehr sei das Merkzeichen
zuzuerkennen. Anlaß für eine frühere Zuerkennung dieses Merkzeichens besteht nicht. Dies ergibt sich – worauf Frau
Dr. N. in ihren Stellungnahmen für den Ärztlichen Dienst des VA vom 20. Februar und 23. April 2001 zu Recht
hinweist – aus den unterschiedlichen Beschreibungen der Kontinenzbeschwerden des Berufungsklägers im
Entlassungsbericht des Querschnittsgelähmtenzentrums des berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses
Hamburg vom 14. Oktober 1998 und dem Gutachten von Dr. H. vom 2. Februar 2001. Im Entlassungsbericht aus dem
Jahre 1998 wird noch berichtet, die Darmentleerung erfolge alle 2 Tage auf der Toilette mit Hilfe von Medikamenten.
Ein direktes Gefühl für den Füllungszustand des Enddarms läge nicht vor. Hieraus ist nicht zu schließen, daß bereits
damals eine Stuhlinkontinenz vorlag und insbesondere nicht, daß es zu erheblichen Geruchsbelästigungen der
Umwelt kommen würde. Dies ist auch im gesamten sodann folgenden Verwaltungs- und Gerichtsverfahren vom
Berufungskläger und seinem Bevollmächtigten nicht vorgetragen worden. Erst nach Abgabe des Anerkenntnisses des
beklagten Landes vom 9. März 2001 und Kenntnisnahme von der Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes hat der
Prozeßbevollmächtigte des Berufungsklägers mit Schriftsatz vom 3. April 2001 behauptet, eine derartige
Stuhlinkontinenz habe bereits bei Stellung des Neufeststellungsantrages vorgelegen. Dies findet indes in den
vorliegenden medizinischen Berichten keine Stütze. So ist etwa auch in den dem im Widerspruchsverfahren
eingeholten Befundbericht des Allgemeinmediziners Dr. J. vom 6. Juli 1999 beigefügten Arztberichten von Dr. K. und
Dr. H. vom 23. April und 31. Mai 1999 kein Hinweis auf eine solche Stuhlinkontinenz enthalten. Dies ist im Hinblick
auf den Bericht des Urologen Dr. K. deswegen besonders auffällig, weil dieser sich eingehend mit der Frage der
Harninkontinenz auseinandersetzt, aber mit keinem Wort auf das Vorliegen einer Stuhlinkontinenz eingeht. Insoweit
wird weiter berichtet, der Berufungskläger leide unter einer Mastdarmlähmung. Über unkontrollierte Abgänge und eine
Belästigung durch Blähungen wird indes nichts mitgeteilt. Auch zu diesem Zeitpunkt haben die medizinischen
Voraussetzungen nicht vorgelegen, - in Anwendung der zitierten Regelung in den AP 96 - bei dem Berufungskläger
das Merkzeichen "RF" festzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von §§ 183, 193 SGG. Bei der hier vorzunehmenden
Ermessensentscheidung war zu berücksichtigen, daß das beklagte Land sofort nach Bekanntwerden der
Veränderungen im Befund des Berufungsklägers ein zweckdienliches Anerkenntnis abgegeben hat. Dies führt nach
der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl zuletzt etwa Beschluss vom 2. August 2000, L 9 B
189/99 SB mwN aus der Rspr des Senats; vgl auch Knittel in Hennig, SGG, § 193 Rn 41) dazu, daß das beklagte
Land nicht verpflichtet ist, außergerichtliche Kosten des Berufungsklägers zu übernehmen.
Anlaß für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG.