Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 17.12.2002

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 17.12.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 18 VH 77/95
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 9 VH 3/98
1. Das Urteil des Sozialgerichtes Hannover vom 15. September 1998 wird aufgehoben. 2. Die Klage wird abgewiesen.
3. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Feststellung weiterer Schädigungsfolgen bzw. die Verschlimmerung von
Schädigungsfolgen nach dem Gesetz über Hilfsmaßnah-men für Personen, die aus politischen Gründen außerhalb der
Bundesrepublik Deutschland in Gewahrsam genommen wurden (Häftlingshilfegesetz – HHG).
Der 1951 geborene Berufungsbeklagte stammt aus dem Gebiet der ehemaligen DDR. Dort erlitt er am 29. August
1971 einen Motorradunfall, bei dem es zu einer Verletzung des Knies kam. Insoweit kam es immer wieder zu
Operationen des Knies. Aus einem Vermerk der Medizinischen Akademie Magdeburg/Klinik für Chirurgie ergibt sich,
dass eine weitere Operation für den Herbst 1985 geplant war.
Am 23. September 1985 versuchte der Berufungsbeklagte die DDR über Un-garn/Jugoslawien zu verlassen. Beim
Grenzübertritt von Ungarn nach Jugosla-wien wurde er verhaftet. Vom 23. September 1985 bis zum 9. Juli 1986 war er
in der DDR inhaftiert. Anschließend wurde er in die BRD ausgewiesen. Mit Urteil des Kreisgerichts Magdeburg-Nord
vom 15. Januar 1986 wurde er wegen uner-laubten Grenzübertritts zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 3
Monaten ver-urteilt.
Im August 1986 stellte der Berufungsbeklagte einen Antrag nach dem HHG. Das Versorgungsamt (VA) zog einen
Befundbericht des Orthopäden Dr. B. (vom 2. Dezember 1986) bei. Weiter wurde eine Bescheinigung des Kreises
Lippe vom 22. Juni 1987 zur Akte genommen, wonach die Haftzeit des Berufungsbeklagten in der DDR als politischer
Gewahrsam i.S.d. HHG einzustufen ist. Sodann veran-lasste das VA das versorgungsärztliche Gutachten der
Chirurgin Dr. C. vom 8. Oktober 1987. Diese diagnostizierte bei dem Berufungsbeklagten Einschlafstö-rungen,
Kopfschmerzen bei Belastung sowie eine neurovegetative Dystonie, die sie als Haftfolge ansah.
Mit Bescheid des VA Ulm vom 27. Oktober 1987 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides des
Landesversorgungsamtes Baden-Württemberg vom 11. Februar 1988 wurde als Schädigungsfolge bei dem
Berufungsbeklagten aner-kannt:
"Verschleißerscheinungen am linken Kniegelenk nach Kreuzbandriss”.
Die Gewährung von Beschädigtenversorgung sowie die Anerkennung weiterer Gesundheitsstörungen wurden
abgelehnt.
In dem sich anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Ulm wur-de das Gutachten des Orthopäden
Prof. Dr. D. (vom 4. Oktober 1988) nebst zweier weiterer ergänzender Gutachten von Prof. Dr. D. (vom 23. März und
vom 25. Juli 1989) eingeholt. Prof. Dr. D. wies zusammenfassend im Wesentlichen auf folgende Befunde hin:
Auffällig sei zunächst, dass bei dem Berufungsbeklagten an beiden Knien arthro-tische Befunde nachzuweisen seien.
Das linke Knie des Berufungsbeklagten sei normal beweglich. Die posttraumatische Arthrose im linken Knie des
Berufungs-beklagten sei nicht durch die Haft verschlimmert worden. Der Haftaufenthalt habe insbesondere nicht
insoweit zu einer Verschlimmerung geführt, als er verhindert habe, dass eine weitere Kreuzbandplastik – wie
vorgesehen – durchgeführt wor-den sei.
Daraufhin wurde die Klage des Berufungsbeklagten mit Urteil des SG Ulm vom 23. Februar 1990 abgewiesen.
Mit Beschluss des Bezirksgerichtes Magdeburg vom 7. Januar 1992 wurde das Urteil des Kreisgerichts Magdeburg-
Nord vom 15. Januar 1986 aufgehoben. Der Berufungsbeklagte wurde rehabilitiert.
Im Juli 1994 stellte der Berufungsbeklagte bei dem VA Hannover einen Neufest-stellungsantrag im Hinblick auf seine
Ansprüche nach dem HHG. Das VA veran-lasste das versorgungsärztliche Gutachten des Chirurgen Dr. E. (vom 10.
März 1995). Dieser sah hinsichtlich des linken Knies des Berufungsbeklagten eine leichte Einschränkung der
Beweglichkeit. Hinsichtlich des damals geplanten 5. Operationstermins äußerte er Bedenken hinsichtlich des
mutmaßlichen Erfolgs. Der nunmehr vom Berufungsbeklagten als Haftfolge angeschuldigte Räusper-zwang sei nicht
auf die Haft zurückzuführen.
Daraufhin lehnte das VA mit Bescheid vom 16. Mai 1995 in der Gestalt des Wi-derspruchsbescheides des
Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 30. August 1995 die Neufeststellung der
Haftfolgen des Beru-fungsbeklagten ab.
Am 26. September 1995 ist Klage erhoben worden. Das SG Hannover hat einen Befundbericht des Internisten Dr. F.
vom 11. Dezember 1995 beigezogen. Dieser hat ausgeführt, die kardiale Erkrankung des Berufungsbeklagten stehe
mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der erlittenen Haft in Zusammenhang.
Das SG hat mit Urteil vom 15. September 1998 das berufungsklägerische Land verurteilt, bei dem
Berufungsbeklagten ein psycho-vegetatives Syndrom als wei-tere Haftfolge anzuerkennen. Im Übrigen ist die Klage
abgewiesen worden. Zur Begründung hat das SG im Wesentlichen darauf hingewiesen, zwar sei das psy-cho-
vegetative Syndrom als Haftfolge anzuerkennen, dessen Folgen seien jedoch nicht so ausgeprägt, dass dem
Berufungsbeklagten ein Anspruch auf Beschä-digtenversorgung zukomme. Hinsichtlich des Knieleidens des
Berufungsbeklag-ten sei keine Verschlimmerung feststellbar.
Gegen das ihm am 22. Oktober 1998 zugestellte Urteil hat das Land Niedersach-sen am 16. November 1998 Berufung
eingelegt. Zu deren Begründung hat es im Wesentlichen darauf hingewiesen, hinsichtlich des psycho-vegetativen
Syndroms sei die Kausalität der Haft nicht nachgewiesen.
Das berufungsklägerische Land beantragt nach schriftsätzlichem Vorbringen,
1. das Urteil des Sozialgerichtes Hannover vom 15. September 1998 aufzuheben,
2. die Klage abzuweisen.
Der Berufungsbeklagte beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist nach wie vor der Auffassung, es lägen auf psychiatrisch-neurologischem Gebiet Haftfolgen bei ihm vor.
Außerdem habe sich sein Knieleiden sehr wohl verschlimmert. Gleichwohl wolle er keine Berufung einlegen, da ihn die
ganze Sache zu sehr belaste.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat das Berufungsgericht zunächst Befundberichte des Hals-Nasen-Ohren-
Arztes G. (vom 30. Juni 1999), des Psy-chiaters Dr. H. (vom 2. Juli 1999), des HNO-Arztes Dr. I. (vom 5. Juli 1999),
des HNO-Arztes Dr. J. (vom 5. Juli 1999), des HNO-Arztes Dr. K. (vom 7. Juli 1999), des HNO-Arztes L. (vom 24.
August 1999) sowie einen Arztbrief des Unfallchirur-gen Prof. Dr. M. (vom 20. Juli 1999) beigezogen. Sodann hat es
die Erstattung des Gutachtens des Neurologen und Psychiaters Dr. N. vom 17. September 2002 veranlasst. Wegen
des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die genannten Unterlagen Bezug genommen.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsät-ze, den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwal-tungsvorgänge des VA Hannover (1 Bd. Beschädigtenakten. Antr.-
Listennr. O. und 1 Bd. Schwerbehindertenakten, Az. P.) sowie auf die ebenfalls beigezogene Vollzugsakte des
Berufungsbeklagten Bezug genommen. Weiter hat der Beru-fungsbeklagte einen Band Unterlagen über den Prozess
bei dem SG Ulm vorge-legt. Diese Unterlagen waren ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der
Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe:
Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten in Anwendung von § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
ohne mündliche Verhandlung.
Die zulässige Berufung ist auch begründet.
Das SG hat das Land Niedersachsen zu Unrecht unter Änderung des Bescheides vom 16. Mai 1995 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 30. August 1995 verurteilt, bei dem Berufungsbeklagten ein "psycho-vegetatives
Syndrom” als Schädigungsfolge nach dem HHG festzustellen.
Nach § 4 HHG erhält ein nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 HHG Berechtigter, der infolge des Gewahrsams eine gesundheitliche
Schädigung erlitten hat, wegen der gesund-heitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Schädigung auf Antrag
Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit ihm nicht
wegen des selben schädigenden Ereignisses ein An-spruch auf Versorgung unmittelbar nach dem BVG zusteht; d.h.
Beschädigten-versorgung nach § 4 HHG erhält, wer durch die dem Gewahrsam eigentümlichen Verhältnisse eine
Schädigung erlitten hat. Der Berufungsbeklagte zählt – wie sich sowohl aus der Bescheinigung des Kreises Lippe vom
22. Juni 1987 als auch aus dem Beschluss des Bezirksgerichts Magdeburg vom 7. Januar 1992 ergibt – zum Kreis
der nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 HHG Anspruchsberechtigten.
Hinsichtlich des Entschädigungsanspruchs nach § 4 HHG bedarf es indes für die anspruchsbegründenden Tatsachen,
zu denen einerseits das schädigende Er-eignis und andererseits die vorliegenden Gesundheitsstörungen gehören,
grund-sätzlich des vollen Beweises, während zur Anerkennung einer Gesundheitsstö-rung als Folge der Schädigung
nach § 4 Abs. 3 HHG die Wahrscheinlichkeit ge-nügt. Diese liegt vor, wenn nach der geltenden medizinischen
Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht. Es muss ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit
bestehen, dass sich darauf vernünftiger Weise die Überzeu-gung vom Kausalzusammenhang gründen kann (vgl.
hierzu zuletzt Senatsent-scheidung v. 2. Juli 2002, Az.: L 9 VH 2/98 m.w.N.).
Hinsichtlich der vom Berufungsbeklagten geltend gemachten Schädigung seines linken Knies ist darauf hinzuweisen,
dass bei dem Berufungsbeklagten Schädi-gungen des linken Knies durch Bescheid des VA Ulm vom 27. Oktober
1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes Baden-Württemberg vom 11. Februar
1988 anerkannt worden sind ("Verschleißerschei-nungen am linken Kniegelenk nach Kreuzbandriss”). Ob insoweit
Verschlimme-rungen eingetreten sind, ist nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens. Der Be-rufungsbeklagte hat
nämlich mit Schriftsatz vom 15. Dezember 1998 ausdrücklich erklärt, er wolle gegen das Urteil des SG keine
Berufung einlegen. Der Senat sieht sich indessen zu dem Hinweis veranlasst, dass das berufungsklägerische Land
bei etwaigen, künftigen Verschlimmerungsanträgen hinsichtlich des aner-kannten Knieleidens nicht zu prüfen haben
wird, ob die unterlassene Operation hierfür ursächlich im Sinne des HHG war. Insoweit ist die Ursächlichkeit nämlich
durch die bindend gewordenen Bescheide anerkannt worden.
Der Senat ist darüber hinaus im Gegensatz zu dem SG nicht zu der Überzeugung gelangt, dass auch auf
neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet bei dem Beru-fungsbeklagten Folgen der Haft festzustellen sind. Diese
Überzeugung stützt der Senat auf das sorgfältige und überzeugende Gutachten von Dr. N. vom 17. September 2002.
Dieser hat zunächst darauf hingewiesen, dass sich bei dem Berufungsbeklagten die Symptome einer Neurasthenie (=
heute gebräuchliche Beschreibung dessen, was früher als vegetative Dystonie bezeichnet wurde) nicht haben
feststellen lassen (S. 45 ff des Gutachtens). Daneben hat Dr. N. auch nicht feststellen können, dass sich bei dem
Berufungsbeklagten eine posttrauma-tische Belastungsstörung als Haftfolge diagnostizieren lässt (ausführlich auf S.
48 ff des Gutachtens). Insoweit hat Dr. N. zunächst ausführlich die zu fordernde Symptomatik zur Diagnose einer
solchen Gesundheitsstörung dargelegt und dann an Hand der von ihm erhobenen Befunde dargetan, dass sich diese
Sym-ptomatik bei dem Berufungsbeklagten nicht findet. Damit ist auf psychischem Gebiet schon das Vorliegen einer
Gesundheitsstörung nicht nachgewiesen. Damit sind Ausführungen zur Kausalität entbehrlich.
Der Senat ist sich durchaus dessen bewusst, dass der Berufungsbeklagte an-lässlich des gescheiterten
Fluchtversuchs, der nachfolgenden Haft und dem not-wendig gewordenen Verlassen der Heimat viel durchgemacht
hat. Er geht auch ohne weiteres davon aus, dass die Schilderungen über Albträume und andere Belastungen (etwa
anlässlich der Einsichtnahme in Stasi-Akten) zutreffen und glaubhaft sind. Für die Anerkennung als Schädigungsfolge
ist indessen Voraus-setzung, dass sich dies als manifeste Krankheit (Funktionsstörung) – hier auf psychiatrischem
Fachgebiet - feststellen lässt. Diese Feststellung kann der Senat aber nach dem fachärztlichen Urteil von Dr. N. nicht
treffen.
Auch auf hno-ärztlichem Fachgebiet finden sich bei dem Berufungsbeklagten kei-ne Schädigungsfolgen. Insoweit
ergibt sich – wie Dr. N. auf S. 43 ff seines Gut-achtens zusammenfassend ausführt - zwar aus den vorliegenden
Befundberich-ten das Vorliegen einer Gesundheitsstörung. Diese ist indessen nicht auf die rechtsstaatswidrige Haft,
sondern auf körperliche Ursachen zurückzuführen. Al-lenfalls eine psychische Mitverursachung ist für Dr. N. denkbar
gewesen. Diese hat er aber nicht auf die Haft, sondern auf die Grundkonstitution des Berufungs-beklagten
zurückgeführt (S. 45 des Gutachtens).
Gleiches gilt für die vom Berufungsbeklagten immer wieder erwähnten Kopf-schmerzen (vgl. S. 36 f des Gutachtens
von Dr. N. ).
Hinsichtlich der vom Berufungsbeklagten nunmehr mit Schriftsatz vom 2. Dezember 2002 vorgelegten ärztlichen
Unterlagen sieht sich der Senat erneut veranlasst darauf hinzuweisen, dass der Berufungsbeklagte ausdrücklich keine
Berufung eingelegt hat. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist damit aus-schließlich die Frage, ob bei dem
Berufungsbeklagten eine vegetative Dystonie als Schädigungsfolge anzuerkennen ist. Andere Gesundheitsstörungen
(auf in-ternistischem und orthopädischem Gebiet) sind dagegen nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von §§ 183, 193 SGG.
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG.