Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 06.08.2003

LSG Nsb: altersrente, niedersachsen, verfassungsrecht, rückwirkungsverbot, wartezeit, eingriff, reform, beratung, rücknahme

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 06.08.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 10 LW 23/01
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 10 LW 36/02
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 8. Oktober 2002 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Abschmelzung der der Klägerin gewährten Altersrente gemäß §
48 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X).
Mit Bescheid vom 12. Januar 2001 gewährte die Beklagte der im Mai 1931 geborenen Klägerin ab 1. Juni 1996
Altersrente gemäß § 11 Abs. 1 Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (ALG). Sie führte insoweit das Urteil
des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen vom 24. Juni 1999 – L 1 LW 22/98 – aus, das durch Urteil des
Bundessozialgerichts (BSG) vom 17. August 2000 – B 10 LW 12/99 R – (abgedruckt in SozR 3-5868 § 92 Nr. 1)
bestätigt worden war. Darin war sie verurteilt worden, der Klägerin ab 1. Juni 1996 Altersrente für Ehegatten von
Landwirten zu gewähren. Dabei hatte die Beklagte davon auszugehen, dass neben den für die Klägerin in der
gesetzlichen Rentenversicherung vorgemerkten 64 Pflichtbeiträgen und den vom Ehemann der Klägerin bis
September 1972 geleisteten 113 Pflichtbeiträgen zur Altershilfe für Landwirte gemäß § 92 Abs. 1 ALG durch
Zusplittung auch die von dem Ehemann der Klägerin bis Juli 1995 gemäß § 27 Gesetz über eine Altershilfe für
Landwirte (GAL) im Wege der Weiterversicherung entrichteten 284 Beiträge auf die Wartezeit anzurechnen waren.
Nachdem der Gesetzgeber durch Art. 6 Nr. 8 Altersvermögensergänzungsgesetz (AVmEG) vom 21. März 2001
(Bundesgesetzblatt I S. 403 ff) § 92 Abs. 1 Satz 1 ALG mit Wirkung vom 23. Dezember 1995 (Art. 12 Abs. 2
AVmEG) dahin geändert hatte, dass nur "nach § 14 des Gesetzes über eine Altershilfe für Landwirte” entrichtete
Beiträge als gezahlt gelten, nahm die Beklagte mit Bescheid vom 12. Juni 2001 mit Wirkung ab 1. Juli 2001 eine
sogenannte Aussparung der Altersrente gemäß § 48 Abs. 3 SGB X vor, weil eine Rücknahme des rechtswidrigen
Rentenbescheides vom 12. Januar 2001 aus Bestandsschutzgründen nicht in Betracht komme. Der hiergegen
erhobene Widerspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 21. August 2001).
Im nachfolgenden Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Stade die gegen den Bescheid vom 12. Juni 2001
erhobene Klage mit Urteil vom 8. Oktober 2002 abgewiesen, weil der angefochtene Bescheid der rückwirkend
geänderten Fassung des § 92 Abs. 1 ALG entspreche und diesbezüglich ein Verstoß gegen Verfassungsrecht nicht
zu erkennen sei.
Die Klägerin hat gegen das ihr am 18. November 2002 zugestellte Urteil am 27. November 2002 Berufung eingelegt.
Sie vertritt die Auffassung, dass die Änderung des § 92 Abs. 1 ALG sowohl gegen das verfassungsrechtliche
Rückwirkungsverbot verstoße, als auch unzulässig in ihre in Art. 3 und 14 Grundgesetz (GG) geschützten
Grundrechte eingreife.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG Stade vom 8. Oktober 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 12. Juni 2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 21. August 2001 aufzuheben,
hilfsweise,
den Rechtsstreit auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Stade vom 8. Oktober 2002 zurückzuweisen.
Sie sieht sich trotz verfassungsrechtlicher Bedenken an die durch die rückwirkende Änderung des § 92 Abs. 1 ALG
getroffene Entscheidung des Gesetzgebers gebunden.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugestimmt.
Dem Senat haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der
Beratung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf
den Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig. Sie ist jedoch
nicht begründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist nicht rechtswidrig. Die
Beklagte ist auch nach Auffassung des erkennenden Senats verpflichtet gewesen, den rechtswidrigen, aus
Bestandsschutzgründen jedoch nicht gemäß § 45 SGB X zurücknehmbaren Altersrentenbescheid vom 12. Januar
2001 gemäß § 48 Abs. 3 SGB X ab 1. Juli 2001 von den Rentenanpassungen auszusparen.
Um Wiederholungen zu vermeiden, nimmt der Senat gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Ausführungen in
den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils Bezug. Zusammenfassend und ergänzend ist Folgendes
auszuführen:
Der Altersrentenbescheid vom 12. Januar 2001 ist rechtswidrig, denn die Klägerin erfüllt nicht die nach § 11 Abs. 1 Nr.
2 ALG erforderliche Wartezeit von 15 Jahren. Anrechenbar sind gemäß § 17 ALG lediglich die für sie in der
gesetzlichen Rentenversicherung vorgemerkten 64 Pflichtbeiträge und die ihr zuzusplittenden 113 von ihrem Ehemann
gemäß § 14 GAL entrichteten Beiträge zur Alterhilfe für Landwirte. Damit werden die erforderlichen 180
Beitragsmonate nicht erreicht. Eine Zusplittung der von dem Ehemann der Klägerin bis Juli 1995 im Wege der
Weiterversicherung gemäß § 27 GAL entrichteten 284 Monatsbeiträge ist nach § 92 Abs. 1 Satz 1 ALG nicht möglich.
Der Gesetzgeber hat durch die Änderung des § 92 Abs. 1 Satz 1 ALG in Art. 6 Nr. 8 AVmEG ausdrücklich geregelt,
dass nur die nach § 14 GAL entrichteten Beiträge im Rahmen des § 92 Abs. 1 ALG dem Ehegatten zugesplittet
werden. Das schließt eine Berücksichtigung von gemäß § 27 GAL im Wege der Weiterversicherung geleisteten
Beiträgen eindeutig aus. Da der Gesetzgeber die Neufassung des § 92 Abs. 1 Satz 1 ALG rückwirkend zum 23.
Dezember 1995 in Kraft gesetzt hat, ist der vorangegangenen Rechtsprechung des BSG, wonach § 92 Abs. 1 ALG in
der seit dem 23. Dezember 1995 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Reform der
agrarsozialen Sicherung (ASRG-ÄndG) vom 15. Dezember 1995 (Bundesgesetzblatt I S. 1814 ff) eine Zusplittung
auch der nach § 27 GAL entrichteten Beiträge nicht mit der gebotenen Deutlichkeit ausschließe (vgl. z. B. Urteil vom
17. August 2000 – B 10 LW 12/99 R – abgedruckt in SozR 3-5868 § 92 Nr. 1), die gesetzliche Grundlage entzogen.
Die vom Gesetzgeber rückwirkend zum 23. Dezember 1995 in Kraft gesetzte Änderung des § 92 Abs. 1 ALG verstößt
aus Sicht des erkennenden Senats nicht gegen Verfassungsrecht (vgl. Senatsurteil vom 27. Februar 2003 – L 10 LW
6/02 -). Das BSG hat in einem Urteil vom 16. Oktober 2002 (B 10 LW 10/02 R) die angeordnete Rückwirkung für nicht
verfassungswidrig erachtet, sondern als zulässige authentische Interpretation eines zuvor zweifelhaften Norminhalts
angesehen. Dieser Auffassung schließt sich der Senat an und sieht gleichfalls keinen Verstoß gegen das
verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot. Darüber hinaus ist aber auch kein Verstoß gegen sonstige Normen des
GG zu erkennen. Insbesondere hält sich die heutige Fassung des § 92 Abs. 1 ALG hinsichtlich des Ausschlusses
einer Zusplittung von nach § 27 GAL entrichteten Beiträgen im Rahmen des dem Gesetzgeber auf dem Gebiet des
Sozialversicherungsrechts eingeräumten weiten Ermessensspielraums. Ein Verstoß gegen die Gleichheitsgrundsätze
in Art. 3 Abs. 1 und 2 GG oder ein unzulässiger Eingriff in das Eigentumsgrundrecht des Art. 14 GG ist nicht
ersichtlich. Eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG war deshalb nicht
geboten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).