Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 15.10.2001

LSG Nsb: neurologie, diagnose, belastung, niedersachsen, firma, anschluss, verwaltungsverfahren, zivilprozessordnung, auskunft, universität

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 15.10.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aurich S 3 U 156/99
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 6 B 214/01 U
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Aurich vom 31. Mai 2001 wird zurückgewiesen.
Gründe:
I.
Die Klägerin begehrt Prozesskostenhilfe - PKH - für das Verfahren vor dem Sozial-gericht - SG -.
Die 1977 geborene Klägerin war von August 1992 bis Juni 1994 als Auszubildende zur Textilmaschinenführerin bei der
Firma C. Gardinenwerke beschäftigt. Sie ist seitdem nicht mehr berufstätig und bezieht Arbeitslosenhilfe. Während
ihrer Ausbildungszeit war sie nach Einschätzung der Abteilung Prävention der Beklagten "lediglich bei der Reinigung
der Transportwalzen mit 1,1,1-Trichlorethan einem neurotoxischen Lösungsmittel in Konzentrationen über dem derzeit
gültigen Grenzwert ausgesetzt" (Bericht vom 2. April 1998, Verwaltungsakten - VA -). Bei einer Untersuchung durch
den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. D. am 31. Januar 1997 gab die Klägerin u.a. an, seit Juli 1994 unter
Schmerzen in Armen, Beinen und der Brust sowie unter einem Kribbel- und Taubheitsgefühl in Armen, Händen und
Beinen zu leiden. Dr. D. diagnostizierte eine Polyneuropathie unklarer Genese und äußerte den Verdacht auf
Schadstoffbelastung (Arztbrief vom 3. Februar 1997). Die Beklagte holte zahlreiche ärztliche Befundberichte
verschiedener Fachgebiete, Stellungnahmen ihres Technischen Aufsichtsdienstes - TAD - und ihrer
Präventionsabteilung ein und veranlasste gutachtliche Stellungnahmen der Fachärztin für Arbeitsmedizin und
Staatlichen Gewerbeärztin Dr. E. vom 2. Juni und 2. Dezember 1998. Gestützt auf diese Stellungnahmen lehnte sie
die Anerkennung einer Berufskrankheit - BK - nach Nr. 1302 (Erkrankungen durch Halogen-Kohlenwasserstoffe) und
nach Nr. 1317 (Polyneuropathie oder Encephalopathie durch organische Lösemittel oder deren Gemische) der Anlage
zur Berufskrankheiten-Verordnung - BKV - ab. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid
vom 6. Oktober 1999).
Dagegen hat die Klägerin am 2. November 1999 vor dem SG Aurich Klage erhoben und PKH beantragt. Das SG hat
den Antrag auf PKH mit Beschluss vom 31. Mai 2001 abgelehnt: Eine BK nach den Nrn. 1302 bzw. 1317 der Anlage
zur BKV lasse sich nicht hinreichend wahrscheinlich machen. Zwar hätten die Ermittlungen des TAD der Beklagten
ergeben, dass die Klägerin während ihrer Tätigkeit bei der Firma C. Gardinenwerke gelegentlich toxischen
Lösungsmitteln ausgesetzt gewesen sei. Jedoch spreche bereits die geringe Expositionsdauer von höchstens 4
Jahren gegen die Entstehung einer toxischen Polyneuropathie oder Encephalopathie. Auch das in den zahlreichen
ärztlichen Befundberichten dokumentierte Krankheitsbild und der Krankheitsverlauf passten offensichtlich nicht zum
Bild einer toxischen Encephalopathie oder Polyneuropathie. Überdies habe eine eindeutig neurologisch-psychiatrische
Symptomatik im Sinne dieser Erkrankungen nicht vorgelegen. Hinzu komme, dass die Beschwerden nach
Beendigung der Lehre nicht zurückgegangen seien, sondern sich im Gegenteil verschlimmert hätten. Eine solche
Progredienz des Krankheitsbildes auch nach Expositionsende spreche jedoch eindeutig gegen das Vorliegen einer
toxischen Lösemittel-Encephalopathie oder Polyneuropathie.
Gegen diesen ihr am 18. Juni 2001 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 18. Juli 2001 Beschwerde eingelegt
und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Das SG habe nicht berücksichtigt, dass die Forschung über
toxische Encephalopathien sich erst langsam entwickelt habe und insbesondere bei den Ärzten nicht sehr verbreitet
sei. Das Krankheitsbild der Klägerin und gerade auch die lange und schleppende Dauer der Krankheit belegten
deutlich, dass diese auf einer toxischen Belastung während der Ausbildung der Klägerin beruhe. Davor habe diese
keine Krankheitssymptome aufgewiesen. Zur Stützung ihrer Auffassung hat die Klägerin eine Pressemitteilung der
"Bundesweiten Selbsthilfegruppe für Patienten mit MCS-/CFS-Syndrom e.V." sowie ein Gutachten des Nervenarztes
Dr. F. vom 2. September 1999 vorgelegt.
Die Beklagte hat geltend gemacht, der Vollbeweis für eine Polyneuropathie, Encephalopathie bzw. das nunmehr
angegebene MCS-Syndrom sei nicht geführt. In der Beschwerdebegründung werde ein Kausalzusammenhang nicht
begründet. Ferner hat die Beklagte hinsichtlich des Gutachtens des Dr. F. auf den von ihr vorgelegten Beschluss des
Landessozialgerichts - LSG - Rheinland-Pfalz vom 11. Januar 1999 - L 7 B 129/98 – und eine ebenfalls vorgelegte das
"Multiple-chemical-Sensitivity-Syndrom (MCS)" betreffende Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und
Sozialordnung vom 18. Dezember 2000 verwiesen.
Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
II.
Die fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§ 73 a Sozialgerichtsgesetz - SGG - i.V.m. § 127 Abs. 2
Zivilprozessordnung - ZPO -). Sie ist jedoch mangels hinreichender Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung (§ 73 a
SGG i.V.m. § 114 ZPO) nicht begründet.
Eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht, sofern ein Erfolg oder Teilerfolg als durchaus möglich erscheint. Eine
Erfolgsaussicht in diesem Sinn ist im vorliegenden Fall jedoch nicht gegeben. Die für das PKH-Verfahren gebotene
summarische Prüfung führt zu dem Ergebnis, dass die Beklagte die Feststellung von BKen durch den angefochtenen
Bescheid zu Recht abgelehnt hat. BKen im Sinne der hier in Betracht zu ziehenden Nrn. 1302 und 1317 der Anlage
zur BKV lassen sich nach dem Ergebnis der Ermittlungen im Verwaltungsverfahren nicht feststellen.
Bereits das SG hat in den Gründen des angefochtenen Beschlusses im Anschluss an die gut nachvollziehbaren
gutachtlichen Stellungnahmen der Landesgewerbeärztin Dr. E. vom 2. Juni und 2. Dezember 1998 konkrete
Gesichtspunkte aufgeführt, die gegen das Vorliegen der vorgenannten BKen sprechen und schon die im vorliegenden
Rechtsstreit nach den ärztlichen Befundberichten konkret in Betracht zu ziehenden Erkrankungen, nämlich eine
Polyneuropathie sowie eine Encephalopathie, nicht im Sinne des insoweit erforderlichen Vollbeweises nachgewiesen
sind. Neben der kurzen Expositionsdauer spricht das Auftreten der Beschwerden erst ab Juli 1994, die Angabe einer
Beschwerdezunahme nach dem Ende der Exposition und das Fehlen eindeutiger neurologischer Befunde dagegen,
dass die in den zahlreichen Befundberichten aufgeführten "sehr wechselhaften und zum Teil widersprüchlich
angegebenen Beschwerden" (Stellungnahme der Frau Dr. E. vom 2. Juni 1998) auf eine berufsbedingte organische
Schädigung zurückzuführen sind. Insbesondere konnte die von Dr. D. im Befundbericht vom 3. Februar 1997 gestellte
Diagnose einer Polyneuropathie unklarer Genese ebenso wenig bestätigt werden wie die aus der Interpretation der so
genannten SPECT-Untersuchung abgeleitete Annahme einer "ausgedehnten toxischen Encephalopathie"
(radiologischer Befundbericht des Arztes für Nuklearmedizin G. vom 13. März 1998). Dies ergibt sich insbesondere
aus dem Befundbericht der Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universität H. vom 9. Februar 1998. Dem im
Rechtsstreit vor dem SG unter dem Aktenzeichen S 2 RJ 151/98 erstatteten neurologisch-psychiatrischen Gutachten
der Frau Dr. I. vom 20. Juni 2000 ist darüber hinaus zu entnehmen, dass die bei der Klägerin vorliegenden
körperlichen Symptome, die unterschiedliche Körpersysteme betreffen, durch eine organische Erkrankung nicht
hinreichend erklärt werden können und für eine so genannte Somatisierungsstörung (ICD-10) sprechen. Das von der
Klägerin im Beschwerdeverfahren vorgelegte - an den behandelnden Arzt und an die AOK adressierte - Gutachten des
Nervenarztes Dr. F. vom 2. September 1999 ist nicht geeignet, eine BK zu beweisen. In dem Gutachten findet sich
zwar die Diagnose "Polyneuropathie, schwere Ataxie, deutliche Leistungsminderung, erhebliche Wesensänderung im
Sinne einer chronischen Müdigkeit und chronischer Depression sowie sozialer Rückzug nach toxischer Belastung in
der Textilindustrie". Dr. F. setzt sich aber in keiner Weise mit den Gesichtspunkten auseinander, die konkret gegen
das Vorliegen einer BK sprechen. Die von der Klägerin außerdem vorgelegte Pressemitteilung der "Bundesweiten
Selbsthilfegruppe für Patienten mit MCS-/CFS-Syndrom e.V." enthält allgemeine Informationen, die für die Beurteilung
des konkreten Falles nicht hilfreich sind.
Dieser Beschluss kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (§ 177 SGG).