Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 28.02.2013

LSG Niedersachsen: anrechenbares einkommen, anerkennung, beratervertrag, verwaltung, buchführung, korrespondenz, betriebsführung, geschäftsbetrieb, alkoholmissbrauch, niedersachsen

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Leistungen nach dem SGB II an Selbständige -
Friseurmeister - Betriebsausgaben - Anerkennung von
Beraterkosten - krankheitsbedingte Einschränkungen
Ausgaben eines selbständigen Handwerksmeisters aufgrund eines
Beratervertrags - unabhängig von Steuerberaterkosten - können im Einzelfall
anzuerkennende Betriebsausgaben im Sinne des § 11b Abs 1 Nr 5 SGB II iVm
§ 3 Abs 2 ALG-II-V sein.
SG Stade 17. Kammer, Urteil vom 28.02.2013, S 17 AS 814/11
§ 11b SGB 2, § 11 SGB 2, § 3 AlgIIV
Tenor
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 18. Mai 2011 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 12. Oktober 2011 verpflichtet, dem Kläger für
die Monate Dezember 2010 und Januar 2011 Leistungen ohne Anrechnung von
Einkommen aus der selbstständigen Tätigkeit zu gewähren.
Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung der Kosten aus einem
Beratervertrag als Betriebsausgabe bei selbstständiger Tätigkeit im Rahmen der
Leistungsberechnung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Der Kläger, geboren im August 1954, ist als selbstständiger Friseurmeister
beruflich tätig. Aufgrund langjähriger gesundheitlicher Probleme aufgrund einer
Alkoholkrankheit ergaben und ergeben sich immer wieder Schwierigkeiten bei
der Ausübung des Gewerbes. Hinzu kam Ende September 2010 eine
längerfristige Arbeitsunfähigkeit infolge eines Magendurchbruchs.
Aufgrund zurückgehender Einnahmen stellte der Kläger erstmals Anfang
November 2009 einen Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts nach dem SGB II beim Beklagten, die ihm auch bewilligt
wurden (Erstbescheid vom 17.12.2009). Die Bewilligungen erfolgten fortwährend
zunächst vorläufig, bis nach Mitteilung der tatsächlichen Einkommenssituation
dann endgültige Festsetzungen erfolgen konnten.
Am 23. September 2010 stellte der Kläger den Fortbewilligungsantrag für den
Leistungszeitraum ab November 2010, woraufhin der Beklagte ihm mit Bescheid
vom 05. November 2010 in der Fassung zweier Änderungsbescheide vom 12.
Januar 2011 und 07. April 2011 vorläufig Leistungen bewilligte, und zwar in
Höhe von 895,39 EUR für November und Dezember 2010, in Höhe von 936,40
EUR für Januar 2011 und in Höhe von 897,42 EUR für die Monate Februar bis
April 2011. Nach dem der Kläger im Mai 2011 die Unterlagen zu den
tatsächlichen Einnahmen und Ausgaben im betroffenen Zeitraum eingereicht
hatte, setzte der Beklagte mit dem hier streitgegenständlichen Bescheid vom 18.
Mai 2011 die Leistungen für November 2010 bis einschließlich April 2011
endgültig fest. Dabei ergab sich für Dezember ein anrechenbares Einkommen in
Höhe von 50,81 EUR und im Januar 2011 in Höhe von 55,64 EUR.
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Mit Widerspruch vom 16. Juni 2011 machte der Kläger geltend, es ergebe sich
auch für Dezember und Januar kein positives Einkommen, denn die Kosten
eines Beratervertrages seien als Betriebsausgaben anzuerkennen. Am 09.
Januar 2009, nach Abschluss eines Privatinsolvenzverfahrens, hatte der Kläger
mit seinem Prozessbevollmächtigten, der in der Vergangenheit auch zeitweise
als Betreuer des Klägers bestellt war, einen Beratervertrag geschlossen. Dieser
sieht zum einen eine Beratung und Unterstützung des Klägers durch den
Prozessbevollmächtigten in allen privaten Angelegenheiten und auch in allen
betrieblichen Angelegenheiten mit Ausnahme solcher Angelegenheiten, für die
ein anderer anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen würde. Für die betriebliche
Beratung ist eine Vergütung iHv jährlich 2.268,91 EUR netto vereinbart, die der
Kläger in monatlichen Raten tatsächlich zahlt, dh iHv rund 190,00 EUR
monatlich.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12. Oktober
2011 als unbegründet zurück. Zwar seien die Kosten für die Arbeit eines
Steuerberaters anerkennungsfähig und auch abgesetzt worden. Weitere Kosten
aus dem Beratervertrag könnten jedoch nicht anerkannt werden, da ein Großteil
der Tätigkeiten des Beraters durch den Kläger selbst erledigt werden könnten
und müssten. Am 14. November 2011 hat der Kläger Klage erhoben.
Er trägt zur Begründung vor, die Kosten für die Tätigkeit des beauftragten
Rechtsanwalts im Rahmen des Beratervertrags seien in seinem Fall als
Betriebsausgaben anzuerkennen, da er nicht in der Lage sei, mit Tätigkeiten
selbst wahrzunehmen und seinen Betrieb allein ordnungsgemäß zu verwalten.
Der Berater führe für ihn die betriebliche Korrespondenz zB mit
Geschäftspartnern, Lieferanten, dem Vermieter des Friseursalons und Behörden
und verwalte die Ein- und Ausgaben des Betriebs sowie die zugehörigen
Unterlagen.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 18. Mai 2011 in der
Fassung des Widerspruchsbescheids vom 12. Oktober 2011 zu
verpflichten, dem Kläger für die Monate Dezember 2010 und Januar 2011
ohne Anrechnung von Einkommen aus der selbstständigen Tätigkeit als
Friseur Leistungen zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er bleibt bei seiner Auffassung, dass ein selbstständiger Handwerksmeister in
der Lage sein müsste, seinen Betrieb ohne die Zuhilfenahme eines anwaltlichen
Beraters zu führen.
Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen und zu den weiteren Einzelheiten
des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und den vorliegenden
Verwaltungsvorgang des Beklagten, der auch Gegenstand der mündlichen
Verhandlung am 28. Februar 2013 war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige und als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gemäß
§ 54 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Klage hat Erfolg.
Die angegriffene Entscheidung des Beklagten erweist sich als rechtswidrig,
soweit für die Monate Dezember 2010 und Januar 2011 ein anrechenbares
Einkommen in die Leistungsberechnung einbezogen wurde. Der Kläger hat
Anspruch auf die Gewährung von Leistungen auch in den genannten beiden
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Monaten ohne Berücksichtigung von Einkommen, da sich aufgrund der
Anerkennung weiterer Betriebsausgaben kein anrechenbares Einkommen
ergibt. Der Beklagte hat dem Kläger die angerechneten 106,45 EUR
nachzuzahlen.
Der Kläger ist leistungsberechtigt nach dem SGB II gemäß § 7 Abs 1 SGB II.
Insbesondere war der Kläger in den Monaten Dezember 2010 und Januar 2011
auch hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs 1 Nr 3 SGB II. In beiden Monaten ergab
sich entgegen der Auffassung des Beklagten kein zu berücksichtigendes
Einkommen aus der selbstständigen Tätigkeit im Sinne des § 11 Abs 1 Satz 1
SGB II in Verbindung mit § 3 Abs 1 und 2 der Arbeitslosengeld-II-Verordnung
(ALG II-V).
Demnach ist bei der Berechnung des Einkommens aus selbstständiger Arbeit,
Gewerbebetrieb oder Land- und Forstwirtschaft von den Betriebseinnahmen
auszugehen und die im Bewilligungszeitraum tatsächlich geleisteten
notwendigen Ausgaben mit bestimmten Ausnahmen von diesen
Betriebseinnahmen abzusetzen.
Die sich für den Kläger ergebenden tatsächlichen Ausgaben aus den
Beratungsvertrag aus dem Jahr 2009 in dem hier betroffenen Zeitraum sind im
vorliegenden Einzelfall zumindest zu einem Teil als Betriebsausgaben
anzuerkennen. Dabei kann das Gericht offenlassen, ob eine Anerkennung der
Kosten in voller Höhe von durchschnittlich 190,00 EUR monatlich gerechtfertigt
wäre oder nicht, denn jedenfalls waren die anzuerkennenden Ausgaben in den
beiden Monaten höher als die tatsächlich angerechneten 106,45 EUR.
Die Auffassung des Gerichts stützt sich auf die Überzeugung, dass die Frage
der Notwendigkeit bestimmter Ausgaben und ihre Anerkennung als
Betriebsausgaben im Sinne des § 3 Abs 2 ALG II-V unter Berücksichtigung der
besonderen Umstände des Einzelfalls zu beantworten ist. Der Beklagte legt
hingegen eine schematische Betrachtungsweise zugrunde, in dem er sich auf
den Standpunkt stellt, ein selbstständiger Handwerksmeister muss selbst in der
Lage sein, die Tätigkeiten, die der Kläger im Rahmen des Beratervertrags vom
beauftragen Anwalt durchführen lässt, selbst durchzuführen und zu erledigen.
Dem Beklagten ist im Grundsatz zuzustimmen. Das Gericht teilt die Auffassung
des Beklagten, dass ein Handwerksmeister im Normalfall seinen Betrieb auch
ohne ständige Hilfe eines Beraters, der nicht der Steuerberater ist, zu führen in
der Lage sein muss, zumal er die notwendigen Grundlagen dafür im Rahmen
der Ausbildung auch erhält. Dazu gehören insbesondere die ordnungsgemäße
Betriebsführung und Verwaltung der Unterlagen sowie die Buchführung und der
Umgang mit Behörden und Geschäftspartnern oder auch Vermietern.
Der Kläger konnte dem Gericht jedoch glaubhaft den Eindruck vermitteln, das er
aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen in Folge der
Alkoholkrankheit abweichend vom Normalfall gerade nicht in der Lage ist, das
laufende Geschäft ohne Hilfe eines fachkundigen Dritten zu führen. Unter dem
Eindruck der Darstellungen des Prozessbevollmächtigten im Rahmen der
mündlichen Verhandlung hält das Gericht für glaubhaft, dass der
Geschäftsbetrieb des Klägers schon längst hätte eingestellt werden müssen,
wenn ihm nicht durch den Prozessbevollmächtigten auch der Bewältigung des
Alltagsgeschäftes in Bezug auf die Führung und Verwaltung des Betriebs
geholfen worden wäre. Dabei leuchtet auch ein, dass die - ansonsten denkbare
- Einschaltung eines Anwalts nach Bedarf aufgrund der Art der Erkrankung nicht
möglich ist, da der Kläger sich bei akutem Alkoholmissbrauch gar nicht mehr um
seinen Betrieb kümmern kann, sich also auch nicht kurzfristig Hilfe sucht. Es
erscheint insoweit sinnvoll, dass es einen ständigen Berater gibt, der den Betrieb
des Klägers und den Kläger selbst kennt und direkt in die laufende
Betriebsführung eingreifen kann.
Obwohl also dem Beklagten abstrakt gesehen zugestimmt werden kann, dass
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ein Handwerksmeister seinen Betrieb auch ohne einen ständigen Berater führen
können muss, sind im vorliegenden Einzelfall unter Berücksichtigung der
Erkrankung des Klägers die Ausgaben des ständigen Beraters auf Grundlage
des Beratervertrags von 2009 dem Grunde nach ausnahmsweise als
notwendige Betriebsausgaben im Sinne des § 3 Abs 2 Satz 1 ALG II-V
anerkennungsfähig. Schon mit der Anerkennung auch nur eines Teils der
geltend gemachten Betriebsausgaben aufgrund des Beratervertrags ergibt sich
in den hier streitigen beiden Leistungsmonaten kein verbleibendes,
anrechenbares Einkommen mehr.
Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung. Dem Grunde nach können die
Kosten aus dem Beratervertrag aufgrund der besonderen Umstände dieses
Einzelfalls als Betriebsausgaben anerkannt werden. Bezüglich der - hier nicht
relevanten - absoluten Höhe der Ausgaben für den Beratervertrag könnte sich
für die Zukunft als sachgerecht darstellen, den Kosten aus dem konkreten
Vertrag die prognostisch einzuplanenden Kosten entweder bei nur
anlassbezogener Beauftragung eines Beraters oder Anstellung einer
fachkundigen Bürokraft für Buchführung, Verwaltung und Korrespondenz als
Vergleichsgröße und Höhenbegrenzung gegenüber zu stellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.