Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 20.05.2003

LSG Nsb: innere medizin, klinik, niedersachsen, verwaltungsakt, bekanntgabe, aktengutachten, fremder, gleichstellung, anhörung, prozess

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 20.05.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aurich S 4 SB 44/00
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 5 SB 140/01
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin verfolgt mit der Berufung den Anspruch auf Zuerkennung des Merk-zeichens ”aG” (außergewöhnliche
Gehbehinderung) weiter.
Im Wege der Neufeststellung hatte die Versorgungsverwaltung bei der 1924 ge-borenen Klägerin mit Bescheid vom
15. September 1993/Widerspruchsbescheid vom 30. März 1994 folgende Funktionsstörungen festgestellt:
1. Degenerative Hals- und Lendenwirbelsäulenveränderungen, 2. cerebrale Durchblutungsstörungen, Depressionen, 3.
Trigeminusneuralgie, 4. Herzleistungsbeeinträchtigung, 5. Sehminderung, 6. Hüftgelenksschaden links, 7.
Fersensporn beiderseits, 8. Arhtrose beider Kniegelenke.
Der Grad der Behinderung (GdB) betrug 70. Den Antrag der Klägerin auf Zuer-kennung des Nachteilsausgleichs ”aG”
hatte die Versorgungsverwaltung abge-lehnt.
Im Rahmen eines sich anschließenden Klageverfahrens stellte der Beklagte als weitere Funktionsstörung
Polyneuropathie
fest und erkannte das Merkzeichen ”G” (erhebliche Beeinträchtigung der Bewe-gungsfähigkeit im Straßenverkehr) an
(Ausführungsbescheid vom 15. Februar 1996). Im Ausführungsbescheid waren die Voraussetzungen für weitere
Merkzei-chen verneint.
Im April 1996 beantragte die Klägerin unter Vorlage einer Bescheinigung des Arztes für innere Medizin Dr. F. vom 1.
Dezember 1995 formlos die Neufeststel-lung des Behindertenverhältnisses. Das Versorgungsamt (VA) Oldenburg
lehnte dies mit Bescheid vom 11. Juli 1996 ab.
Am 28. April 1999 beantragte die Klägerin ein weiteres Mal die Neufeststellung des Behindertenstatus mit dem Ziel
der Feststellung eines höheren GdB und der Zuerkennung des Merkzeichens ”aG”.
Nach medizinischen Ermittlungen stellte das VA Oldenburg mit Bescheid vom 6. September 1999 im Wege der
Neufeststellung nach § 48 Zehntes Buch Sozi-algesetzbuch (SGB X) den GdB ab 28. April 1999 mit 80 fest sowie
das Merkzei-chen ”G”. Die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs ”aG” lägen nicht vor. Die Funktionsstörungen
wurden folgendermaßen bezeichnet:
1. Degenerative Hals- und Lendenwirbelsäulenveränderungen, Fibromyalgiesyndrom (verwaltungsinterner GdB 30), 2.
cerebrale Durchblutungsstörungen, Depressionen (verwaltungs-interner GdB 30), 3. Herzleistungsbeeinträchtigung,
coronare Herzkrankheit, Blut-hochdruck (verwaltungsinterner GdB 30), 4. Polyneuropathie und
Durchblutungsstörungen der Beine mit posttrombotischem Syndrom des linken Beines (verwaltungsinterner GdB 30),
5. Trigeminusneuralgie (verwaltungsinterner GdB 20).
Die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen
1. Sehminderung, 2. Hüftgelenksschaden links, Arhtrose beider Kniegelenke, Fersen-sporn beiderseits, 3. chronische
Magenerkrankung mit Refluxösophagitis, 4. Strumaleiden mit Schilddrüsenfehlfunktion
wirkten sich, so heißt es im Bescheid, weder auf den Gesamt-GdB erhöhend aus noch begründeten sie die
Feststellung eines weiteren Merkzeichens.
Nach Beiziehung eines weiteren Befundberichtes wies der Beklagte den Wider-spruch mit Widerspruchsbescheid vom
7. März 2000 zurück.
Am 6. April 2000 hat die Klägerin bei dem Sozialgericht (SG) Aurich Klage erho-ben. Wegen der Auswirkungen des
Fibromyalgiesyndroms und der ausgeprägten degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule sei sie
außergewöhnlich gehbehindert.
Das SG hat von dem Arzt für Allgemeinmedizin Dr. G. den Befundbericht vom 29. August 2000 eingeholt, dem Dr. G.
verschiedene Arztbriefe beigefügt hat. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 25. Juli 2001 hat der Facharzt für
Or-thopädie Dr. H. ein Gutachten nach Aktenlage erstellt. Das SG ist diesem Gut-achten gefolgt und hat die Klage mit
Urteil vom 25. Juli 2001 abgewiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, dass bei der Klägerin die
Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens ”aG” noch nicht erfüllt seien. Nicht in Ab-rede solle gestellt
werden, dass ihre Bewegungsfähigkeit aufgrund der degenera-tiven Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule
und der Hüft- und Knie-gelenke erheblich beeinträchtigt ist. Dies rechtfertige die Zuerkennung des Merk-zeichens ”G”.
Die Funktionsstörung der Gelenke und der Wirbelsäule aber seien noch nicht derartig schwerwiegend und
außergewöhnlich, dass die Klägerin etwa einer Doppeloberschenkelamputierten oder Hüftexartikulierten gleichgestellt
wer-den könne. Auch die coronare Herzerkrankung - deret-wegen hat die Klägerin unter Vorlage einer ärztlichen
Bescheinigung am Termin zur mündlichen Ver-handlung nicht teilnehmen können - sei nicht so ausgeprägt, dass die
Zuerken-nung des Merkzeichens ”aG” gerechtfertigt sei. Dieser Herzschaden bedinge nicht - wie vorausgesetzt -
einen Teil-GdB von mindestens 80.
Gegen das ihr am 13. August 2001 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 13. September 2001 Berufung eingelegt. Sie
hat dem Senat den Bericht der Or-thopädischen Klinik der DRK-Krankenanstalten I. vorgelegt, in der sie vom 18. bis
27. Oktober 2000 stationär behandelt worden ist. Sie (die Klägerin) sei allenfalls in der Lage - dies ergebe sich aus
dem Bericht -, eine Gehstrecke von maximal 100 m ohne Stützen zu bewältigen.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
1. das Urteil des SG Aurich vom 25. Juli 2001 aufzuheben und den Bescheid vom 6. September 1999 in der Gestalt
des Widerspruchsbe-scheides vom 7. März 2000 zu ändern,
2. den Beklagten zu verurteilen, das Merkzeichen ”aG” zuzuerken-nen.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Er bleibt dabei, dass die Klägerin nicht außergewöhnlich gehbehindert ist. Außer-halb des Rechtsstreits hat sich der
Beklagte bereit erklärt, ab April 1999 das Merkzeichen ”B” (Begleitung) festzustellen. Er beruft sich auf die
Stellungnahme des Versorgungsärztlichen Dienstes vom 19. Dezember 2001.
Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt ihrer vorbereitenden Schriftsätze Bezug
genommen.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Inhalt der Prozess-akte Bezug genommen. Band II und
III der Schwerbehinderten-Akten des VA Ol-denburg waren Gegenstand des Verfahrens und der Entscheidung; auf
ihren In-halt wird ebenfalls verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat entscheidet gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach Anhörung der Beteiligten durch
Beschluss, weil er einstimmig die Berufung für nicht begründet und eine mündliche Verhandlung für entbehrlich hält.
Die nach § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Die Klägerin hat kei-nen Anspruch auf Zuerkennung des
Nachteilsausgleichs ”aG”.
Zunächst ist klarzustellen, dass der Anspruch auf den Nachteilsausgleich nicht der Prüfung nach § 48 SGB X
unterliegt, auch wenn der Beklagte ihn mit Be-scheid vom 15. September 1993/Widerspruchsbescheid vom 30. März
1994 be-reits abgelehnt hatte. Darin lag aber kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (BSGE 58, 27). Über den
Zeitpunkt der Bekanntgabe der ablehnenden Entschei-dung hinaus waren damit keine Wirkungen verbunden, so dass
im hier streitge-genständlichen Bescheid vom 6. September 1999 über das Merkzeichen ”aG” im Wege der
Erstfeststellung zu entscheiden war.
Zutreffend haben das SG und die Versorgungsverwaltung die Voraussetzungen des begehrten Nachteilsausgleichs
verneint. Ausführlich und richtig hat das SG in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils die
Rechtsgrundlagen dargestellt; zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat hierauf Bezug (§ 153 Abs. 2
SGG). Das erstinstanzliche Gericht hat ebenso zutreffend das Er-gebnis seiner medizinischen Ermittlungen gewürdigt
und überzeugend begründet, dass die von dem Sachverständigen Dr. H. in seinem in der mündlichen Ver-handlung
erstatteten Aktengutachten gekennzeichneten Funktionseinschränkun-gen eine Gleichstellung der Klägerin mit dem
bevorzugten Personenkreis nicht erlaubt.
Das Berufungsverfahren führt zu keinem anderen Ergebnis. Nach dem von der Klägerin eingereichten Bericht der
Orthopädischen Klinik der DRK-Krankenanstalten I. vom 30. August 2001 ist die von ihr zurücklegbare Gehstre-cke
auf 100 m ohne Stützen beschränkt. Diese einen Monat nach der Aktenbe-gutachtung durch Dr. H. abgegebene
Beurteilung entspricht der Feststellung des erstinstanzlichen Sachverständigen, dass die Gehfähigkeit der Kläge-rin n
i c h t - wie erforderlich - auf das Schwerste eingeschränkt ist. Die Kläge-rin ist in der Lage, eine Gehstrecke von
immerhin 100 m ohne Stützen selbstän-dig zurückzulegen. Sie ist - vom Beklagten anerkannt - erheblich, aber nicht
au-ßergewöhnlich gehbehindert.
Daran ändert nichts das neuere Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. Dezember 2002 (B 9 SB 7/01 R). In
dieser Entscheidung hat das BSG aus-geführt, dass außergewöhnliche Gehbehinderung nicht voraussetzt, dass der
Be-troffene "nahezu fortbewegungsunfähig” ist. Es muss "nur” die Gehfähigkeit so stark eingeschränkt sein, dass es
ihm unzumutbar ist, längere Wege zurückzule-gen. Des weiteren ist das BSG der Ansicht, dass maßgeblich darauf
abzustellen sei, unter welchen Bedingungen dem behinderten Menschen das Gehen nur noch möglich ist, nämlich nur
mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung, so dass es nicht nur auf die von ihm zurücklegbare Wegstrecke
außerhalb des Kraftfahrzeuges ankomme. Im vom BSG entschiedenen Rechtsstreit vermochte sich der Kläger nur
mit Gehstock und orthopädischen Schuhen und auch dann nur schleppend, watschelnd, kleinschrittig und deutlich
verlangsamt fortzubewe-gen. Das BSG hat daraus gefolgert, dass seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße
eingeschränkt sei. Hinzu kommen müsse aber noch, ob er sich da-bei nur unter ebenso großen körperlichen
Anstrengungen fortbewegen könne wie der bevorzugte Personenkreis.
Die Klägerin ist schon in ihrer Gehfähigkeit nicht in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt, wenn sie ohne Stützen
eine 100 m lange Gehstrecke zu bewälti-gen in der Lage ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).