Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 06.01.2003

LSG Nsb: erwerbsfähigkeit, unfallfolgen, behinderung, unfallversicherung, auflage, niedersachsen, arbeitsunfall, amputation, berufskrankheit, arthrodese

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 06.01.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Oldenburg S 7 U 207/00
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 6 U 164/02
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 20. März 2002 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
I.
Der Kläger begehrt Verletztenrente.
Der 1942 geborene Kläger quetschte sich am 15. Februar 1974 bei betrieblicher Tätigkeit den Kleinfinger der rechten
Hand im Mittelgelenk nahezu ab. Nach Replantation des Fingers in Streckstellung erfolgte eine Korrektur mit
Arthrodese des Mittelgelenkes. Nach drei Monaten war der Kläger wieder arbeitsfähig.
Am 7. August 1998 erlitt er bei einem weiteren Arbeitsunfall einen Kahnbeinbruch der rechten Hand. Aufgrund dieses
Unfalls ist seine Erwerbsfähigkeit um 20 v.H. gemindert, die Beklagte gewährt keinen Unfallausgleich, weil die
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nicht mindestens 25 v.H. beträgt (§ 35 Beamtenversorgungsgesetz).
Im Mai 1999 beantragte der Kläger Verletztenrente wegen des Unfalls vom 15. Februar 1974. Nach der Einschätzung
von Prof. Dr. C. (Gutachten für die Steinbruchs-Berufsgenossenschaft vom 2. Februar 2000) liegt eine völlige
behindernde Funktionsunfähigkeit des Kleinfingers rechts vor. Dies entspreche funktionell einem Verlust des rechten
Kleinfingers und führe nicht zu einer MdE.
In ihrem Gutachten vom 7. Juni 2000 stellten Dr. D. als Unfallfolgen eine Teilversteifung des 5. Fingers rechts mit
Kälteempfindlichkeit und Behinderung des Faustschlusses fest. Die MdE schätzten sie mit weniger als 10 v.H. ein.
Mit Bescheid vom 13. Juli 2000 erkannte die Beklagte eine Teilversteifung des 5. Fingers rechts mit
Kälteempfindlichkeit und Behinderung des Faustschlusses an und lehnte die Zahlung von Rente mit der Begründung
ab, die Erwerbsfähigkeit des Klägers werde wegen der Folgen des Arbeitsunfalls nicht um wenigstens 10 v.H.
gemindert (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 11. August 2000). Im anschließenden Klageverfahren vor dem
Sozialgericht (SG) Oldenburg legte die Beklagte die Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. E. vom 11. Dezember
2000 vor, der die MdE ebenfalls auf unter 10 v.H. schätzte.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 20. März 2002 mit der Begründung abgewiesen, eine MdE von 10 v.H. liege nicht
vor, denn der Kläger sei besser gestellt als bei einem Verlust des Fingers. Gegen dieses ihm am 27. März 2002
zugestellte Urteil hat der Kläger am 2. April 2002 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiter verfolgt.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
1. das Urteil des SG Oldenburg vom 20. März 2002 aufzuheben,
2. den Bescheid der Beklagten vom 13. Juli 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2000 zu
ändern,
3. die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 15. Februar 1974 Verletztenrente in Höhe
von mindestens 10 v.H. der Vollrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Oldenburg vom 20. März 2002 zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des SG und ihre Bescheide für zutreffend.
Die Beteiligten sind mit Verfügung der Berichterstatterin vom 14. Oktober 2002 darauf hingewiesen worden, dass der
Senat beabsichtigt, über die Berufung nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu entscheiden. Ihnen ist
Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der
Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde
gelegen.
II.
Der Senat konnte über die gemäß §§ 143 und 144 Abs. 1 Satz 2 SGG zulässige Berufung nach vorheriger Anhörung
der Beteiligten durch Beschluss entscheiden, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung
nicht für erforderlich hält (vgl. § 153 Abs. 4 SGG).
Das SG und die Beklagte haben zu Recht einen Anspruch des Klägers auf Verletztenrente verneint.
Das Begehren des Klägers richtet sich auch nach Eingliederung des Rechts der Gesetzlichen Unfallversicherung in
das Sozialgesetzbuch (SGB) zum 1. Januar 1997 nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO). Das
ergibt sich aus der Übergangsregelung in § 212 SGB VII, wonach auf Versicherungsfälle, die vor dem 1. Januar 1997
eingetreten sind, das alte Recht (§§ 548, 580, 581 RVO) anzuwenden ist.
Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist gemäß §§ 580, 581 RVO nur zu gewähren, wenn die
Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge des Arbeitsunfalls um wenigstens 20 v.H. gemindert ist. Sofern die MdE des
Versicherten - wie hier - wegen eines anderen Arbeitsunfalls bzw. eines Unfalls nach den Beamtengesetzen um
mindestens 10 v.H. gemindert ist, führt auch eine MdE von mindestens 10 v.H. zur Zahlung einer sog. Stützrente (§
581 Abs. 3 RVO). Letztere Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall jedoch nicht erfüllt.
Die Bemessung der unfallbedingten MdE richtet sich nach dem Umfang der körperlichen und geistigen
Beeinträchtigung des Verletzten durch die Unfallfolgen und der dem Verletzten dadurch verschlossenen
Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens. Dabei liegt die Beurteilung, in welchem Umfang die
körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind, in erster Linie auf medizinisch-
wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit sich derartige Beeinträchtigungen auf
die Erwerbsfähigkeit des Verletzten auswirken, sind zwar nicht verbindlich, bilden aber eine wichtige und vielfach
unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE. Darüber hinaus sind bei der Beurteilung der MdE
auch die von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen
Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht im Einzelfall bindend, aber
als Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis
heranzuziehen sind (BSG SozR 2200 § 581 RVO Nr. 23). Sie stellen in erster Linie auf das Ausmaß der
unfallbedingten Funktionsbeeinträchtigung ab.
Bei Berücksichtigung dieser Grundsätze kann nicht festgestellt werden, dass die durch die Folgen des Arbeitsunfalls
vom 15. Februar 1974 bedingte MdE des Klägers mindestens 10 v.H. beträgt. Als Folge von Fingerverletzungen ist
eine MdE um 10 v.H. erst anzunehmen bei der Amputation des Kleinfingers (Schönberger/Mehrtens/Valentin,
Arbeitsunfall und Berufskrankheit , 6. Auflage, S. 596) oder einer Versteifung aller Gelenke eines Fingers in
Streckstellung (Mehrhoff/ Muhr, Unfallbegutachtung, 10. Auflage, S. 150). Eine derartige Beeinträchtigung liegt hier
nicht vor. Nach den übereinstimmenden Messungen von Dr. D. und Prof. Dr. C. sind lediglich das Mittelgelenk des
rechten Kleinfingers versteift und das Endgelenk in der Bewegung eingeschränkt, während das Grundgelenk frei
beweglich ist. Der Faustschluss ist nur am 5. Finger mit einem Fingerkuppenhohlhandabstand von 2 cm
unvollständig, ansonsten bestehen normale Griffformen. In Übereinstimmung mit Dr. F. und Dr. E. und im Einklang
mit den erwähnten Bewertungsgrundsätzen geht der Senat deshalb davon aus, dass die MdE des Klägers mit weniger
als 10 v.H. bewertet werden kann. Eine für den Kläger günstigere Bewertung ergibt sich auch nicht aus dem
Gutachten von Prof. Dr. C., nach dessen Beurteilung die Bewegungseinschränkung funktionell dem Verlust des
Fingers entspricht. Eine derartige Bewegungseinschränkung würde zwar entgegen der Auffassung des Gutachters
eine MdE von 10 v.H. rechtfertigen. Der Senat vermag dessen Einschätzung der Funktionseinbuße des Kleinfingers
aber nicht zu folgen. Denn die von Prof. Dr. C. erhobenen Befunde sind weitgehend identisch mit dem
Untersuchungsergebnissen von Dr. D. und belegen lediglich eine Funktionseinschränkung, nicht jedoch einen
Funktionsausfall.
Entgegen der Ansicht des Klägers ergibt sich auch keine höhere MdE, weil der Faustschluss unvollständig ist und der
Kleinfinger kälteempfindlich ist. Die Behinderung des Faustschlusses ist Folge der Versteifung im Mittelgelenk, die
bei der MdE-Bemessung bereits berücksichtigt worden ist. Die Kälteempfindlichkeit führt nicht zu einer höheren MdE,
weil sie keinen Einfluss auf die Funktionsfähigkeit des Fingers hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht
gegeben.