Urteil des LSG Hessen vom 02.04.2017

LSG Hes: unfall, treppe, gefahr, versicherungsschutz, wohnung, versicherter, haus, unternehmen, form, erwerbsfähigkeit

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 29.03.1972 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt
Hessisches Landessozialgericht L 3 U 142/71
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt a.M. vom 9. Dezember 1970
aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der im Jahre 1939 geborene Kläger wollte am 1. April 1970 gegen 5,25 Uhr zur Arbeit gehen. Der Unfallanzeige
zufolge rutschte er auf der Treppe im Hausflur des Wohnhauses aus und fiel durch die wesentlich aus Glas
bestehende Haustür. Der Kläger gab hierzu an, daß sich der Unfall nicht innerhalb des Hauses, sondern unmittelbar
vor der Haustür ereignet habe. Er sei im Haus die Treppe herunter- und durch die Glastür gefallen. Vor der Tür habe er
sich an den Glasscherben geschnitten. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 19. Juni 1970 die Zahlung einer
Entschädigung ab. Der Kläger sei einer Gefahr noch innerhalb seines häuslichen Wirkungskreises erlegen. Ein
versicherter Wegeunfall habe daher nicht vorgelegen. Daran ändere auch der Umstand nichts, daß der Kläger durch
die Tür gefallen und auf die hinter der Tür liegende zerbrochene Drahtglasscheibe gestürzt sei.
Hiergegen erhob der Kläger am 8. Juli 1970 bei dem Sozialgericht Frankfurt a.M. Klage. Nach seiner Auffassung habe
sich der Unfall vor der Haustür, also außerhalb des Hauses, ereignet, da er durch die nach außen fallenden
Glassplitter verletzt worden sei. Von seiner Wohnung bis zur Haustür seien es etwa 5 Treppenstufen. Anscheinend
sei er auf den letzten Stufen ins Trudeln gekommen. Jedenfalls sei er mit dem Körper gegen den Glaseinsatz der
Haustür gefallen. Die Verletzung habe er an der rechten Kniekehle durch Glassplitter erlitten, die vor der Haustür
gelegen hätten.
Die Ehefrau des Klägers erklärte auf Befragen, sie habe von der Wohnungstür aus gesehen, wie ihr Mann gestürzt
sei. Draußen vor der Haustür habe ihr Mann auf den Glastrümmern gelegen und hätte sich nicht erheben können.
Das Sozialgericht hob mit Urteil vom 9. Dezember 1970 den Bescheid vom 19. Juni 1970 auf und verurteilte die
Beklagte, den Unfall vom 1. April 1970 zu entschädigen. Der Kläger habe einen versicherten Wegeunfall erlitten. Der
Unfall des Klägers sei erst vor der Haustür eingetreten. Der Kläger habe sich nicht durch den Sturz gegen den
Glaseinsatz der metallenen Haustür, sondern an einem auf gebeulten Stück der herausgefallenen Drahtglasscheibe
verletzt. Die Gefahrenquelle sei danach wesentlich das aufgebeulte Stück des Drahtglases. Der Sturz gegen die
Haustür habe diese nicht unmittelbar zu einer Gefahrenquelle werden lassen.
Gegen das am 27. Januar 1971 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 11. Februar 1971 Berufung eingelegt. Die vom
Sozialgericht vertretene Rechtsansicht sei unzutreffend. Nach der Rechtsprechung beginne der Versicherungsschutz
gem. § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erst mit dem Betreten der Straße, der Versicherungsschutz
bestehe also nur für solche Gefahren, die von der Straße und nicht auch für solche die vom häuslichen
Wirkungsbereich ausgingen: Im vorliegenden Fall bitten die Gefahrenstellen jedoch nicht auf der Straße, sondern im
häuslichen Wirkungsbereich des Klägers gelegen. Der Kläger sei auf der im Hausflur liegenden Treppe gestolpert und
gestürzt und durch das Drahtglas der Haustür gefallen, an dem er sich schließlich auf der Straße verletzt habe. Die
Ursache des Sturzes und der Verletzungen habe im unversicherten häuslichen Wirkungskreis des Klägers gelegen.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt a.M. vom 9. Dezember 1970 aufzuheben und die
Klage abzuweisen, und regt an, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen, er regt ebenfalls an, hilfsweise die Revision zuzulassen.
Er sei bis Ende April 1970 arbeitsunfähig gewesen und sei auch jetzt noch in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkt.
Auf den weiteren Inhalt der Unfall- und Gerichtsakte wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig. Sie ist auch begründet.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger den nach § 550 RVO unfallversicherten Weg nach der Arbeitsstätte
bereits angetreten hatte, als er sich die Verletzungen zuzog oder ob der Unfall noch dem unversicherten häuslichen
Wirkungsbereich zuzurechnen ist. Der Senat ist der Auffassung des Sozialgerichts, daß ein versicherter Wegeunfall
vorliege, nicht beigetreten.
Entsprechend den auch von der Beklagten unwidersprochen gebliebenen Angaben des Klägers und seiner Ehefrau ist
der Senat davon ausgegangen, daß der Kläger auf den unteren Stufen der im Hausflur befindlichen Treppe ins
"Trudeln” gekommen, durch die Glasfüllung der Haustür gefallen ist und sich vor der Haustür, also außerhalb des
Hauses, an den Glasscheiben die Verletzungen an der Kniekehle zugezogen hat. Nach § 550 RVO gelten als
Arbeitsunfälle auch Unfälle auf einem mit der Tätigkeit in dem Unternehmen zusammenhängenden Weg nach und von
der Arbeitsstätte. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, der auch der Senat folgt, beginnt der nach dieser
Bestimmung versicherte Weg, wenn er von der Wohnung aus angetreten wird, mit dem Verlassen des häuslichen
Bereiches (BSG 2 S. 239 ff.), als dessen Grenze grundsätzlich die Außentür des bewohnten Gebäudes anzusehen
ist. Dies gilt auch bei städtischen Mehrfamilienhäusern mit abgeschlossenen Wohnungen. Treppen und Hausflur
rechnen daher noch zum häuslichen und damit unversicherten Wirkungskreis (BSG vom 13.3.1956 – 2 RU 124/54). In
diesem Urteil hebt das BSG unter Hinweis auf die Entscheidungen des LSG Nordrhein-Westfalen (Breithaupt 1955 S.
131) und des Bayer. LSG (AMBl. 1955 S. B 112) hervor, daß der Versicherungsschutz sich insbesondere deshalb
nicht auf den häuslichen Bereich erstrecke, weil dieser im allgemeinen dem Versicherten besser als anderen
Personen bekannt sei und damit für ihn eine Gefahrenquelle darstelle, für die er selbst verantwortlich sei. Die
Anwendung dieser Grundsätze hätte im gegebenen Rechtsstreit zur Verneinung eines versicherten Wegeunfalls
führen müssen, wenn der Kläger im Bereich des Treppenhauses noch vor Erreichen der Haustür zu Fall gekommen
wäre und sich die Verletzungen zugezogen hätte. Der Kläger ist jedoch durch die Haustür hindurch gefallen und hat
erst außerhalb des Hauses die Verletzungen erlitten.
Aber auch dieser Umstand führt nicht zur Annahme eines unter Unfallversicherungsschutz stehenden Unfalls i.S. des
§ 550 RVO. Entscheidend war hierbei, daß der Kläger bereits auf der Treppe des Hausflurs ins "Trudeln” gekommen
war. Das gesamte Unfallgeschehen begann also eindeutig noch im häuslichen und damit unversicherten
Lebensbereich des Klägers. Dieser Umstand ist als die rechtlich wesentliche Ursache des Unfalls anzusehen. Die
zum Unfall führende Gefahr hatte den Kläger also bereits im häuslichen Bereich bedroht und war schon in diesem
Bereich wirksam geworden. Dem weiteren Umstand, daß der Kläger im Fallen die Haustür durchschlug und sich dann
außerhalb des Hauses die Verletzungen zuzog, kommt keine rechtlich wesentliche Bedeutung zu. Die im häuslichen
Bereich begründete und auf den Kläger einwirkende Gefahr ist nicht durch Verhältnisse beeinflußt worden, die bereits
dem versicherten Weg nach der Arbeitsstätte zuzurechnen gewesen wären. Auf den vorliegenden Rechtsstreit sind
die gleichen Grundsätze entsprechend anzuwenden, die für das BSG in dem Urteil vom 29. Mai 1962 (Az.: 2 RU
170/59 SozR Nr. 37 zu § 543 RVO a.F.) maßgebend waren. In jenem Rechtsstreit hatte sich eine Versicherte vor zwei
Unbekannten, die sie auf dem Heimweg überfallen wollten, in ihr Haus flüchten können, wo ihr dann innerhalb des
häuslichen Bereiches Schaden zugefügt wurde. Hierzu hat das BSG in den Urteil vom 11. November 1971 (Az.: 2 RU
13/69) ausgeführt, daß in einem solchen Fall, in dem die auf den Heimweg zurückzuführende Gefahr nicht durch neue,
auf den Verhältnissen des häuslichen Bereiches beruhende Gegebenheiten beeinflußt worden sei, der Umstand, daß
die für den Unfallversicherungsschutz nach § 550 S. 1 RVO maßgebliche Grenze bereits überschritten war, ohne
rechtliche Bedeutung sei. Ein dem vom BSG entschiedener Rechtsstreit vergleichbarer Fall – allerdings im
umgekehrten Sinn – liegt hier vor. Die bereits im häuslichen Bereich begründete und wirksam gewordene Gefahr führte
zwar erst vor der Haustür – also außerhalb des Hauses – zu der Verletzung des Klägers. Jedoch trat der Schaden ein,
ohne daß eine neue mit dem Weg nach der Arbeitsstätte in innerem Zusammenhang stehende neue Gefahrenquelle
hinzugetreten war. Das Unfallereignis ist als einheitliches Geschehen aufzufassen. Soweit es sich außerhalb des
Hauses vor der Haustür zugetragen hat, kommt ihm hiernach nicht die rechtliche Bedeutung zu in dem Sinne, daß der
Kläger bereits den Weg nach der Arbeitsstätte angetreten hatte. Die Voraussetzungen des § 550 S. 1 RVO liegen
somit hier nicht vor, weil die Ursachen für den Schadenseintritt an der Außenseite der Haustür bereits im
unversicherten häuslichen Bereich entstanden sind.
Nach alledem mußte die Berufung der Beklagten Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Da im Rechtsstreit über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, nämlich über den Umfang des
Versicherungsschutzes bei Wegeunfall, zu entscheiden war, mußte die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 2.
Halbsatz 1. Alternative zugelassen werden.