Urteil des LSG Hessen vom 18.09.1980
LSG Hes: arbeitsentgelt, bemessungszeitraum, arbeitsamt, familie, leistungsbezug, stamm, unterhalt, rechtfertigung, ausnahme, lebensstandard
Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 18.09.1980 (rechtskräftig)
Sozialgericht Gießen S 5a Ar 156/79
Hessisches Landessozialgericht L 1 Ar 256/80
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 15. Januar 1980 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist der Bemessungszeitraum bei der Berechnung des dem Kläger zustehenden Unterhaltsgeldes (Uhg).
Die Beklagte förderte die Teilnahme des Klägers an einem vom Berufsfortbildungswerk des Deutschen
Gewerkschaftsbundes, Bildungszentrum für Industriemeister, in W. in der Zeit vom 23. April 1979 bis 28. März 1980
durchgeführten Lehrgang zum Industriemeister u.a. durch die Gewährung von Uhg nach § 44 Abs. 2a
Arbeitsförderungsgesetz (AFG). In dem diesbezüglichen Bewilligungsbescheid vom 23. Mai 1979 folgte sie ihren
Dienstanweisungen in dem Runderlaß Nr. 39/79 vom 26. Januar 1979, wonach Bemessungszeitraum die letzten, zwei
Monate vor Beginn der Maßnahme abgerechneten, insgesamt zwanzig Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt
umfassenden Lohnabrechnungszeiträume der letzten die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung sind, und legte
der Berechnung des Uhg das von dem Kläger in dem Lohnabrechnungszeitraum vom 1. Januar 1979 bis 31. Januar
1979 an 23 Arbeitstagen in 238,6 Arbeitsstunden erzielte Bruttoarbeitsentgelt von 2.850,08 DM zugrunde, nicht
dagegen das am 20. April 1979, dem Tage des Ausscheidens des Klägers aus seinem letzten
Beschäftigungsverhältnis zuletzt abgerechnete, in dem Lohnabrechnungszeitraum vom 1. März 1979 bis 31. März
1979 an 22 Arbeitstagen in 265,9 Arbeitsstunden erzielte Bruttoarbeitsentgelt von 3.507,77 DM.
Den am 20. Juni 1979 eingelegten Widerspruch des Klägers, mit dem dieser geltend machte, als
Bemessungszeitraum müsse der Monat März 1979 zugrunde gelegt werden, wies die Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 1979, dem Kläger zugestellt am 4. Juli 1979, unter Verweisung auf ihre
Dienstanweisungen als unbegründet zurück.
Am 12. Juli 1979 hat der Kläger beim Sozialgericht Gießen schriftlich Klage erhoben und sich dabei darauf berufen,
die die Höhe des Uhg regelnde Norm des § 44 Abs. 2a AFG schreibe die direkte Anwendung des § 112 Abs. 3 AFG
vor mit der Folge, daß Bemessungszeitraum der Monat März 1979 sei. Die hiervon abweichenden Dienstanweisungen
der Beklagten seien ohne sachlichen Grund erlassen und vor allem deshalb nichtig, weil sie gegen die Regelung des
AFG verstoßen würden. Sie dürften, wie sich aus dem auch für den Bereich der Leistungsverwaltung geltenden
Verfassungsgrundsatz des Vorranges des Gesetzes als der gegenüber Dienstanweisungen höherrangigen
Rechtsquelle ergebe, nicht, insbesondere nicht zu Ungunsten des Leistungsberechtigten, von der gesetzlichen
Regelung des § 112 Abs. 3 AFG abweichen, wonach die letzten, am Tage des Ausscheidens des Arbeitnehmers aus
dem Beschäftigungsverhältnis abgerechneten, insgesamt zwanzig Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt
umfassenden Lohnabrechnungszeiträume, und nicht die zwei Monate davor liegenden Lohnabrechnungszeiträume,
maßgebend seien.
Die Beklagte hat demgegenüber geltend gemacht, § 44 Abs. 2a AFG nehme lediglich im Hinblick auf die Höhe des
Arbeitsentgeltes, nicht jedoch auch im Hinblick auf den Bemessungszeitraum, auf § 112 AFG Bezug. Dessen Absatz
3 sei bei der Festsetzung der Höhe des Uhg nicht anwendbar. Aus § 44 Abs. 7 AFG folge, daß die Vorschriften des
Vierten Abschnittes des AFG über das Arbeitslosengeld (Alg) nur anwendbar seien, soweit die Besonderheiten des
Uhg nicht entgegenstünden. Ein solches Entgegenstehen müsse jedoch bejaht werden. Zu den Besonderheiten des
Uhg gehöre, daß bei ihm der unverzügliche Leistungsbezug nach dem Ausscheiden der Antragsteller aus ihren
Arbeitsverhältnissen möglichst sichergestellt werden müsse. Ein derartiger nahtloser Leistungsbezug sei, wie die
früheren, in Anwendung des § 112 Abs. 3 AFG gemachten Erfahrungen mit Problemen wie verzögerter Bearbeitung
der Anträge und vermehrtem Verwaltungsaufwand bei vorläufigen Bewilligungen zeigten, eher gewährleistet, wenn
man abweichend von § 112 Abs. 3 AFG nach den jetzigen Dienstanweisungen verfahre. Im übrigen sei eine von § 112
AFG abweichende Festsetzung des Bemessungszeitraumes auch in anderen Fällen, z.B. bei Forstarbeitern, vom
Bundessozialgericht (BSG) anerkannt worden.
Mit Urteil vom 15. Januar 1980 hat das Sozialgericht Gießen unter gleichzeitiger Zulassung der Berufung die Beklagte
entsprechend dem Begehren des Klägers unter Abänderung des Bescheides vom 23. Mai 1979 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 1979 verurteilt, dem Kläger ab 23. April 1979 Uhg auf der Grundlage des im
Monat März 1979 abgerechneten Arbeitsentgelts zu gewähren. In seiner Begründung ist es dabei im wesentlichen
dem Standpunkt des Klägers bezüglich der in § 44 Abs. 2a AFG enthaltenen Bezugnahme auf das Arbeitsentgelt im
Sinne des § 112 AFG und der Nichtigkeit der Dienstanweisungen der Beklagten gefolgt; ein Bedürfnis, ähnlich wie bei
Forstarbeitern von der Regelung des § 112 Abs. 3 AFG abzuweichen, hat es verneint.
Gegen dieses ihr am 7. Februar 1980 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten, eingelegt mit einem
am 29. Februar 1980 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangenen Schriftsatz der Beklagten vom selben
Tage.
Zur Begründung ihrer Berufung bringt die Beklagte hinsichtlich der von ihr angenommmenen, eine Anwendung des §
112 Abs. 3 AFG ausschließenden Besonderheiten des Uhg ergänzend vor, bei Anwendung dieser Bestimmung sei
eine Entscheidung über die Gewährung von Uhg erst nach dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses möglich; dies
habe zur Folge, daß der Antragsteller im Regelfall erst nach dem Eintritt in die Maßnahme über die Höhe des zu
gewährenden Uhg unterrichtet werden könne und daher auch nicht entsprechend frühzeitig über das Uhg disponieren
könne. Die Bewilligung und Überweisung des Uhg werde in einer den Interessen des Betroffenen nicht dienenden, für
ihn unzumutbaren und der Beschleunigungsvorschrift des § 17 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil
(SGB I) widersprechenden Weise verzögert, wobei berücksichtigt werden müsse, daß als weiterer Verzögerungsgrund
hinzukomme, daß das Arbeitsamt am Wohnort des Berechtigten über die Förderung der Teilnahme dem Grunde nach
und das Arbeitsamt am Maßnahmeort über die Förderung der Höhe nach entscheide; auch der Erlaß vorläufiger
Entscheidungen oder die Zahlung von Vorschüssen gemäß § 42 SGB I würden den Interessen des Geförderten nicht
gerecht, abgesehen davon, daß eine solche Verfahrensweise, auch wenn sie der Beklagten technisch möglich sei,
dazu führen würde, daß infolge des zeitlichen Mehraufwandes in einer Vielzahl von Fällen keine rechtzeitige
Bewilligung und Überweisung des Uhg möglich wäre und insoweit die nahtlose Zahlung von Uhg im Anschluß an das
bislang erzielte Arbeitsentgelt nicht sichergestellt werden könne. Im übrigen bedeute die in den Dienstanweisungen
vorgesehene Bemessung in der Regel eine Besserstellung der Betroffenen im Verhältnis zu einer Anwendung des §
112 Abs. 2 AFG; insoweit stelle der Fall des Klägers eine Ausnahme von der Regel dar. Da nach alledem die
Regelung des § 112 Abs. 3 AFG nicht herangezogen werden könne, fehle es an einer auf die speziellen Belange des
Uhg abgestimmten Berechnungsmethode; diese Regelungslücke, habe sie, die Beklagte, im Wege der
gesetzeskonformen Auslegung durch ihre Dienstanweisungen geschlossen.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 15. Januar 1980 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bezieht sich auf sein Vorbringen in erster Instanz.
Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Leistungsakten der Beklagten, Arbeitsamt Wetzlar, Stamm-
Nr. , der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig. Sie ist frist- und formgerecht eingelegt (§ 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –) sowie
kraft Zulassung statthaft (§ 150 Nr. 2 SGG).
Sie ist jedoch unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 15. Januar 1980 ist rechtlich nicht zu
beanstanden. Die Beklagte ist verpflichtet, bei der Berechnung des Uhg von dem in § 112 Abs. 3 AFG geregelten
Bemessungszeitraum auszugehen und dementsprechend dieser Berechnung das von dem Kläger im März 1979
erzielte Arbeitsentgelt zugrunde zu legen. Sie kann sich insoweit nicht auf ihre hier von abweichenden
Dienstanweisungen berufen; diese widersprechen der gesetzlichen Regelung und sind daher, soweit sie den
Bemessungszeitraum betreffen, unwirksam.
Wenn § 44 Abs. 2 a AFG bestimmt, daß das Uhg 58 vom Hundert des um die gesetzlichen Abzüge, die bei
Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten "Arbeitsentgelts im Sinne des § 112” beträgt, so folgt hieraus, wie
das Sozialgericht in Übereinstimmung mit der Ansicht des Klägers zutreffend festgestellt hat, daß § 112 AFG
insgesamt und damit auch die in seinem Absatz 3 getroffene Regelung über den Bemessungszeitraum anzuwenden
ist, d.h., Arbeitsentgelt bei der Berechnung des Uhg ist das im Bemessungszeitraum des § 112 Abs. 3 AFG erzielte
Arbeitsentgelt, so wie es auch für die Berechnung des Alg maßgebend ist. Dieses Ergebnis folgt bereits aus dem
Gesetzeswortlaut des § 44 Abs. 2 a AFG, der insoweit keinen Spielraum für eine abweichende Interpretation beläßt;
eine Anwendung der Verweisungsnorm des § 44 Abs. 7 AFG, wonach die Vorschriften des Vierten Abschnittes des
AFG über das Alg entsprechend gelten, soweit die Besonderheiten des Uhg nicht entgegenstehen, ist danach nicht
erforderlich und kommt nicht in Betracht.
Die Anwendung des § 112 Abs. 3 AFG steht aber auch mit dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung des Uhg
in Einklang. Das Uhg hat Unterhaltssicherungs- und Lohnersatzfunktion. Konkret soll der Lebensstandard des
Geförderten, wie er zuletzt während einer – beitragspflichtigen – Beschäftigung bestanden hat, – wenigstens in etwa –
gesichert werden. Die Bemessung des Uhg soll daher – ebenso wie die des Alg, das gleiche Funktionen erfüllt – an
das am Tage des Ausscheidens des Arbeitnehmers aus dem Beschäftigungsverhältnis zuletzt abgerechnete
Arbeitsentgelt anknüpfen. Dieses bildete zu diesem Zeitpunkt die – letzte – wirtschaftliche Grundlage für den
Unterhalt des Geförderten und seiner Familie.
Die von der Beklagten für richtig erachtete Berechnung wird dieser Funktion des Uhg nicht, zumindest aber weniger
gerecht, indem sie an ein Arbeitsentgelt anknüpft, das nicht bzw. jedenfalls nicht mehr die aktuelle
Unterhaltsgrundlage des Geförderten und seiner Familie bildete. Ihre Dienstanweisungen widersprechen somit nicht
nur dem Wortlaut des Gesetzes; sie werden darüber hinaus auch seinem Sinn und Zweck nicht gerecht.
Aus dem Widerspruch mit der gesetzlichen Regelung folgt, daß diese Dienstanweisungen, auch insoweit ist dem
Sozialgericht und dem Kläger zuzustimmen, unwirksam sind. Diese Unwirksamkeit ergibt sich zunächst
zutreffenderweise aus dem Prinzip des Vorranges des Gesetzes, wie es bereits ganz allgemein und für alle
Rechtsnormen aus Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz – GG – abzuleiten ist (vgl. dazu Bundesverfassungsgericht – BVerfG
–, Beschluss vom 6. Mai 1958 – 2 BvL 37/56, 11/57 – BVerfGE 8, 155; Bundessozialgericht – BSG –, Urteil vom 13.
Dezember 1972 – 7 RAr 43/69 – Breithaupt 1973, 575; Bundesverwaltungsgericht – BVerwG –, Urteil vom 2. Juni
1976 – VII C 33.74 – Buchholz, BVerwG 411.2 BEG Nr. 1). Aber auch die in § 31 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil
– (SGB I) enthaltene Vorschrift, nach der Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen dieses Gesetzes nur
begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden dürfen, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zuläßt,
spricht für diese Unbeachtlichkeit der Dienstanweisungen der Beklagten. Aus dieser Bestimmung folgt nicht nur, wie
allgemein angenommen wird (vgl. Grüner, Sozialgesetzbuch, Kommentar, § 31 SGB I, Erläuterung I.), der Grundsatz
des Vorbehaltes des Gesetzes, sondern zugleich – in Übereinstimmung mit der Verfassungsrechtslage – der
Grundsatz des Vorranges des Gesetzes gegenüber nachrangigen Rechtsnormen speziell für den Bereich des vom
Sozialgesetzbuch erfaßten Sozialleistungsrechts. Hat der Leistungsberechtigte ein Recht auf Berechnung seines Uhg
unter Anwendung des § 112 Abs. 3 AFG, so darf die Beklagte in ihren Dienstanweisungen nicht hiervon abweichen.
Die von der Beklagten zur Rechtfertigung ihrer Dienstanweisungen angeführten Gründe vermögen angesichts der
vorgenannten Rechtsgrundsätze diese Dienstanweisungen von vornherein nicht rechtlich zu legitimieren, so daß
dahinstehen kann, in welchem Umfang sie im einzelnen zutreffend sind. Allenfalls könnte eine praktische
Nichtanwendbarkeit des Gesetzes eine derartige Gesetzesabweichung rechtfertigen. Die Beklagte hat insoweit jedoch
selbst eingeräumt, daß ihr eine Anwendung der Vorschrift des § 112 Abs. 3 AFG möglich ist. Im übrigen ist die
Beklagte darauf hinzuweisen, daß der Gesetzgeber selbst die von der Beklagten angesprochene
Nahtlosigkeitsproblematik gesehen und in § 112 Abs. 3 AFG dahingehend geregelt hat, daß auf die am Tage des
Ausscheidens des Arbeitnehmers aus dem Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Lohnabrechnungszeiträume
abzustellen ist, und nicht auf eventuelle nachfolgende Lohnabrechnungszeiträume, die noch nicht abgerechnet sind.
Angesichts dieser, in Übereinstimmung mit Sinn und Zweck des Alg bzw. Uhg getroffenen Entscheidung des
Gesetzgebers fehlt es an einer gesetzlichen Regelungslücke, die die Beklagte befugterweise schließen könnte.
Vielmehr ist sie an diese Entscheidung des Gesetzgebers über die Regelung der Nahtlosigkeitsproblematik gebunden,
ohne insoweit zu einer generell abweichenden Regelung in ihren Dienstanweisungen berechtigt zu sein. Allenfalls kann
ganz ausnahmsweise im konkreten Einzelfall eine Abweichung gerechtfertigt sein, so wie dies das BSG im Falle von
Waldfacharbeitern angenommen hat (vgl. BSG, Urteil vom 31. August 1976 – 12 RAr 57/74 – SozR 4100 § 112 Nr. 1).
Vorliegend ist eine vergleichbare Ausnahmefallgestaltung jedoch nicht gegeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision hat der Senat zugelassen, weil er der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimißt (§ 160 Abs. 2 Nr.
1 SGG).