Urteil des LSG Hessen vom 29.06.2006
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Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 29.06.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel S 8 12 KR 1540/02
Hessisches Landessozialgericht L 1 KR 7/05
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 8. Oktober 2004 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Vergütung von Medikamentengaben im Rahmen häuslicher Krankenpflege für eine
Versicherte der Beklagten.
Der Kläger ist Träger eines ambulanten Pflegedienstes, der sowohl Leistungen der Behandlungspflege nach dem
Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) als auch Leistungen der Grundpflege
und der hauswirtschaftlichen Versorgung nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch - Soziale Pflegeversicherung (SGB
XI) erbringt.
Die 1915 geborene Versicherte der Beklagten, die in ihrem Haushalt allein lebt und an fortschreitender Demenz leidet,
erhält seit April 2001 Sachleistungen der Pflegekasse nach der Pflegestufe I, die von dem Kläger erbracht worden
sind. Zudem erbrachte der Kläger auf der Grundlage vertragsärztlicher Verordnungen in der Zeit vom 1. Juli 2001 bis
zum 30. September 2001, vom 1. Oktober 2001 bis zum 31. Dezember 2001, vom 1. Januar 2002 bis zum 30. März
2002 sowie in der Zeit vom 1. April 2002 bis zum 30. Juni 2002 zu Gunsten der Versicherten Leistungen der
häuslichen Krankenpflege in Form von Medikamentengaben.
Mit Schreiben vom 20. August 2001 berechnete der Kläger für den Monat Juli 2001 eine Vergütung in Höhe von
386,75 DM (197,74 EUR ), mit Schreiben vom 13. September 2001 für den Monat August 2001 eine Vergütung in
Höhe von 353,40 DM (180,69 EUR), mit Schreiben vom 8. Oktober 2001 eine Vergütung für den Monat September
2001 in Höhe von 52,65 DM (180,31 EUR), mit Schreiben vom 2. Februar 2002 für den Monat Januar 2002 eine
Vergütung in Höhe von 182,74 EUR, mit Schreiben vom 18. März 2002 eine Vergütung für den Monat Februar 2002 in
Höhe von 170,09 EUR, mit Schreiben vom 12. April 2002 eine Vergütung für den Monat März 2002 in Höhe von
185,52 EUR sowie mit Schreiben vom 21. Mai 2002 eine Vergütung für den Monat April 2002 in Höhe von 178,00
EUR.
Mit den Schreiben vom 28. März 2002 und 5. Juni 2002 lehnte die Beklagte die Zahlung der Vergütung der
Medikamentengaben mit der Begründung ab, die Verabreichung der Medikamente gehöre zum Bereich der
Grundpflege und sei daher nur als "alleinige" Leistung abrechnungsfähig. Sobald der Pflegedienst im Rahmen seines
Besuches weitere Dienstleistungen erbringe, entfalle die gesonderte Abrechnungsmöglichkeit, und zwar auch dann,
wenn die weiteren Leistungen aus dem Bereich der Pflegeversicherung herrührten.
Der Kläger hat am 3. Dezember 2002 Klage erhoben und geltend gemacht, er habe nach dem gemäß § 132a SGB V
geschlossenen Rahmenvertrag sowie der dazu gehörigen Vergütungsvereinbarung Anspruch auf die Vergütung der
Medikamentengaben. Diese sei im streitigen Zeitraum als "alleinige" Leistung nach dem SGB V von dem Kläger
erbracht worden, wie es Voraussetzung nach der Vergütungsvereinbarung sei. Die von ihm beim gleichen
Pflegeeinsatz erbrachten ambulanten Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI) seien in diesem
Zusammenhang nicht zu berücksichtigen.
Das Sozialgericht Kassel hat mit Urteil vom 8. Oktober 2004 die Beklagte verurteilt, eine Vergütung für die durch den
Kläger erbrachten Medikamentengaben zu Gunsten der Versicherten in dem streitigen Zeitraum in Höhe von 1.275,09
EUR zu zahlen. In den Entscheidungsgründen hat das Gericht im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe aufgrund
des mit der Beklagten bestehenden Vertrages nach § 132 a Abs. 2 SGB V und der hierzu als Anlage 4 getroffenen
Vergütungsvereinbarung Anspruch auf die geltend gemachte Vergütung. Die Medikamentengabe falle nicht in die
Leistungspflicht der Pflegeversicherung, sondern sei eine Leistung der häuslichen Krankenpflege nach dem SGB V.
Der Vergütungsanspruch des Klägers scheitere auch nicht daran, dass die mit der Beklagten getroffene
Vergütungsvereinbarung unter Position 2.1.6 Arzneimittelgaben nur dann als abrechnungsfähig einstufe, wenn diese
als alleinige Leistung gewährt würden. Entgegen anderen Positionen der Vereinbarung seien Leistungen nach dem
SGB XI in die Position 2.1.6 nicht ausdrücklich einbezogen. Der Vergütungsanspruch des Klägers sei also nicht
deshalb ausgeschlossen, weil zugleich mit der Medikamentengabe Sachleistungen der Pflegeversicherung durch den
Kläger erbracht worden seien.
Gegen das ihr am 21. Dezember 2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 11. Januar 2005 Berufung beim
Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt. Sie trägt vor, wesentlich für die Auslegung der maßgeblichen
Vergütungsregelung sei, dass es der Wille der Vertragsparteien gewesen sei, eine gesonderte Vergütung der
Medikamentengabe dann nicht zu gewähren, wenn bei einem gleichzeitigen Pflegeeinsatz des betreffenden
Pflegedienstes andere Leistungen, und zwar auch solche nach dem SGB XI erbracht würden. Die Beklagte hat dazu
eine Stellungnahme des Justitiars des C. vom 21. September 2004 sowie eine eidesstattliche Versicherung des
Leiters der Abteilung häusliche Krankenpflege vom 22. Juni 2006 vorgelegt, der seinerzeit Verhandlungsführer der
Beklagten in den Vergütungsverhandlungen gewesen ist.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 8. Oktober 2004 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Hinsichtlich des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsvorgänge der
Beklagten Bezug genommen, die zum Verfahren beigezogen worden sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig aber unbegründet (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG).
Das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 8. Oktober 2004 ist nicht zu beanstanden. Der Kläger hat gegenüber der
Beklagten Anspruch auf die geltend gemachte Vergütung in Höhe von 1275,09 EUR für Medikamentengaben.
Zwischen den Beteiligten ist nicht (mehr) im Streit, dass der Kläger durch die Medikamentengaben der Versicherten
der Beklagten Behandlungspflege als Leistung häuslicher Krankenpflege nach § 37 SGB V erbracht hat.
Der Vergütungsanspruch ergibt sich aus Ziffer 2.16 der Vergütungsvereinbarung zu § 12 Abs. 1 des zwischen den
Beteiligten am 29. April 1996 geschlossenen Rahmenvertrages über häusliche Krankenpflege gemäß § 132 SGB V in
der Fassung vom 26. Mai 1994.
Ziffer 2.16 der Vergütungsvereinbarung zu dem Rahmenvertrag vom 29. April 1996 hat folgenden Inhalt:
"Arzneimittelabgabe und -überwachung als alleinige Leistung bei Patienten, die wegen Krankheit oder Behinderung
nicht in der Lage sind, ärztlich verordnete Medikamente nach Weisung des Arztes einzunehmen. Nur einmal pro
Besuch abrechnungsfähig."
Die Voraussetzungen von Ziffer 2.16 der Vergütungsvereinbarung liegen hier vor. Die Versicherte der Beklagten ist
nicht in der Lage gewesen, die ihr ärztlich verordneten Medikamente nach Weisung des Arztes einzunehmen. Der
Kläger hat die ärztlich verordneten Medikamentengaben an die Versicherte der Beklagten auch als "alleinige" Leistung
erbracht. Neben der Medikamentengabe sind keine weiteren Leistungen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege
nach dem SGB V gewährt worden. Die bei gleichem Pflegeeinsatz von dem Kläger erbrachten Leistungen nach dem
Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI) stehen der (zusätzlichen) Abrechnung und Vergütung der Medikamentengabe
nicht entgegen. Dies ergibt sich aus Wortlaut und systematischem Zusammenhang der Vergütungsregelung.
Vergütungsregelungen, die wie vorliegend für die routinemäßige Abwicklung von zahlreichen Behandlungsfällen bzw.
die Abrechnung mit zahlreichen Pflegediensten vorgesehen sind, können ihren Zweck - die Eignung für die tägliche
Praxis - nur erfüllen, wenn sie allgemein streng nach ihrem Wortlaut sowie den dazu vereinbarten Anwendungsregeln
gehandhabt werden und keinen Spielraum für weitere Bewertungen sowie Abwägungen belassen. Demgemäß sind
Vergütungsregelungen stets eng nach ihrem Wortlaut, ergänzend noch nach dem systematischen Zusammenhang,
auszulegen. Bewertungen und Bewertungsrelationen bleiben außer Betracht. Soweit es sich in der Praxis erweist,
dass es zu Bewertungsunstimmigkeiten und sonstigen Ungereimtheiten kommt, ist es Aufgabe der Vertragspartner,
die dafür zuständig sind, dies durch Einigung und gegebenenfalls durch Weiterentwicklung der
Abrechnungsbestimmungen zu beheben. Deren Wille ist insoweit auch von den Gerichten zu berücksichtigen (BSG,
Urteil vom 13. Dezember 2001 - B 1 KR 1/01 R – SozR 3-5565 § 14 Nr. 2 und vom 21. Februar 2002 - B 3 KR 30/01 R
- SozR 3-5565 § 15 Nr. 1; vgl. auch Hessisches Landesozialgericht, Urteil vom 3. März 2005 - L 1 KR 380/03 -
JURIS). Dies gilt indessen nur dann, wenn der Wille der Vertragspartner übereinstimmt und auch dokumentiert ist, sei
es im Rahmen einer Protokollnotiz zu der vertraglichen Regelung oder in dem zur Überwindung von
Meinungsverschiedenheiten vereinbarten Verfahren (hier dem Einigungsausschuss nach § 9 des Rahmenvertrages).
Nach dem Wortlaut und der Systematik der hier einschlägigen Ziffer 2.16 der Vergütungsregelung zu dem
Rahmenvertrag vom 29. April 1996 bezieht sich die Einschränkung "alleinige" Leistung ausschließlich auf Leistungen
nach dem SGB V.
Die Vergütungsvereinbarung ist Bestandteil des Rahmenvertrages vom 29. April 1996, der nach seiner Überschrift
"Rahmenvertrag über häusliche Krankenpflege gemäß § 132 SGB V" allein auf die in der betreffenden Vorschrift
geregelte Versorgung mit häuslicher Krankenpflege nach dem SGB V abstellt. In § 2 des Rahmenvertrages werden
entsprechend als Gegenstand des Rahmenvertrages genannt die Versorgung von Versicherten mit a) häuslicher
Krankenpflege ( ...) gem. § 37 Abs. 1 SGB V, b) Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen
Behandlung erforderlich ist (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V), c) häuslicher Krankenpflege gem. § 37 Abs. 2 Satz 2 und 3
SGB V, soweit die Satzung der Krankenkasse dies vorsieht, d) häusliche Pflege gem. § 198 RVO (d.h. bei
Schwangerschaft und Mutterschaft).
Dass die Vergütungsvereinbarung zwischen Leistungen nach dem SGB V und dem SGB XI unterscheidet, zeigen die
Ziffern 4.1 – Hausbesuchspauschale für Tagesbesuche und 4.2 – Hausbesuchspauschale für Sonderbesuche. In
beiden Fällen heißt es: "Werden ausschließlich Leistungen nach dem SGB XI erbracht, trägt die Pflegekasse die
Hausbesuchspauschale allein." Ein solcher Hinweis auf das SGB XI ist in der Ziffer 2.16 der Vergütungsvereinbarung
gerade nicht enthalten. Dies lässt angesichts des oben dargestellten Regelungsgehaltes des Rahmenvertrages nur
den Schluss zu, dass zeitgleich durch den Pflegedienst erbrachte Leistungen nach dem SGB XI die Abrechnung der
Medikamentengabe nach der Vergütungsziffer 2.16 nicht berühren.
Entgegen dem Vorbringen der Beklagten lässt sich vorliegend auch nicht ein übereinstimmender Wille der
Vertragsparteien feststellen, neben Leistungen nach dem SGB XI durch den Pflegedienst bei gleichem Pflegeeinsatz
die Medikamentengabe nicht zusätzlich zu vergüten. Soweit die Beklagte darauf abhebt, dass bereits bei der
Vorgängerregelung in dem "Rahmenvertrag über häusliche Krankenpflege und häusliche Pflegehilfe gemäß § 132 SGB
V" vom 4. Februar 1993 keine - zusätzliche - Vergütung für die Medikamentengabe bei zeitgleichen Leistungen wegen
Schwerpflegebedürftigkeit erfolgt sei, überzeugt dies nicht. Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit waren vor
Inkrafttreten des Pflegeversicherungsgesetzes am 1. Januar 1995 in § 55 SGB V a.F. geregelt und eine Leistung der
Krankenversicherung. Unstreitig ist ein solcher Wille auch niemals dokumentiert worden. Nach den Angaben der
Beklagten im Berufungsverfahren gibt es weder ein offizielles Dokument über das Ergebnis der
Vergütungsverhandlungen im Jahre 1996 noch einen dahingehenden Beschluss oder ein Protokoll des
Einigungsausschusses. Nach den übereinstimmenden Angaben der Beteiligten im Termin zur mündlichen
Verhandlung vor dem Senat sind die bereits seit 1997/1998 bestehenden Meinungsverschiedenheiten über die
Vergütung der Medikamentengabe mehrfach in dem für diesen Fall vorgesehenen Einigungsausschuss nach § 9 des
Rahmenvertrages vom 29. April 1996 diskutiert worden, ohne dass indes eine Einigung erzielt werden konnte.
Nach dem klaren Wortlaut des Vertrags und mangels eines dokumentierten anderen übereinstimmenden Willens der
Vertragspartner ist mithin neben Leistungen des SGB XI die Medikamentengabe zusätzlich zu vergüten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen. Bei der
Auslegung des Rahmenvertrags handelt es sich um Landesrecht. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Geltung des
Vertrags über die Grenzen des LSG-Bezirks hinaus erstreckt (vgl. BSG, Beschluss vom 11. Mai 2006 – B 3 KR 11/05
R).