Urteil des LSG Hessen vom 29.03.2017
LSG Hes: treu und glauben, ulcus duodeni, behandlung, tod, waisenrente, professor, auskunft, verwirkung, magengeschwür, marine
Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 24.10.1972 (rechtskräftig)
Sozialgericht Gießen
Hessisches Landessozialgericht L 4 V 854/71
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 29. Juni 1971 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Der Vater des Klägers war 1925 geboren. Im Juni 1941 kam er zur deutschen Kriegsmarine. Nach einer Auskunft der
deutschen Dienststelle in B. von 28. Juni 1956 fuhr er noch 1943 zur See. Nach dem Kriege war er selbständiger
Fuhrunternehmer in C ... Er verstarb am 15. Mai 1950 nach Operation eines Magengeschwürs im Krankenhaus in C ...
Die Mutter des Klägers beantragte am 5. Januar 1953 für sich und den Kläger Rente. Das Versorgungsamt H. lehnte
den Antrag mit Bescheid vom 18. Juni 1956 ab. Diesen Bescheid stellte der Beklagte nicht dem Vertreter, sondern
der Mutter des Klägers selbst zu. Der Vertreter des Klägers teilt am 6. September 1956 mit, daß er weiter bemüht sei,
Unterlagen aus C. beizubringen.
Am 6. März 1967 beantragte die Mutter des Klägers erneut die Gewährung von Waisenrente.
Aus den beigezogenen Krankenunterlagen ergeben sich keine Hinweise dafür, daß der Verstorbene während des
Krieges in Lazaretten wegen Magenbeschwerden worden wäre.
Professor Dr. W., Leiter der chirurgischen Abteilung des Bezirkskrankenhauses in C., teilte im Schreiben vom 17.
Oktober 1967 mit, daß der Verstorbene zum ersten Male vom 5. Oktober 1949 bis 23. Oktober 1949 auf der inneren
Abteilung des dortigen Krankenhauses gelegen habe. Er habe damals nach den Eintragungen auf dem Krankenblatt
ein Ulcus duodeni gehabt, das nach einer Pyrifer-Kur abgeklungen sei, sodaß beim Verstorbenen keine Beschwerden
mehr vorgelegen hatten. Am 6. April 1950 sei er in der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses aufgenommen
worden.
Die Untersuchung habe eine Pylorustenose bei hochgradig reduziertem Allgemeinzustand ergeben. Am 9. Mai 1950
sei der Magen nach Billroth II operiert worden. Dabei habe sich ein tiefes kallöses Ulcus zum Pankreas hin gefunden.
Außerdem sei der Bulbusteil des Duodenums hochgradig verengt gewesen. Am 4. Tage nach der Operation sei eine
starke Atonie aufgetreten, die trotz intensiver ärztlicher Behandlung nicht beherrscht werden konnte, sodaß am 15.
Mai 1950 der Tod eingetreten sei.
Dr. O., Facharzt für innere Krankheiten von der Versorgungsärztlichen Untersuchungsstelle des Beklagten vertrat in
der ärztlichen Äußerung vom 2. November 1967 die Auffassung, daß Geschwürsleiden des Magens und des
Zwölffingerdarms im allgemeinen hinsichtlich der Entstehung, des Beginns und des wechselvollen, lang andauernden
Laufes durch Umstände bedingt seien, die in der Person des Kranken selbst liegen. Man müsse bei einem
Geschwürsleiden des Zwölffingerdarmes zwischen den einzelnen Schleimhautdefekten und dem Geschwür, seiner
geringen Heilungsneigung und seiner schließlichen Abheilung und der Neigung des Zwölffingerdarmes, immer neue
solche Oberflächendefekte mit geringer Heilungsneigung hervorzubringen, unterscheiden. Der Kläger begehre die
Anerkennung des Geschwürleidens des Verstorbenen als solches, nicht die eines einzelnen Geschwürs. Bei
Seeleuten würden nach dem Handbuch der Berufskrankheiten von Kölsch (Seite 481 ff) Geschwürsleiden des
Zwölffingerdarmes nicht als Berufskrankheiten angeführt. Hieraus ergebe sich, daß diese Erkrankung bei Seeleuten
nicht häufiger sei als bei anderen Personen. Im übrigen lägen keine medizinischen Hinweise dafür vor, daß der
Verstorbene erheblich unter Seekrankheit gelitten habe. Gerade die Tatsache, daß er etwa 2 Jahre auf einem Schiff
gefahren sei, spreche gegen eine Neigung zur Seekrankheit, da er sonst wohl bald zu einer Landeinheit versetzt
worden wäre.
Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Zwölffingerdarmgeschwürsleiden, daß zur Magenresektion und damit
zum Tod des Verstorbenen führte, und einer Schädigung durch den Wehrdienst sei daher zu verdienen.
Der Beklagte lehnte daraufhin am 9. November 1967 den Erlaß eines Bescheides gemäß § 40 des
Verwaltungsverfahrensgesetzes (Verw. Verf. G.) ab und hielt an der Entscheidung vom 18. Juni 1956 fest.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 24. November 1967 Widerspruch ein, weil er der Auffassung war, daß der
Bescheid vom 8. Juli 1956 unrichtig sei.
Der Beklagte hob mit Bescheid vom 22. März 1968 den Bescheid vom 6. März 1967 auf und lehnte den Antrag vom
6. März 1967 mit der Begründung ab, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Militärdienst und Tod sei
unwahrscheinlich. Geschwürsbildungen und Zwölffingerdarmbereich seien in allgemeinen durch Umstände in der
Person des Kranken bedingt und nicht durch Umwelteinflüsse. Schiffsschwankungen bei der Marine könnten nach
ärztlicher Erfahrung Zwölffingerdarmgeschwürsleiden nicht begünstigen.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein, den der Beklagte mit Bescheid vom 3. Mai 1968
zurückwies.
Die Mutter des Klägers legte hiergegen als seine Vertreterin am 24. Mai 1968 Klage ein. Das Sozialgericht Gießen lud
durch Bescheid vom 28. Februar 1969 das Landesversorgungsamt H. zum Rechtsstreit bei. Es holte eine Auskunft
bei Professor W., vom Bezirkskrankenhaus C. darüber ein, wann erstmals beim Verstorbenen ein Magenleiden bzw.
ein Magengeschwürsleiden aufgetreten sei, ob er schon vor 1949 in ambulanter Behandlung gewesen sei und worauf
der Arzt die Auffassung stützte, daß das Magenleiden während des Krieges entstanden sei. Es fragte weiter an,
welche Angaben der Verstorbene über das erstmalige Auftreten von Magengeschwüren gemacht habe, wann er
erstmals im Krankenhaus in C. behandelt worden sei, insbesondere ob er ab 1945 Rollkuren im dortigen Krankenhaus
gemacht habe.
Professor W. gab ein, der Verstorbene habe bei seiner Behandlung im dortigen Krankenhaus angegeben, daß er im
zweiten Weltkrieg zur Marine eingezogen worden sei, schwer unter Seekrankheit zu leiden gehabt und schließlich
einen Dauermagenschmerz bekommen habe. Nach den Mahlzeiten habe er erbrechen müssen. Nach der Versetzung
zum Heer habe er unter Nüchternschmerz gelitten und sei deswegen in der Tschechoslowakei und in Frankreich in
Lazaretten behandelt worden. Darüber, ob der Verstorbene ab Mai 1945 laufend im chirurgischen Behandlung gewesen
sei, könne er keine genauen Angaben machen. Nach den Krankenblättern sei er 1945 und 1949 auf der internen
Station und 1950 auf der chirurgischen Station des Krankenhauses behandelt worden.
Frau H. F. bestätigte, daß der Verstorbene 1940 schon krank gewesen sei. Die gleiche Erklärung gab H. J. aus C. am
3. Januar 1970 ab. Zum Nachweis dafür, daß der Verstorbene bereits 1945 schwer krank war und deshalb von
russischen Hausdurchsuchungen verschont blieb, berief sich die Klägerin auf eine russische Bescheinigung. Die
Übersetzung dieser Bescheinigung ergab aber, daß sie nur einen Hinweis darüber enthielt, daß der Verstorbene bei
der Stadtverwaltung arbeitete und deshalb unter dem Schutz der Kommandantur stehe. H. B. bestätigte am 11. Mai
1971, daß sein Bruder vor dem Kriege gesund gewesen und sich das Magenleiden als Soldat zugezogen habe.
Das Sozialgericht Gießen wies die Klage mit Urteil vom 29. Juni 1971 ab. Der Bescheid vom 18. Juni 1956 sei
bindend geworden. Mit Recht sei der Beklagte davon ausgegangen, daß der Kläger die Erteilung eines
Zugunstenbescheides begehre. Der Beklagte habe zu Recht die Erteilung eines solchen Bescheides abgelehnt, weil
Waisenrente nicht gewährt werden könne. Es könne nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit angenommen
werden, daß der Tod des Verstorbenen auf ein durch Einwirkungen des Kriegsdienstes verursachtes Magenleiden
zurückgehe. Der Kläger habe zwar gemeint, daß sich aus einer Bescheinigung der russischen Besatzungsmacht an
der Wohnungstür Anhaltspunkte für ein Fortbestehen des Magengeschwürsleidens bis zum Ableben im Jahre 1950
ergäbe. Diese Auffassung sei aber irrig, denn die Übersetzung des Schreibens habe ergeben, daß der Verstorbene
nicht wegen Krankheit, sondern wegen seiner Beschäftigung bei der Stadtverwaltung von weiteren
Hausdurchsuchungen verschont bleiben sollte.
Der Kläger besuchte nach seinen Angaben bis Juli 1971 die staatliche Technikerschule in A ...
Gegen das am 29. Juli 1971 zugestellte Urteil legte die Mutter des Klägers als Bevollmächtigte am 23. August 1971
Berufung ein.
Der Kläger beantragte, das Urteil des Sozialgerichts Gießen aufzuheben und den Beklagten zur Leistung von
Waisenrente für die Zeit ab 1. Januar 1953 bis 31. Juli 1971 zu verurteilen.
Der Beklagte beantragte, die Berufung zurückzuweisen.
Durch Bescheid vom 23. Juni 1972 hob der Senat den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 28. Februar 1969,
durch den das Landesversorgungsamt H. beigeladen wurde, auf.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Behörden- und Gerichtsakten, die Gegenstand der mündlichen
Verhandlung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung wurde form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist auch statthaft. Berufungsausschließungsgründe stehen ihr
nicht entgegen.
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht Gießen hat im Ergebnis zu Recht die Klage abgewiesen.
Es hat allerdings unzutreffend angenommen, daß der Bescheid des Versorgungsamtes II H. vom 28. Juni 1956
bindend geworden wäre und daher der Kläger den Erlaß eines Zugunstenbescheides gemäß § 40 Verw. Verf. G.
erstrebe. Dieser Bescheid war an die Mutter des Klägers gerichtet. Da die Mutter des Klägers im Antrag vom 30.
Dezember 1952 für sich und den Kläger Hinterbliebenenversorgung beantragt hatte, wurde mit dem Bescheid vom 28.
Juni 1956 auch der Hinterbliebenenanspruch des Klägers abgelehnt. Daß er in dem Bescheid nicht ausdrücklich
wurde, ist deshalb unbeachtlich, weil seine Mutter gemäß § 1626 BGB seine gesetzliche Vertreterin war. Ihr oblag
nämlich die Personensorge für den damals achtjährigen Kläger.
Die Mutter des Klägers hatte G. T. vom Verband der H., K. und V. Vollmacht erteilt. Da der Bescheid vom 18. Juni
1956 nicht an diesen, sondern an die Mutter des Klägers zugestellt wurde, war § 28 Verw. Verf. G. (alte Fassung) eine
"Zustellung” nicht erfolgt, mithin eine Rechtsbehelfsfrist (§ 84 SGG) nicht in Lauf gesetzt; bei dieser Sachlage sind
auch die besonderen Bestimmungen des § 66 SGG mit § 84 Abs. 2 SGG nicht anzuwenden.
Der Bescheid wurde auch nicht, wie der Beklagte und das Sozialgericht Gießen annehmen, aus dem Gesichtspunkt
der Verwirkung bindend. Daß Verwirkung von Amtsbehelfen möglich sei, sieht das Gesetz nicht vor. Es besteht auch
kein Anlaß, eine solche Verwirkung durch Überlegungen rechtsvergleichender oder rechtsfortentwickelnder Art
anzunehmen. Wenn das Bundessozialgericht sogar für den materiellen Anspruch (vergl. BSG Bd. 7 Seite 112, 114
und Bd. 16 Seite 83 ff) den bloßen Zeitablauf allein nicht genügen lässt, sondern dem Rentenbewerber einen
besonderen Vertrauensschutz dahin zubilligt, dass über seinen gesetzlich begründeten und fristgerecht angemeldeten
Anspruch auch entscheiden werde, dann kann erst recht nicht von ihm verlangt werden, dass er etwa die
Verwaltungsbehörde laufend an die Erledigung ihrer Pflichten erinnert oder gar von der Untätigkeitsklage Gebrauch
macht. Vielmehr würde der dem Rechtsinstitut der Verwirkung zugrunde liegende Grundsatz von Treu und Glauben in
Rechtsverkehr (§ 242 BGB) eher vom Beklagten verletzt sein, wenn er sich nicht an die ihm gegebenen Vorschriften
hielt und nur auf dieser Verletzung fussen wollte.
Der Antrag vom 6. März 1967 geht also mangele Bindung des Bescheides vom 18. Juni 1956 nicht auf Erteilung eines
Zugunstenbescheides und der Beklagte hat ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 40 Verw. Verf. G. einen sog.
Zweitbescheid erlassen (vgl. BSG Band 10 Seite 248).
Der Beklagte hat aber zu Recht die Gewährung von Waisenrente abgelehnt, weil der ursächliche Zusammenhang
zwischen schädigenden Ereignissen des Krieges und dem Tod seines Vaters nicht wahrscheinlich ist. Der Tod ist
nach Durchführung einer Magenoperation, die wegen einer Pylorustenose und eines tiefen kallösen Magengeschwürs
erforderlich war, eingetreten. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß das Magengeschwür durch schädigende
Ereignisse während des Krieges verursacht wurde. Wie Dr. O. in seiner ärztlichen Stellungnahme zutreffend
ausführte, ist zwischen dem Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwüren zu unterscheiden. Letztere treten in kürzeren
oder längeren Zeitabständen mit günstigerer oder schwererer Heilungstendenz auf, während ersteres als Anfälligkeit
des Einzelnen zu Schleimhautdefekten mit nachfolgender Geschwürsbildung anzusehen ist. Das Magen- und
Zwölffingerdarmgeschwürsleiden kann nicht durch Kriegsereignisse ausgelöst werden. Vielmehr ist dies nur für das
einzelne Geschwür möglich. Daß aber das beim Verstorbenen zum Tode führende Geschwür bereits während des
Krieges beim Verstorbenen kein Magengeschwür ärztlich festgestellt wurde. Die beigezogenen Krankenpapiere
enthalten keine Hinweise, daß der Verstorbene wegen einer Magenkrankung behandelt wurde. Die im
Verwaltungsverfahren gehörten Personen brauchten bei dieser Schlage nicht als Zeugen vernommen zu werden, da
sie als medizinische Laien über das Bestehen eines Magengeschwürs während der Kriegsdienstzeit keine
überzeugenden Angaben machen können. Ihre Darlegungen sind für sich allein wertlos. Wie Dr. O. in seiner ärztlichen
Stellungnahme ausführte, sind in der medizinischen Literatur keine Hinweise zu finden, daß bei Seeleuten durch die
bei ihnen oft auftretende Seekrankheit Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre häufiger seien wie bei auf dem Land
lebenden Menschen.
Professor W. konnte seine Erklärung vom 4. Februar 1967, das Magengeschwürsleiden habe sich der verstorbene im
Krieg zugezogen, bei genauerer Befragung nicht aufrechterhalten. Er mußte in der Auskunft von 26. November 1970
einräumen, daß er die Meinung, das Magenleiden gehe auf den Kriegsdienst bei der Marine zurück, aus den
Schilderungen des Verstorbenen bei der Behandlung gewonnen hatte. Ob der Verstorbene tatsächlich während des
Krieges an einem Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwürsleiden litt, ist wegen der fehlenden Behandlung und damit
Befunderhebung während des Krieges ungewiß. Es ist aber weiter ungewiß, ob ein etwa in damaliger Zeit
aufgetretenes Magengeschwür bis Mai 1950 fortdauerte, oder ob es sich bei diesem Geschwür nicht um eine
Neuentwicklung handelte. Nach der Auskunft von Professor W. war der Verstorbene 1945 und dann wieder 1949 auf
der inneren Station des Bezirkskrankenhauses C. in Behandlung. Erst 1950 wurde die Magenresektion wegen des
Magengeschwürs notwendig. Die Krankengeschichte spricht für ein schubweises Auftreten neuer Magen- und
Zwölffingerdarmgeschwüre. Andererseits handelt es sich bei dem in Rede stehenden Leiden auch nicht um ein
diensttypisches Leiden, sondern es betrifft auch nicht Kriegsteilnehmer und in Friedenszeiten lebende Menschen. Da
nicht festgestellt werden kann, daß das Magengeschwür und damit der Tod durch schädigende Ereignisse des § 1
BVG verursacht wurde, steht dem Kläger keine Waisenrente zu. Das Sozialgericht hat im Ergebnis zu Recht die
Klage abgewiesen.
Die Berufung konnte keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.