Urteil des LSG Hessen vom 07.05.1993
LSG Hes: berufliche eingliederung, verordnung, arbeitslosigkeit, belgien, eugh, leistungsbezug, arbeitsamt, zusammenrechnung, schneiderin, gleichstellung
Hessisches Landessozialgericht
Beschluss vom 07.05.1993 (rechtskräftig)
Hessisches Landessozialgericht L 10 Ar 1211/91
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Dem Europäischen Gerichtshof wird gemäß Artikel 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) zur Vorabentscheidung folgende Frage vorgelegt:
Ist Artikel 67 Abs. 1 der EWG-Verordnung 1408/71 im Falle eines Grenzgängers, der im Beschäftigungsland
(Bundesrepublik Deutschland) aufgrund einer mehrjährigen Versicherungspflichtigen Beschäftigung einen Anspruch
auf Arbeitslosengeld von mehr als 156 Tagen erworben hat, jedoch aufgrund des Artikels 71 Abs. 1 a (ii) Leistungen
im Wohnsitzland bezogen hat, bei späterer Wohnsitznahme im Beschäftigungsland dahingehend auszulegen, daß der
Bezug von Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Wohnsitzland dem Bezug von Leistungen bei Arbeitslosigkeit im
Beschäftigungsland gleichzustellen ist?
Tatbestand:
I.
Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch der Klägerin auf die Gewährung von Unterhaltsgeld (Uhg) in Form eines
Zuschusses statt eines Darlehens im Streit.
Die Klägerin hat als belgische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Belgien in der Zeit vom 2. August 1977 bis zum 17.
Juli 1980 in A. eine Lehre als Schneiderin durchlaufen und war nach deren Abschluß anschließend vom 18. Juli 1980
bis zum 9. September 1983 in A. als Schneiderin versicherungspflichtig beschäftigt. Danach war sie beim Arbeitsamt
in V. Belgien arbeitslos gemeldet und bezog dort Arbeitslosengeld (Alg) bis zum 12. Juni 1985.
Am 14. Juni 1985 nahm die Klägerin ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland und beantragte am 15. Juli
1985 beim Arbeitsamt O. die Förderung einer beruflichen Fortbildungsmaßnahme zur Schnittdirektrice bei der Schule
für Mode und Schnittechnik M. & Sohn in D ... Es handelte sich hierbei um eine Vollzeitmaßnahme vom 15. Juli 1985
bis zum 10. Januar 1986. Dabei legte die Klägerin u.a. das Formular E 303/1 des belgischen Trägers der
Arbeitslosenversicherung vor, demzufolge die Klägerin noch Anspruch auf Leistungen für eine Dauer von 79 Tagen,
längsten jedoch bis zum 12. September 1985 habe.
In seiner Stellungnahme vom 27. September 1985 stellte der zuständige Berater der Klägerin die
arbeitsmarktpolitische Zweckmäßigkeit der Maßnahme fest und vermerkte überdies, daß der Leistungsbezug in
Belgien (insgesamt 558 Tage) zur Erfüllung des § 46 Abs. 1 2. Alternative AFG beitrage. Der Berater sah die
Voraussetzungen für eine zweckmäßige Förderung gemäß § 44 Abs. 2 a AFG als erfüllt an.
Mit Bescheid vom 30. September 1985 bewilligte die Beklagte daraufhin die Maßnahmekosten gemäß § 45 AFG und
mit weiterem Bescheid vom 2. Oktober 1985 Uhg als Darlehen für die Dauer der Maßnahme.
Gegen letzteren Bescheid legte die Klägerin am 28. Oktober Widerspruch ein und vertrat die Auffassung, in ihrem Fall
seien die Voraussetzungen für die Zahlung des Unterhaltsgeldes als Zuschuß erfüllt.
Mit Bescheid vom 7. Januar 1987 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und begründete dies damit, daß die
Klägerin die Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) nicht erfülle und insoweit auch die
Normen der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 nicht angewandt werden könnten, da diese gemäß Artikel 4a nicht für
Leistungen der individuellen Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung gelten würden. Aus den Akten der
Beklagten ist insoweit ersichtlich, daß von einer Aufhebung der ursprünglichen Bewilligungsbescheide jedoch Abstand
genommen wurde.
Mit der am 26. Januar 1987 beim Sozialgericht Frankfurt am Main (SG) erhobenen Klage verfolgte die Klägerin ihren
Anspruch auf zuschußweise Gewährung des Unterhaltsgeldes weiter.
Mit Urteil vom 30. August 1991 gab das SG der Klage statt. Hinsichtlich der zuschußweisen Gewährung des
Unterhaltsgeldes gelangte die Kammer zu der Überzeugung, daß es sich vorliegend um einen Fall der notwendigen
Förderung im Sinne des § 44 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AFG handelte, der erst aufgrund der Teilnahme der Klägerin an der
Bildungsmaßnahme die eingetretene Arbeitslosigkeit durch eine berufliche Eingliederung habe beseitigt werden
können. Die Klägerin er fülle ferner die Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 Satz 1 AFG, da sie innerhalb der letzten 3
Jahre vor Beginn der Maßnahme zumindest mehr als 156 Tage Alg bezogen habe. Aufgrund der Rechtsprechung des
EuGH (Urteil vom 4.6.1987 – Az.: 375/85 – = SozR 6050 Art. 67 Nr. 3) mache es keinen Unterschied, ob Leistungen
zur Berufsförderung an Arbeitslose oder an von Arbeitslosigkeit lediglich bedrohte Arbeitnehmer gewährt würden, in
jedem Falle habe eine Zusammenrechnung bzw. Anrechnung der Versicherungs- und Beschäftigungszeiten im Sinne
des § 67 der EG-Verordnung Nr. 1408/71 zu erfolgen. Auf die Entscheidungsgründe im übrigen wird ergänzend Bezug
genommen.
Gegen dieses ihr am 6. November 1991 zugestellte Urteil richtet sich die am 2. Dezember 1991 eingelegte Berufung
der Beklagten. Sie vertritt die Auffassung, die Klägerin habe als Grenzgängerin gemäß Artikel 71 Abs. 1 a Ziff. ii der
EG-Verordnung 1408/71 einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach belgischem Recht gehabt. Insofern sei
die Auffassung des SG nicht zutreffend, daß im Jahre 1983 ein Anspruch auf Gewährung von Arbeitslosengeld nach
deutschem Recht entstanden sei und für die Klägerin zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Arbeitslosengeld am 14.
Januar 1986 noch eine Restanspruchsdauer von 79 Tagen bestanden habe. Die Ausstellung der Bescheinigung E
303/1 sei somit nicht rechtens gewesen.
Hinsichtlich der Frage der zuschußweisen Gewährung von Unterhaltsgeld sei festzustellen, daß die Klägerin die
Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 Satz 1 2. Alternative AFG nicht erfülle. Zwar habe die Klägerin offensichtlich in der
maßgeblichen Zeit Leistungen von dem zuständigen Träger in Belgien bezogen, dieser Leistungsbezug begründe
jedoch keinen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsgeld, denn im Hinblick auf die Entscheidung des EuGH vom 7.
März 1985 (Az.: 145/84), mit welcher die Anwendung des Artikels 69 der EG-Verordnung 1408/71 auf voll arbeitslose
Grenzgänger wegen der speziellen Regelung des Artikel 71 Abs. 1 a Ziff. ii verneint worden sei, dürfte für diesen
Personenkreis auch die Anwendung des Artikel 67 ausgeschlossen sein.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 30. August 1991 insoweit aufzuheben,
als die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 2. Oktober 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 7. Januar 1987 verurteilt worden ist, Unterhaltsgeld als Zuschuß für die Zeit vom 15. Juli 1985 bis zum 11.
Januar 1986 zu gewähren.
Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und vertritt die Auffassung, in ihrem Fall würden sich
die Ansprüche sowohl nach EG-Recht als auch nach dem originären deutschen Recht ergeben.
Entscheidungsgründe:
II.
Für den geltend gemachten Anspruch der Klägerin auf zuschußweise Gewährung von Unterhaltsgeld gemäß § 44 Abs.
2 AFG ist nämlich Vortrage die Frage, ob die Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 AFG, nämlich der Bezug von
Arbeitslosengeld aufgrund eines Anspruchs von einer Dauer von mindestens 156 Tagen oder im Anschluß daran
Arbeitslosenhilfe vorliegen. Nach Ansicht der Beklagten ist der Bezug von Leistungen gemäß Artikel 71 Abs. 1 a (ii)
hierfür nicht ausreichend. Für die Auffassung der Beklagten spricht dabei die Überlegung, daß die Einzelheiten des
Leistungsbezugs bei Arbeitslosigkeit in Deutschland und Belgien – insbesondere was die Dauer des
Arbeitslosengeldanspruchs betrifft – unterschiedlich ausgestaltet sind, so daß bei einer Gleichstellung des
ausländischen Leistungsbezuges der inländische Leistungsbezug – z. B. bei Erschöpfung des Alg-Anspruches und
fehlendem Anspruch auf Anschluß-Alhi, gegenüber dem ausländischen Leistungsbezug diskriminiert würde. Art. 67
der EWG-VO Nr. 1408/71 regelt selbst lediglich die Zusammenrechnung der Versicherungs- oder
Beschäftigungszeiten, nennt jedoch nicht Zeiten des Bezugs von Alg oder Alhi. Gegen die Ansicht der Beklagten
spricht jedoch die Überlegung, daß ein genereller Ausschluß der Anrechenbarkeit des ausländischen
Leistungsbezuges im konkreten Fall zu einer mit den Artikeln 47 und 48 ff EWGV kaum zu vereinbarenden
Schlechterstellung infolge der Anwendung der Regelung des Artikels 71 Abs. 1 a (ii) führen würde (vgl. EuGH, Urteil
vom 24.11.1983 – Az.: 320/82 in SozR 6050 Abs. 77 Nr. 4).
Da nach der Rechtsprechung des angerufenen Gerichtes für den hier gegebenen Fall einer arbeitslosen Klägerin
Leistungen zur Förderung der beruflichen Fortbildung "Leistungen bei Arbeitslosigkeit” im Sinne des Artikels 67 Abs. 1
in Verbindung mit Artikel 4 Abs. 1 g der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 sind (EUGH, Urteil vom
4. Juni 1987 – Az.: 375/85), ist die Frage somit entscheidungserheblich und die Vorlage erforderlich.