Urteil des LSG Hessen vom 06.07.2007
LSG Hes: anerkennung, berufskrankheit, einwirkung, eintritt des versicherungsfalls, merkblatt, entschädigung, kausalität, ärztliche untersuchung, universität, muskelatrophie
Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 06.07.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt S 3 U 1/95
Hessisches Landessozialgericht L 7 U 8/06
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 15. Mai 2001 aufgehoben.
II. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 23. Juni 1992 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 1994 verurteilt, die bei der Klägerin vorliegende Polyneuropathie als
Berufskrankheit anzuerkennen und in gesetzlichem Umfang zu entschädigen.
III. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Rechtszüge zu erstatten. IV.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Anerkennung und Entschädigung einer Polyneuropathie als Berufskrankheit.
Die 1938 geborene Klägerin absolvierte nach dem Schulabschluss in D. 1955 bis 1957 ein Praktikum bei einem
Zeitungsverlag. Von 1957 bis 1961 besuchte sie die Werkkunst-Schule in D. Danach schlossen sich eine Tätigkeit als
Leiterin einer Kunstgalerie und eine Ausbildung für Gestaltung (Institut für Gestaltung in M.) von 1962 bis 1971 an.
Von 1971 bis 1981 arbeitete die Klägerin als freie Mitarbeiterin für Unternehmen und erstellte insbesondere Grafik-
Entwürfe. Ab dem 1. September 1981 war die Klägerin als Mitarbeiterin der Requisitenabteilung, ab 16. August 1982
als deren Leiterin am Staatstheater D. beschäftigt. Ihr letzter Arbeitstag war der 1. Juni 1985. Ab 2. Juni 1985 war sie
wegen einer Muskelatrophie von ihrem Hausarzt, Herrn Dr. N., arbeitsunfähig geschrieben. Das Leiden der Klägerin
verschlechterte sich auch nach dem Ausscheiden aus der beruflichen Tätigkeit zunächst. Eine Rückkehr an den
Arbeitsplatz erfolgte nicht mehr. Seit März 1986 bezieht die Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Vom 10. Dezember 1985 bis 4. März 1986 befand sich die Klägerin auf Kosten der BfA in einer medizinischen
Rehamaßnahme in der O.Klinik, S ... Im Entlassungsbericht vom 8. April 1986 äußern die Ärzte der Klinik den
Verdacht auf eine Polyneuropathie. Ursächlich könnten diverse Chemikalien in Frage kommen, mit denen die Klägerin
beruflich arbeite. Medikamente, Alkohol oder ein Diabetes kämen ursächlich nicht in Frage.
Mit Schreiben vom 12. Januar 1987 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Anerkennung der Polyneuropathie
als Berufskrankheit.
Der von der Beklagten beteiligte Hessische Landesgewerbearzt holte ein neurologisches Gutachten bei Priv.-Doz. Dr.
S., Neurologische Klinik der J. Universität in G.ein. Dieser Arzt veranlasste zunächst eine neurophysiologische
Zusatzbegutachtung bei Dr. H., Abteilung klinische Neurophysiologie der J.-Universität in G. In seinem Gutachten
vom 11. November 1988 kommt dieser Mediziner zu dem Ergebnis, dass zweifellos eine vorwiegend motorische
Polyneuropathie bestehe. Priv.-Doz. Dr. S. bestätigt daraufhin in seinem Gutachten vom 1. Dezember 1988 das
Vorliegen der Polyneuropathie, vertritt jedoch den Standpunkt, dass sich eine toxische Polyneuropathie weder
beweisen noch ausschließen lasse. Der Hauptgrund hierfür liege darin, dass die Klägerin zu keinen weiteren
Untersuchungen, insbesondere einer Lumbalpunktion bereit gewesen sei. Da eine toxische Ursache möglich sei, solle
ein arbeitsmedizinisches Gutachten erstellt werden.
Am 18. Oktober 1989 suchte der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten (TAD) den Arbeitsplatz der Klägerin am
Staatstheater auf. In der Stellungnahme des Technischen Aufsichtsbeamten Dipl.-Ing. Sa. vom 11. Dezember 1989
heißt es u.a.: Eine Messung der evtl. Schadstoffkonzentration in der Raumluft könne nicht durchgeführt werden, da
die zu beurteilenden Arbeitsplatzsituationen und die jeweils aktuellen Arbeitsstoffe nicht mehr zu rekonstruieren bzw.
zu ermitteln seien. Da die Belüftungssituation in der Requisitenwerkstatt jedoch nicht gut sei, hielte er, bei der
Verwendung der entsprechenden Stoffe, das Einatmen evtl. gesundheitsschädigender Stoffe für möglich. Wegen der
weiteren Einzelheiten wird auf Bl. 106, 107 der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.
Am 17. Januar 1992 erstattete der Leiter des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin der Universität Mainz, Prof. Dr.
K., ein Gutachten, das sich neben der Untersuchung der Klägerin auf eine Besichtigung ihres Arbeitsplatzes sowie ein
neurologisches Zusatzgutachten stützt, das am 13. Dezember 1991 durch den Oberarzt der Neurologischen
Universitätsklinik M., Priv.-Doz. Dr. B., erstattet worden ist. Herr Priv.-Doz. Dr. B. kam zu dem Ergebnis, dass die
neurologische Erkrankung der Klägerin mit Wahrscheinlichkeit nach dem klinischen Bild, den neurophysiologischen
Untersuchungen und der Verlaufsdynamik als spinale Muskelatrophie (und damit nicht als Polyneuropathie)
einzuordnen sei. Herr Prof. Dr. K. führt in seinem Gutachten vom 17. Januar 1992 u.a. aus, dass aufgrund der
eindeutigen Schilderung der Klägerin, den Ermittlungen des TAD und seiner eigenen Betriebsbesichtigung vom 2. Juli
1991 von einer sicheren Einwirkung durch organische Lösungsmittel auszugehen sei. Da Belastungsmessungen nicht
vorlägen, sei die Einwirkungsdosis nur schwer abzuschätzen, dürfe jedoch nach allgemeiner Erfahrung für eine
neurotoxische Schädigung ausgereicht haben. Aufgrund des neurologischen Zusatzgutachtens und der Vorbefunde
liege bei der Klägerin eine spinale Muskelatrophie vor. Die Krankheit habe spätestens 1983 begonnen und scheine in
den letzten Jahren stationär geblieben zu sein. Nach gegenwärtigem Erkenntnisstand könne ein Zusammenhang
zwischen den Expositionsbedingungen am Arbeitsplatz und der spinalen Muskelatrophie der Klägerin nicht
ausgeschlossen, aber auch nicht mit der im BK-Recht geforderten Wahrscheinlichkeit angenommen werden.
Der Hessische Landesgewerbearzt schloss sich in seiner Stellungnahme vom 17. März 1992 dem Gutachten an.
Mit Bescheid vom 23. Juni 1992 lehnte die Beklagte die Anerkennung und Entschädigung der Erkrankung der Klägerin
als Berufskrankheit gemäß § 551 Abs. 1 RVO i.V.m. der Berufskrankheiten-Verordnung bzw. gemäß § 551 Abs. 2
RVO ab. Zwischen der spinalen Muskelatrophie und der beruflichen Tätigkeit als Requisiteurin am Staatstheater D.
bestehe kein ursächlicher Zusammenhang, auch wenn die durchgeführten Ermittlungen ergeben hätten, dass die
Klägerin an ihrem Arbeitsplatz der Einwirkung organischer Lösungsmittel ausgesetzt gewesen sei.
Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 2. Dezember 1994) hat die Klägerin am 2. Januar 1995
zum Sozialgericht Darmstadt (im Folgenden: SG) Klage erhoben.
Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines neurologischen Gutachtens bei Dr. B., Neurologische Klinik,
Krankenhaus M. Der Sachverständige diagnostiziert im Gutachten vom 16. Oktober 1996 eine asymmetrische,
überwiegend motorische, distal betonte Polyneuropathie. Prof. Dr. K. habe in seinem arbeitsmedizinischen Gutachten
festgestellt, dass unter den für die Klägerin bestehenden Arbeitsplatzbedingungen die Einwirkdosis nach allgemeiner
Erfahrung für eine neurotoxische Schädigung ausgereicht haben dürfte. Bei Fehlen anderer Ursachen für das
Vorliegen einer Polyneuropathie halte er es deshalb für wahrscheinlich, dass ein Zusammenhang zwischen der
Einwirkung neurotoxischer Stoffe am Arbeitsplatz und der Erkrankung der Klägerin bestehe, insbesondere auch
dadurch, dass die Erkrankung nach Beendigung der Exposition zum Stillstand gekommen sei und sich klinisch eine
leichte Remission ergeben habe. Eine durch die Berufskrankheit bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
bestehe seit 1. November 1985 und belaufe sich auf 80 v.H.
Auf die Einwände der Beklagten gegen das Gutachten bestätigte der Sachverständige mit Stellungnahme vom 28.
Januar 1997 seine Auffassung. In einer weiteren Stellungnahme vom 23. April 1997 begründete er die Höhe der MdE
näher.
Die Beklagte trat dem Gutachten des Dr. B. mit einer Stellungnahme des Dipl.-Chemikers und Arztes für
Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin, Dr. P., C. vom 11. April 1997 entgegen. Für die Entwicklung einer
toxischen Polyneuropathie handele es sich um einen ungewöhnlich kurzen Entstehungszeitraum. Selbst bei
Schnüfflern und Alkoholikern, welche in erheblich höherem Maße organischen Lösmitteln exponiert seien, entwickle
sich eine Polyneuropathie erst als Spätschaden. Auch bezüglich des Verlaufs der Erkrankung müssten Zweifel
hinsichtlich eines Kausalzusammenhangs angenommen werden. Auf Veranlassung von Dr. P. holte die Beklagte ein
neurologisches Gutachten nach Aktenlage bei Dr. K., Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Umweltmedizin, C. ein,
legte dieses dem SG vor und machte es zum Gegenstand ihres Vorbringens. Dr. K. führt u.a. aus, aus den
vorliegenden Befunden gehe hervor, dass bei der Versicherten auch nach Wegfall der Exposition, zumindest über eine
gewisse Zeit, eine progrediente Symptomatik bzw. progrediente neurophysiologische Befunde bestanden hätten. Eine
derartige Entwicklung würde nicht mit aller Eindeutigkeit gegen eine exotoxische Ursache der Polyneuropathie
sprechen, da sich der polyneuropathische Prozess auch einige Zeit nach Wegfall schädigender Faktoren fortsetzen
könne. Das von Dr. B. erstattete Gutachten erscheine hinsichtlich der diagnostischen Zuordnung der Polyneuropathie
und auch in der dort vorliegenden Argumentation insgesamt überzeugend. Dennoch vermöge das Gutachten die
Zweifel nicht zu zerstreuen, welche sich aus dem geschilderten Krankheitsverlauf sowie aus der umfassenden
Differentialdiagnostik der Polyneuropathien ergäben. Dahingehend vermöge er die Frage nach dem kausalen
Zusammenhang der bei der Klägerin festgestellten Erkrankung und der angeschuldigten beruflichen Exposition nicht
zu beantworten. Er empfehle eine umfassende und wohl nicht belastende Labordiagnostik durchzuführen, um eine
anderweitige, bisher ungeklärte in Frage kommende Ursache der Polyneuropathie auszuschließen. Sollten sich bei der
Klägerin bei einer anzunehmenden Exposition keine Anhaltspunkte für eine andere in Frage kommende Erkrankung
ergeben, würden die bisher hervorgebrachten Befunde und Argumente mit geringgradig überwiegender
Wahrscheinlichkeit für einen Zusammenhang der bei ihr aufgetretenen Erkrankung mit der angeschuldigten Exposition
sprechen.
Die Abteilung Prävention der Beklagten führte am 21. November 1997 und 7. Januar 1998 weitere Ermittlungen im
Staatstheater durch und erstattete durch Dipl.-Ing. M. einen ausführlichen Bericht vom 8. Januar 1998. Bei der
Requisitenwerkstatt handele es sich um einen 8 x 9 m = 72 m² großen Raum im ersten Obergeschoss des Theaters.
Der Raum sei mit einer 8 m langen Fensterzeile zur H.straße hin ausgestattet. Das Fensterband bestehe aus drei
größeren Abschnitten mit milchiger Verglasung und – jeweils dazwischen – zwei kleineren Fenstern mit Klarglas. Im
linken Klarglasfenster sei ein handelsüblicher Ventilator eingebaut. Die Klarglasfenster seien kippbar ausgeführt. Sie
seien allerdings nie geöffnet worden, da durch davorstehende Arbeitsplatten die Betätigungshebel nur sehr schlecht
erreicht werden konnten. Außerdem handele es sich bei besagter Straße um eine sehr stark befahrene Verkehrsader,
deren Lärm man sich nicht habe aussetzen wollen. Der Raum sei für die hier verrichteten Arbeiten und die
stattfindende Lagerung offensichtlich viel zu klein und mache einen stark unaufgeräumten Eindruck. Arbeitsflächen
seien mit Gegenständen überhäuft, Regale zur Lagerung alter Requisiten würden überquellen, Einkaufswagen, die
zum Transport auf die Bühne dienten, stünden mit Feuerwerk und Nebelgerät beladen dazwischen. An den
verschmutzten Arbeitsflächen sei erkennbar, dass hier gelötet oder da geschweißt werde. Ungeordnet stünden
Kanister mit Gefahrstoffen herum sowie Lebensmittelgefäße aller Art, in denen sich nicht definierte Flüssigkeiten
befänden. Verschmutzte Pinsel stünden in offenen Bechern und Dosen, aus denen das Reinigungsmittel bereits in die
Raumluft verdunstet sei. In einer Ecke des Raumes sei durch mehrere Blechschränke ein kleiner Bereich abgetrennt,
der dem Anschein nach als Essecke genutzt werde. Es werde von den Gesprächspartnern eingeräumt, dass diese
Zustände bereits in der Beschäftigungszeit der Klägerin vorgelegen hätten. Eine Absauganlage sei nicht vorhanden.
Auf die Frage nach etwa aufgetretenen pränarkotischen Zuständen bei den Mitarbeitern habe der Personalrat Herr H.
mitgeteilt, dass es bei lang anhaltendem Chemikalieneinsatz durchaus zu gewissen "Hochgefühlen" bei den hier
Beschäftigten gekommen sei. Es seien durchaus auch großflächige Arbeiten vorgekommen, z. B. das Bestreichen
einer größeren Holzwand mit Kleber (Größenordnung der verwendeten Klebemasse ca. 2 – 3 kg!). Die beklebte Wand
stehe dann unter Umständen noch einige Tage in der Werkstatt und gase aus. Derartige Arbeiten seien
durchschnittlich alle zwei Wochen vorgekommen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Stellungnahme des
Herrn Dipl.-Ing. M. vom 8. Januar 1998 verwiesen.
In Kenntnis des Berichtes des Präventionsdienstes der Beklagten vom 8. Januar 1998 gab daraufhin Dr. P. mit Datum
vom 24. September 1998 eine weitere Stellungnahme nach Aktenlage ab, welche die Beklagte zum Gegenstand ihres
Vorbringens machte. Danach sei davon auszugehen, dass der Arbeitsplatz der Versicherten sicherlich in keiner Weise
auch dem damaligen Stand des Arbeitsschutzes entsprochen habe. Die Frage der Höhe der stattgehabten
Lösemittelexposition werde auch durch den TAD nicht beantwortet. Es sei allerdings davon auszugehen, dass die
stattgehabte Lösemittelexposition durchaus höher gelegen haben dürfe, als bisher angenommen worden sei. Es sei
durchaus davon auszugehen, dass die Höhe der stattgehabten Exposition gegenüber Lösemitteln zeitweise
grenzwertüberschreitend gewesen sei. Es sei allerdings nicht zweifelsfrei davon auszugehen, dass der 60%ige
Zeitanteil in Werkstätten mit einer dauerhaft grenzwertüberschreitenden Lösemittelexposition einhergegangen sei. Im
Berufskrankheitenrecht werde der Vollbeweis einer entsprechenden Exposition gefordert. Danach könne eine
dauerhafte übergrenzwertige Exposition über den in Rede stehenden Zeitraum nicht bewiesen werden. Auch eine
kürzerzeitige, dann aber massive Exposition mit vielfacher Grenzwertüberschreitung könne zu einer Polyneuropathie
führen. Eine solche lasse sich bei der Klägerin nicht annehmen. Das Krankheitsbild und der Verlauf der Erkrankung
sprächen zudem nicht für einen Kausalzusammenhang.
Das SG hat – nachdem ein Termin zur mündlichen Verhandlung vom 11. Mai 1999 vertagt worden war – eine
Stellungnahme bei Prof. Dr. K. eingeholt. In dieser Stellungnahme vom 28. Juni 1999 räumt Prof. Dr. K. nunmehr ein,
dass bei der Klägerin eine Polyneuropathie vorliege. Es müsse einerseits gesichert sein, dass die verwendeten
Lösungsmittel neurotoxisch gewesen seien und es müsse andererseits gesichert sein, dass sie in ausreichend hoher
Konzentration eingewirkt hätten. Schwierig sei die Beurteilung der Expositionshöhe. Grundsätzlich sei dann von einer
ausreichend hohen Konzentration auszugehen, wenn in der überwiegenden Zahl der Schichten Konzen-trationen
aufgetreten seien, bei denen Erkrankungen oder manifeste Störungen des Nervensystems hätten nachgewiesen
werden können. Die Emission von neurotoxischem n-Hexan sei für den Arbeitsplatz der Klägerin als minimal
einzuschätzen. Es sei unwahrscheinlich, dass Dichlormethan regelmäßig großflächig und in größerem zeitlichem
Umfang eingesetzt worden sei. Genaue Einschätzungen lägen dazu nicht vor. Bezüglich Toluol und Xylol sei
unwahrscheinlich, dass die möglichen Emissionen ihren neurotoxischen Schwellenwert erreicht oder überschritten
hätten. Eine haftungsbegründende Kausalität liege nicht zweifelsfrei vor. Auch der Zusammenhang zwischen der
Erkrankung und der beruflichen Tätigkeit sei nicht wahrscheinlich. Dagegen sprächen der klinische Verlauf mit
Progredienz nach dem Ende der Exposition und die untypische Verteilung der Atrophien.
Auf Antrag der Klägerin hat das SG nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten des Facharztes für
Pharmakologie und Toxikologie Prof. Dr. B., Diagnostik- und Therapiezentrum für umweltmedizinische Erkrankungen
R. vom 16. November 2000 eingeholt. Der Sachverständige kommt hinsichtlich der Prüfung der arbeitstechnischen
Voraussetzungen zu dem Ergebnis, dass die Klägerin mit Gewissheit gegenüber neurotoxischen Lösungsmitteln bzw.
deren Gemischen im Verlauf ihrer beruflichen Tätigkeit am Staatstheater D. exponiert war und dass die in den
Arbeitsräumen herrschenden Konzentrationen der Schadstoffe ausreichend für die Verursachung einer
Polyneuropathie gewesen seien. Die neurotoxische Wirkung werde durch wirkungsgleiche Verbindungen erheblich
gesteigert. Aus den offiziellen Materialien zur BK-Nr. 1317, das heiße, aus den wissenschaftlichen Begründungen und
aus dem durch das Bundesarbeitsministerium bekannt gegebenen Amtlichen Merkblatt des Ärztlichen
Sachverständigenbeirats sei zu entnehmen, dass es keine Dosisangaben für neurotoxische Lösungsmittel gebe, bei
denen eine Polyneuropathie oder Enzephalopathie ausgelöst werden könne. Ausgehend von den
Grundvoraussetzungen, der zweifelsfrei vorliegenden asymmetrischen überwiegend motorischen und distal-betonten
Polyneuropathie bei der Klägerin und der mit Gewissheit feststehenden Exposition gegenüber
Lösungsmittelgemischen, bestehe nach seiner Ansicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein innerer ursächlicher
Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der Schadstoffexposition als Requisiteurin am Staatstheater D. Es
handele sich bei der Krankheit um eine Berufskrankheit nach Nrn. 1302 und 1303 der Anlage zur Berufskrankheiten-
Verordnung. Die Bewertung der MdE werde wesentlich durch das Ausmaß der motorischen Störungen bestimmt.
Unter Berücksichtigung der Rückbildung bzw. Besserung des Krankheitsbildes mache sich eine zeitliche Staffelung
der MdE-Einschätzung notwendig. Die MdE habe im Zeitraum zwischen dem 3. Juni 1985 (Beendigung der Arbeit) bis
4. März 1986 (Kurende) 100 % und danach 30 % betragen.
Nachdem die Beklagte zu diesem Gutachten eine ablehnende Stellungnahme des Prof. Dr. K. vom 22. Januar 2001
vorgelegt hatte, äußerte sich Prof. Dr. Bl. auf Anfrage des SG in einer ergänzenden Stellungnahme vom 14. März
2001 und blieb bei seiner im Gutachten geäußerten Auffassung.
Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 15. Mai 2001 hat das SG die Klage abgewiesen. Dabei ging es von dem
schriftsätzlich und in der vertagten mündlichen Verhandlung vom 11. Mai 1999 gestellten Anfechtungs- und
Feststellungsantrag der Klägerin aus, wonach neben der Aufhebung des angefochtenen Bescheides die Feststellung
auszusprechen sei, dass die Gesundheitsstörung der Klägerin eine Folge einer Berufskrankheit im Sinne des § 551
Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) i.V.m. mit der Berufskrankheiten-Verordnung und § 551 Abs. 2 RVO sei
und die Beklagte entsprechende Entschädigungsleistungen zu gewähren habe. Die Polyneuropathie durch organische
Lösungsmittel oder deren Gemische sei unter Nr. 1317 durch die Änderungsverordnung vom 31. Oktober 1997 (BGBI
I, S. 26, 23) als BK in die als Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung bestehende Liste aufgenommen worden.
Gleichwohl komme eine Anerkennung und Entschädigung nicht in Betracht. Denn nach § 6 Abs. 1 Berufskrankheiten-
Verordnung sei, sofern ein Versicherter am 1. Dezember 1997 an einer Krankheit u.a. nach Nr. 1317 der Anlage leide,
diese auf Antrag nur dann als BK anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1992
eingetreten sei. Nach übereinstimmender Beurteilung der Sachverständigen Prof. Dr. B. und Prof. Dr. Bl. habe die
Polyneuropathie aber bereits seit 1985 vorgelegen und bedinge eine MdE in rentenberechtigendem Grade von mehr
als 20 v.H. Der Versicherungsfall sei damit – unterstelle man einen bestehenden Ursachenzusammenhang – vor dem
1. Januar 1993 eingetreten. Auch eine Anerkennung nach § 551 Abs. 2 RVO komme nicht in Betracht. Das
Bundessozialgericht (BSG) habe in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Anwendung des § 551 Abs. 2
RVO u.a. dann ausgeschlossen sei, wenn der Verordnungsgeber nach § 551 Abs. 1 RVO die einschlägige Erkrankung
in die Liste der Berufskrankheiten aufnehme oder deren Aufnahme prüfe und ablehne (BSG, Urteil vom 24. Februar
2000 – B 2 U 43/98 R –). Mit der Entscheidung des Verordnungsgebers sei es dem Unfallversicherungsträger
untersagt, anstelle des Verordnungsgebers in diesem Einzelfall festzustellen, dass die übrigen Voraussetzungen des
§ 551 Abs. 1 RVO erfüllt seien und die Krankheit nach neuen medizinischen Erkenntnissen wie eine Berufskrankheit
zu entschädigen sei. Eine wirksame Rückwirkungsvorschrift schließe aus, für alle Versicherungsfälle außerhalb des
Rückwirkungszeitraums noch eine Entschädigung nach § 551 Abs. 2 RVO zuzusprechen. Soweit Dr. B. und Prof. Dr.
Bl. in ihren Gutachten zu dem Schluss gekommen seien, bei der Klägerin lägen die Voraussetzungen einer BK nach
Nrn. 1302 bzw. 1303 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung vor, könne sich die Kammer diesem Ergebnis
nicht anschließen. Es stehe zwar fest, dass die Klägerin gewissen Schadstoffen ausgesetzt gewesen sei, ungewiss
bleibe aber, mit welcher Intensität und Dauer eine Einwirkung erfolgt sei. Wie Prof. Dr. K. halte auch die Kammer die
von dem Sachverständigen Prof. Bl. erwähnte Kombinationswirkung für spekulativ, ebenso sei spekulativ, dass die
ständig offen stehenden Gefäße mit Lösungsmitteln und die Schadstoffentsorgung über das Waschbecken zu einer
nennenswerten neurotoxischen Mehrbelastung geführt hätten. Es sei dies weder zu beweisen noch zu widerlegen.
Ausgehend von dieser Unsicherheit sehe sich die Kammer auch nicht in der Lage, die Wahrscheinlichkeit eines
ursächlichen Zusammenhangs zwischen berufsbedingter Schädigung und Krankheit der Klägerin festzustellen. Weder
die Lokalisation noch der klinische Verlauf der bei der Klägerin festgestellten Polyneuropathie seien typisch für eine
toxische Polyneuropathie durch organische Lösungsmittel. Bei der Klägerin bestehe eine asymmetrische
Verlaufsform. Typisch für toxische Polyneuropathien seien demgegenüber symmetrisch-distale, beinbetonte,
sensomotorische Ausfälle mit strumpf- bzw. handschuhförmiger Verteilung (so Merkblatt des Bundesministeriums für
Arbeit und Sozialordnung für die ärztliche Untersuchung zu Nr. 1317).
Gegen dieses ihr am 29. Mai 2001 zugestellte Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer am 27. Juni 2001
eingegangenen Berufung. Das SG habe in seinem Urteil grundlegende Begriffe des Berufskrankheitenrechts verkannt.
Während die arbeitstechnischen Voraussetzungen und der Gesundheitsschaden voll bewiesen sein müssten, reiche
zur Bejahung des Kausalzusammenhangs zwischen der schädigenden Einwirkung und dem Gesundheitsschaden die
hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (BSG, SozR 2200 § 548 Nr. 38, § 551 Nr. 1). Es komme nicht darauf an, ob der
Versicherte schädigenden Substanzen über eine bestimmte Zeit in bestimmter, etwa dauernd über dem MAK-Wert
liegenden Ausmaß ausgesetzt gewesen sei, sondern nur darauf, dass er diesen Substanzen im beruflichen Bereich
ausgesetzt gewesen sei. Ob dieses ausgesetzt sein ausgereicht habe, um seine Erkrankung zu verursachen, sei eine
Frage der haftungsausfüllenden Kausalität und unterliege ganz anderen Beweismaßstäben. Was Herr Dr. P. im
Auftrage der Beklagten gegen deren eigenen TAD ins Feld führe, sei nicht nur rechtlich unbeachtlich, weil er damit
gegen die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verstoße und seine ärztlichen Kompetenzen überschreite, es sei auch
inhaltlich falsch.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines arbeits- und sozialmedizinischen Gutachtens bei Prof. Dr. W.,
Direktor des Instituts und der Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin der J, -Universität G. Im Zusammenhang mit
der Erstattung des Hauptgutachtens sind unter dem Datum vom 18. Juli 2003 ein neurologisch-neurophysiologisches
Zusatzgutachten bei Prof. Dr. K., Neurologische Klinik der J. Universität G. und unter dem Datum vom 11. Dezember
2003 ein neuropsychologisches Zusatzgutachten bei Dipl.-Psych. S., Zentrum für Psychiatrie G. erstattet worden. Im
neurophysiologischen Zusatzgutachten vom 11. Dezember 2003 wird festgestellt, dass eine schwere
Hirnleistungsstörung nicht vorliege. Es bestünden mäßige Schwächen im Bereich der Konzentrations- und
Aufmerksamkeitsleistung sowie leichte Beeinträchtigungen der Abstraktionsfähigkeit. Die Klägerin sei recht gut in der
Lage, Defizite zu kompensieren. Im neurologisch-neurophysiologischen Zusatzgutachten vom 18. Juli 2003
diagnostiziert Prof. Dr. K.eine überwiegend motorische, asymmetrische und axonale Polyneuropathie. Sowohl die
klinisch-neurologischen Untersuchungsbefunde wie auch die neurophysiologischen Untersuchungen von damals und
heute zeigten eine Progredienz der Erkrankung. Nach derzeitigem Wissensstand schließe eine Progredienz der
Polyneuropathie nach Expositionskarenz einen ursächlichen Zusammenhang praktisch aus. Zusammenfassend sehe
er nur eine geringgradige Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer lösemittelbedingten toxischen Polyneuropathie
und/oder Enzephalopathie.
Im arbeitsmedizinischen Hauptgutachten vom 25. November 2003 kommt Prof. Dr. W. zu dem Ergebnis, dass bei der
Klägerin eine asymmetrisch betonte, überwiegend motorische Polyneuropathie vorliege. Die arbeitsmedizinischen
Voraussetzungen zur Annahme einer Quasi-BK gemäß § 551 Abs. 2 RVO lägen mit Wahrscheinlichkeit vor. Die
Klägerin habe als Requisiteurin unter schlechten arbeitshygienischen Umständen gearbeitet, wie dies auch der
technische Aufsichtsbeamte des Unfallversicherungsträgers in seiner Expertise aus dem Jahre 1998 unumwunden
beschreibe. Wie der bisherige, lang dauernde Verfahrensablauf zeige, sei im Nachhinein insbesondere die
Quantifizierung der Expositionshöhe der zur Verwendung gekommenen Arbeitsstoffe nicht mehr zu ermitteln. Die
Qualifizierung der Arbeitsstoffe liege teilweise vor, wobei jedoch nur durch Eigeninitiative der Versicherten Namen
genannt hätten werden können. Aufgrund der Arbeitsplatzbeschreibung durch die Versicherte, den Angaben des
technischen Aufsichtsbeamten und nach der arbeitsmedizinischen Erfahrung sei vor allem von den als neurotoxisch
geltenden Arbeitsstoffen n-Hexan verarbeitet worden, das sich in Klebern wie dem allseits bekannten Pattex befinde.
Zusammenfassend werde die Einwirkung von organischen Lösungsmitteln – überwiegend in Gemischen – durch den
Sachverständigen bejaht, wenngleich auch er nicht in der Lage sei, spekulativ über irgendwelche Exposi-tionshöhen
Aussagen zu treffen. Nachvollziehbar sei eine sicher regelmäßige Exposition gegenüber diversen Lösungsmitteln.
Entgegen der Ansicht von Prof. Dr. K. ginge er davon aus, dass für die haftungsbegründende Kausalität der
Wahrscheinlichkeitsbeweis und nicht der Vollbeweis gelte. Bei Abwägung und Gewichtung der vorliegenden Daten
möchte er daher zusammenfassend die haftungsbegründende Kausalität für das Vorliegen einer arbeitsbedingt
verursachten neurologischen Erkrankung als überwiegend wahrscheinlich ansehen. Aufgrund der ausführlichen
Arbeitsanamnese, der aktenkundigen Unterlagen, der Aussagen u.a. auch des Vorgutachters, Prof. Dr. K., der die
Arbeitsstätte seinerzeit noch arbeitsmedizinisch in Augenschein habe nehmen können, sei davon auszugehen, dass
die Klägerin bezüglich des hier vorliegenden Krankheitsbildes in relevanter Weise gegenüber verschiedenen
organischen Lösungsmitteln exponiert gewesen sei. Hierbei sei auch nach Beratung mit dem Leiter des
Gefahrstofflabors Chemie der J. -Universität G., Priv.-Doz. Dr. Dr. K., im vorliegenden Falle insbesondere von n-
Hexan auszugehen. In einem Schreiben zu den Ermittlungen über die Arbeitsverhältnisse schreibe auch der
entsprechende Mitarbeiter der Unfallkasse Hessen, dass die Arbeitsstätte ungünstige arbeitshygienische Verhältnisse
geboten habe. Aus diesem Grunde werde in dieser Expertise konstatiert, dass die Auslöseschwelle regelmäßig
überschritten worden sei. Der Krankheitsverlauf spreche im Ergebnis nicht gegen eine toxische Verursachung. In der
wissenschaftlichen Begründung für die Berufskrankheit der Nr. 1317 sei folgender differenzierender Erkenntnisstand
nachzulesen: "Verlaufskontrollen konnten zeigen, dass bei Funktionsstörungen oder Krankheiten des zentralen oder
peripheren Nervensystems nicht nur Besserungen, sondern auch eine Persistenz und sogar Verschlechterungen nach
Beendigung der Exposition möglich sind." Die Klägerin gehöre zu derjenigen Patientengruppe, in der es auch nach
Expositionsende nicht zu der von manchen der Vorgutachter apodiktisch geforderten Verbesserung der
Krankheitserscheinungen habe kommen müssen. Er nehme daher die haftungsausfüllende Kausalität für das
Vorliegen einer BK der Nr. 1317 mit hinreichender Wahrscheinlichkeit an.
Die Klägerin sieht sich durch das Gutachten des Prof. Dr. W. bestätigt. Der Versicherungsfall sei unstrittig vor dem 1.
Januar 1993, nämlich 1985, eingetreten. Eine Anerkennung der Erkrankung nach Ziffer 1317 der Berufskrankheiten-
Verordnung sei daher wegen der Rückwirkungsklausel in § 6 Abs. 2 Berufskrankheiten-Verordnung nicht möglich.
Nach der inzwischen im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juni 2005 – 1 BVR 235/00 –
geänderten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts komme in solchen Fällen jedoch die Anerkennung und
Entschädigung als "Quasi-Berufskrankheit" in Betracht (BSG, B 2 U 5/05).
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 15. Mai 2001 aufzuheben und die Beklagte unter
Aufhebung des Bescheides vom 23. Juni 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 1994 zu
verurteilen, die Polyneuropathie der Klägerin als Berufskrankheit anzuerkennen und in gesetzlichem Umfang zu
entschädigen, hilfsweise, über das Ausmaß der beruflichen Belastung ein Sachverständigengutachten einzuholen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung. Die Argumentation des Sachverständigen Prof. Dr. W., dass für die
haftungsbegründende Kausalität der Wahrscheinlichkeitsbeweis und nicht der Vollbeweis gelte, sei so nicht
nachvollziehbar. Die Einwirkung von Lösungsmitteln oder deren Gemischen müsse mit Gewissheit feststehen. Das
heiße nicht, dass dieser Beweis nur durch eine mit Messergebnissen am konkreten Arbeitsplatz belegte
Dokumentation geführt werden könne. Es genüge nicht, wenn der Versicherte möglicherweise exponiert war. Das
typische Erscheinungsbild einer Lösungsmittelneuropathie bestehe in einer distalsymmetrischen sensiblen oder
sensomotorischen Polyneuropathie. Asymmetrische, multifokale oder rein motorische oder rein autonome
Neuropathien seien ungewöhnlich und stellten praktisch ein Ausschlusskriterium für den Ursachenzusammenhang
dar. In der Sache sei eine ausreichende Exposition der Klägerin nicht mit dem notwendigen "Vollbeweis" erwiesen und
ein Zusammenhang der Erkrankung der Klägerin mit der beruflichen Exposition nicht wahrscheinlich zu machen.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und
des genauen Inhalts der medizinischen Unterlagen, wird auf die Gerichtsakten (3 Bände) und die Verwaltungsakten
der Beklagten (2 Bände) verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung des Senats waren.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig. Sie ist auch begründet.
Zu Unrecht haben die Beklagte und ihr folgend das SG einen Anspruch der Klägerin auf Anerkennung und
Entschädigung der bei ihr vorliegenden Polyneuropathie als Berufskrankheit abgelehnt. Der entgegenstehende
Bescheid der Beklagten vom 23. Juni 1992 (in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 1994) ist
rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch richtet sich noch nach den Vorschriften der
Reichsversicherungsordnung (RVO), da die Klägerin Leistungen und mithin einen Eintritt des Versicherungsfalls auch
für die Zeit vor Inkrafttreten des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII), also für die Zeit vor 1997, begehrt
(§ 212 SGB VII). Nach § 547 RVO gewährt der Träger der Unfallversicherung nach Eintritt des Arbeitsunfalls nach
Maßgabe der ihm folgenden Vorschriften Leistungen, insbesondere bei Vorliegen einer MdE um wenigstens 20 v.H.
Verletztenrente (§ 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO). Als Arbeitsunfall gilt gemäß § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO auch eine
Berufskrankheit (BK). Berufskrankheiten sind Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit
Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545
RVO genannten Tätigkeiten erleidet (§ 551 Abs. 1 Satz 2 RVO). Nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-
Verordnung ist eine Berufskrankheit die Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder
deren Gemische. Diese Berufskrankheit wurde mit Erlass der Berufskrankheiten-Verordnung vom 31. Oktober 1997
(BGBl. I 2623), die am 1. Dezember 1997 in Kraft trat (§ 8 Abs. 1 Berufskrankheiten-Verordnung), in die Liste
aufgenommen. § 6 Abs. 2 Berufskrankheiten-Verordnung bestimmt, dass die Anerkennung einer Polyneuropathie oder
Enzephalopathie entsprechend der Nr. 1317 der Anlage nur in Betracht kommt, wenn der Versicherungsfall nach dem
31. Dezember 1992 eingetreten ist. Ist der Versicherungsfall vor diesem Zeitpunkt eingetreten, kommt jedoch unter
bestimmten Voraussetzungen eine Anerkennung gemäß § 551 Abs. 2 RVO in Betracht (BSG, Urteil vom 27. Juni
2006, SozR 4-5671 § 6 Nr. 2).
Die Voraussetzungen der Nr. 1317 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BK 1317) liegen bei der Klägerin
vor. Da der Versicherungsfall dieser BK jedoch vor dem 1. Januar 1993 eingetreten ist, kommt eine Anerkennung nur
nach § 551 Abs. 2 RVO in Betracht. Auch insoweit sind die Voraussetzungen für eine Anerkennung der Erkrankung
als (Quasi-) BK und für eine Entschädigungsleistung (dem Grunde nach) gegeben.
Für die Anerkennung einer Erkrankung als BK 1317 müssen folgende Tatbestandsmerkmale gegeben sein: Bei der
Versicherten muss eine Polyneuropathie (oder Enzephalopathie) vorliegen, die durch organische Lösungsmittel oder
deren Gemische entstanden ist, deren Einwirkungen die Versicherte in Folge ihrer versicherten Tätigkeit ausgesetzt
war. Dabei ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung
und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung erforderlich. Die Krankheit, die versicherte Tätigkeit
und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß müssen im Sinne des
Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein, während für den ursächlichen
Zusammenhang, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu
bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit – nicht allerdings die bloße Möglichkeit – ausreicht
(BSG, Urteil vom 22. August 2000, SozR 3-5670 Anlage 1 Nr. 2108 Nr. 2 m.w.N.).
Vor diesem Hintergrund ist die von dem Sachverständigen Prof. Dr. W. im Gutachten vom 25. November 2003
vertretene Meinung, für die haftungsbegründende Kausalität reiche die Wahrscheinlichkeit aus, nicht zutreffend. Zur
haftungsbegründenden Kausalität gehören nämlich neben der Kausalitätsbetrachtung – für welche hinreichende
Wahrscheinlichkeit genügt – auch Tatbestände, die im Vollbeweis bewiesen werden müssen. Dies sind die versicherte
Tätigkeit, die arbeitsbedingte Exposition und das Vorliegen der Erkrankung selbst (Kasseler Kommentar – Ricke, § 8
SGB VII Rdnr. 7; zur Kritik an dem Begriff der haftungsbegründenden Kausalität, der nicht immer mit derselben
Bedeutung benutzt wird und deshalb zur Verwirrung führt vgl. auch Ricke: Die BG 1996, 770 ff.).
Bei der Klägerin liegt eine Erkrankung im Sinne BK 1317, nämlich eine Polyneuropathie, vor. Dies ist zwischen den
Beteiligten und den mit der Sache befassten Gutachtern und Sachverständigen inzwischen unstreitig. Prof. Dr. K. hat
seine zunächst abweichende Auffassung aus dem Gutachten vom 17. Januar 1992 aufgegeben (Stellungnahme nach
Aktenlage vom 28. Juni 1999). Dass die Klägerin während ihrer Beschäftigung als Requisiteurin beim Staatstheater D.
eine versicherte Tätigkeit im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO ausgeübt hat, steht fest und bedarf keiner näheren
Darlegung.
Durch ihre versicherte Tätigkeit war die Klägerin auch schädigenden Einwirkungen durch organische Lösungsmittel
bzw. deren Gemische ausgesetzt. Dabei hat - anders als die Beklagte und ein Teil der Gutachter meinen - auch eine
Exposition gegenüber schädigenden Stoffen in einer Weise vorgelegen, dass von einem Vollbeweis der
arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung der BK auszugehen ist. Dass sich die gefährdenden Stoffe
zwar qualitativ, nicht aber quantitativ bestimmen lassen, führt nicht zur Ablehnung der Anerkennung der BK. Die BK
1317 setzt im Tatbestand zu ihrer Anerkennung keine konkrete Belastungsdosis voraus. Auf diesen Umstand weist
bereits Prof. Dr. Bl. im Gutachten vom 16. November 2000 hin. Weder im Amtlichen Merkblatt zur BK 1317
(Bekanntmachung des BMGS, BArBl 2005, Heft 3, S. 49) noch in der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur (vgl.
Mehrtens/Perlebach, Kommentar zur Berufkrankheitenverordnung, Stand November 2006, M 1317;
Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003, 5.8) noch in der Rechtsprechung
sind Schwellen- oder Grenzwerte für eine Mindestexposition postuliert. Die im BK-Report 3/99 (hrsg. vom
Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften) vorgeschlagenen Schwellenwerte sind nicht in das im März
2005 neu veröffentlichte Amtliche Merkblatt (a.a.O.) übernommen worden. Es handelt sich nur um Vorschläge, die auf
epidemiologischen Studien im Wesentlichen aus den 1970er und 1980er Jahren beruhen, aufgrund derer
Nervenschädigungen durch Lösemittel nachgewiesen wurden. Insbesondere für Gemische sind die Angaben mit
Unsicherheiten behaftet (BK-Report 3/99, 6.3.4., I). Angesichts dessen kann von einem medizinisch-
wissenschaftlichen Konsens in dieser Frage nicht ausgegangen werden. Insbesondere liegen keine Erkenntnisse
dafür vor, dass bei einer bestimmten niedrigen Lösemittel(-gemisch)exposition eine Schädigung eines jeden
Versicherten generell ausgeschlossen wäre. Die Dosis-Wirkungsbeziehung muss im Rahmen der Beurteilung des
kausalen Zusammenhangs betrachtet werden.
Fest steht aber, dass die Versicherte in deutlich höherem Umfang als die übrige Bevölkerung lösungsmittelexponiert
war. Vor diesem Hintergrund spielt es keine Rolle, dass sich das genaue Ausmaß der in der Vergangenheit liegenden
Belastung nicht mehr feststellen lässt (vgl. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 9. Oktober 2006
– L 8 U 19/01 – zur Enzephalopathie). Es reicht aus, dass sich eine neurotoxische Belastung in erheblichem potentiell
gefährdenden Umfang aus der versicherten Tätigkeit heraus beweisen lässt. Hiervon ist der Senat überzeugt.
Ausschlaggebend für diese Beurteilung sind für den Senat insbesondere die Stellungnahmen des Präventionsdienstes
der Beklagten vom 11. Dezember 1989 und 8. Januar 1998 sowie die Beurteilung von Prof. Dr. K., der zur Erstellung
seines arbeitsmedizinischen Gutachtens vom 17. Januar 1992 die Arbeitsstätte der Klägerin aufgesucht hat. Bereits
in der Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 11. Dezember 1989 (Bl. 106, 107 Verwaltungsakte) wird darauf
hingewiesen, dass die Requisitenwerkstatt in einem schlecht belüfteten Raum untergebracht war und häufig
Überstunden gemacht werden mussten. Das Einatmen evtl. gesundheitsschädigender Stoffe wird in dieser
Stellungnahme für "möglich" gehalten. In seinem arbeitsmedizinischen Gutachten vom 17. Januar 1992 (Bl. 152 ff.
Verwaltungsakte) führt Prof. Dr. K. aus, dass – obwohl Belastungsmessungen nicht vorlägen – die Einwirkdosis nach
allgemeiner Erfahrung für eine neurotoxische Schädigung ausgereicht haben dürfte. In der Stellungnahme des
Präventionsdienstes der Beklagten vom 8. Januar 1998 wird sodann in völliger Übereinstimmung mit den wiederholten
Arbeitsplatzschilderungen der Klägerin bei den Gutachtern, auf der Grundlage einer erneuten Arbeitsplatzbesichtigung
und der Anhörung von Mitarbeitern des Staatstheaters ergänzend ausgeführt, dass von einer nur kurzzeitigen
Einwirkung von gefährdenden Stoffen auf die Klägerin nicht gesprochen werden könne, eine völlig unzureichende
Belüftung und Arbeitshygiene bestanden habe und eine Vielzahl von chemischen Produkten, die zum Teil organische
Lösemittel enthielten, vorgelegen hätten. Zum Teil hätten verschmutzte Pinsel in offenen Bechern und Dosen
gestanden, aus denen das Reinigungsmittel in die Raumluft verdunstet sei. Überall hätten Kanister mit Gefahrstoffen
offen herumgestanden. Eine Absauganlage habe nicht existiert. Der Raum sei sogar zur Einnahme von Mahlzeiten
genutzt worden. Zu Recht weist daher Prof. Dr. W. - auch angesichts des umfangreichen arbeitsmäßigen Einsatzes
von Farben und Kleber - in seinem Gutachten (Bl. 41) darauf hin, dass angesichts der ungünstigen
arbeitshygienischen Verhältnisse von einer Dauerbelastung mit Gefahrstoffen auszugehen war. Darüber hinaus wurde
die neurotoxische Wirkung durch wirkungsgleiche Verbindungen erheblich gesteigert. Hinsichtlich dieser Erkenntnis
stützt sich der Senat auf das toxikologische Gutachten des Prof. Dr. Bl., R., vom 16. November 2000, der zu Recht
darauf hinweist, dass im BK-Report 3/99 die Notwendigkeit der Untersuchung von Kombinationswirkungen bei der
Prüfung der arbeitstechnischen Voraussetzungen begründet wird. Die additive Wirkung verschiedener Lösemittel wird
bestätigt durch Dr. P. in seiner Stellungnahme vom 24. September 1998. Danach können bei Lösemitteln mit
ausreichender Sicherheit additive Wirkungen angenommen werden (ebenso BK-Report 3/99, S. 126). Auch Prof. Dr.
W. weist auf die Gemischproblematik hin (Bl. 47 des Gutachtens). Vor diesem Hintergrund sieht der Senat die
abweichende Äußerung des von Prof. Dr. K. vom 22. Januar 2001, wonach eine additive bzw. Kombinationswirkung
Spekulation sei, als widerlegt an. Nach den Erkenntnissen über den Arbeitsplatz der Klägerin als Requisiteurin steht
vielmehr fest, dass (zumindest) eine zeitweise gleichzeitige Exposition gegenüber n-Hexan, Toluol und Xylol,
Dichlormethan sowie Benzol (vgl. Bl. 34 des Gutachtens von Prof. Bl.) vorgelegen hat. Sämtliche dieser Stoffe wirken
gesichert neurotoxisch und können eine Polyneuropathie verursachen (vgl. Amtliches Merkblatt zur BK 1317, a.a.O).
Von einer Steigerung der neurotoxischen Wirkung auf die Klägerin muss zudem deshalb ausgegangen werden, weil
die Lüftungsbedingungen absolut unzureichend waren und die Lösemittelaufnahme durch direkten Hautkontakt
gesteigert wurde (vgl. Bl. 34 Gutachten Prof. Dr. W. sowie hinsichtlich dieser Risikofaktoren das Amtliche Merkblatt -
a.a.O. -).
Das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen, mithin eine qualitativ und quantitativ ausreichende
neurotoxische Exposition der Klägerin, wird bestritten durch Dr. P. (Stellungnahme vom 24. September 1998) und -
insoweit in Abkehr von seiner früher geäußerten Auffassung - auch von Prof. Dr. K. (Stellungnahmen vom 28. Juni
1999 und 22. Januar 2001). Das Gericht kann dieser Auffassung nicht folgen: Prof. Dr. K. hat als einziger der
Gutachter den Arbeitsplatz der Klägerin in Augenschein genommen, und zwar am 2. Juli 1991. Aufgrund seines
damaligen Eindrucks kam er zu der Aussage: "Aufgrund der eindeutigen Schilderung, der Ermittlung des Technischen
Aufsichtsdienstes und meiner Betriebsbesichtigung vom 2. Juli 1991 ist jedoch von einer sicheren Einwirkung durch
organische Lösemittel auszugehen. Gesicherte neurotoxische Stoffe innerhalb dieser leichtflüchtigen Gemische sind
n-Hexan, Propanol, Dichlormethan und Benzolhomologe. Da Belastungsmessungen nicht vorliegen, ist die
Einwirkungsdosis nur schwer abzuschätzen, dürfte jedoch nach allgemeiner Erfahrung für eine neurotoxische
Schädigung ausgereicht haben." Weshalb diese ursprüngliche Bewertung unzutreffend sein soll, hat Prof. Dr. K. in
späteren Stellungnahmen in keiner Weise deutlich gemacht oder begründet. Dort heißt es nur, dass neurotoxische
Schwellenwerte mit Wahrscheinlichkeit nicht erreicht worden seien, ohne dass erklärt wird, wie die frühere anders
lautende Aussage zustande kam bzw. weshalb sie nunmehr als falsch angesehen wird.
Auch der ursächliche Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung der Klägerin liegt
vor. Hierfür reicht hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (stRspr des BSG, vgl. u.a. Urteil vom 29. März 1963, BSGE
19, 52). Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel
ausscheiden; die reine Möglichkeit reicht nicht (vgl. z. B. BSG, Urteil vom 9. Mai 2005, SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Die
Frage, welche Voraussetzungen zur Annahme des genannten ursächlichen Zusammenhangs vorliegen müssen, ist
unter Zuhilfenahme medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Sachkunde nach dem im
Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu beantworten (BSG, Urteil vom 27. Juni
2006, a.a.O.). Typisch für eine neurotoxische Polyneuropathie sind symmetrisch-distale, arm- und beinbetonte,
sensible, motorische oder sensomotorische Ausfälle mit strumpf- bzw. handschuhförmiger Verteilung. Die
motorischen Veränderungen können sich darstellen als leichte motorische Schwäche bis hin zur völligen muskulären
Lähmung mit Muskelatrophie. Betroffen ist überwiegend die Muskulatur im Bereich der Hände und Füße. Die
lösungsmittelbedingte Polyneuropathie entwickelt sich in der Regel in engem zeitlichem Zusammenhang mit der
beruflichen Lösungsmittelexposition. Allerdings wurde vereinzelt von Krankheitsverläufen berichtet, bei denen es zwei
bis drei Monate nach Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit zu einer Verschlechterung der Bewegungsfähigkeit kommt,
so dass die klinische Diagnose auch zwei bis drei Monate nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit erstmals
gestellt werden kann. Lösungsmittelbedingte Polyneuropathien verbessern sich nach Unterlassung der gefährdenden
Tätigkeit häufig, nicht selten bleibt die lösungsmittelbedingte Polyneuropathie jedoch klinisch nach Unterlassung der
gefährdenden Tätigkeit konstant oder verschlechtert sich. Eine Persistenz oder eine Verschlechterung der Erkrankung
nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit schließt eine Verursachung durch Lösungsmittel nicht aus (Amtliches
Merkblatt, a.a.O.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Sachverständige Prof. Dr. W. im Gutachten vom 25. November 2003
überzeugend herausgearbeitet, dass der Kausalzusammenhang zwischen Polyneuropathie und Lösungsmitteln bei der
Klägerin mit Wahrscheinlichkeit besteht. Dabei hat er durch Heranziehung von wissenschaftlichen Studien die
Richtigkeit der Neufassung des Merkblattes belegt, dass nämlich eine Persistenz oder gar Verschlechterung nach
Lösemittelkarenz nicht gegen die Berufskrankheit bzw. den Kausalzusammenhang spricht. Noch in der alten Fassung
des Merkblattes (Bekanntmachung des BMA, BArbBl 1997 Heft 12, S. 31) wurde vorgegeben, dass ein Fortschreiten
der Erkrankung nach mehrmonatiger Expositionskarenz eine Verursachung durch Lösungsmittel ausschließe. In
überzeugender Weise hat der Sachverständige Prof. Dr. W. dargelegt, dass diese Annahme unzutreffend ist. Mit Blick
auf die Korrektur der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zur lösungsmittelbedingten Polyneuropathie sieht
der Senat diejenigen Gutachten und Stellungnahmen als widerlegt an, die sich für die Verneinung des
Kausalzusammenhangs in erster Linie auf die Progredienz der Erkrankung bei der Klägerin berufen. Dies trifft für das
neurophysiologische Zusatzgutachten von Prof. Dr. K. vom 18. Juli 2003, aber auch auf die nach Aktenlage erstellte
arbeitsmedizinische Stellungnahme von Prof. Dr. K. vom 28. Juni 1999 zu. Schließlich beruft sich auch Dr. P. in
seiner Stellungnahme vom 24. September 1998 u.a. darauf, dass der Kausalzusammenhang aufgrund eines
untypischen Krankheitsverlaufs abzulehnen sei. Insgesamt ist festzustellen, dass sämtliche in diesem Verfahren
erstatteten Gutachten noch unter Geltung des alten (unzutreffenden) Merkblattes zur BK 1317 bzw. vor Einführung der
BK 1317 überhaupt erstattet worden sind. Letztlich geht nur Prof. Dr. W. im Vorgriff auf die im neuen Merkblatt
verlautbarten Änderungen von dem aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zur
streitgegenständlichen BK aus.
Konkurrierende Ursachen für die Entstehung der Polyneuropathie bei der Klägerin sind nicht ersichtlich. Insbesondere
liegt keine alkoholische oder diabetische Polyneuropathie vor. Die am 2. Dezember 1997 durchgeführte
Labordiagnostik bei Prof. Dr. H., Krankenhaus H., spricht nicht für andere in Frage kommende Krankheiten, etwa eine
Borrelieninfektion (Arztbrief vom 23. März 1998 – Anlage zum Gutachten von Prof. Bl. -). Ob eine der seltenen
Formen der Auslöser der Polyneuropathie bei der Klägerin vorliegt, kann bei berechtigter Ablehnung nicht
duldungspflichtiger Eingriffe (Lumbalpunktion) nicht geklärt werden. Eine andere Ursache für die Entstehung der
Erkrankung, die in die Kausalitätsbeurteilung einbezogen werden müsste, kann ohne nähere Anhaltspunkte nicht
unterstellt werden. Bei der Kausalitätsabwägung muss daher davon ausgegangen werden, dass keine konkurrierenden
Ursachen neben der beruflichen Lösemittelexposition vorliegen.
Die Beklagte verweist zu Recht darauf, dass es sich bei der asymmetrischen Polyneuropathie um ein untypisches
Krankheitsbild im Rahmen der BK 1317 handele (vgl. Merkblatt zur BK 1317 Abschnitt III, letzter Absatz). Nach dem
Merkblatt ist aber die Anerkennung einer asymmetrischen Polyneuropathie nicht grundsätzlich ausgeschlossen.
Insofern verweist bereits Dr. P. ausdrücklich darauf, dass die bei der Klägerin vorliegende asymmetrische
Polyneuropathie mit einer lösemittelbedingten Polyneuropathie vereinbar sei (Stellungnahme vom 23. Mai 1997).
Zudem lag bei der Klägerin nicht von Anfang an ein asymmetrisches Krankheitsbild vor. Dieses entwickelte sich erst
später (vgl. die Darlegung in der ergänzenden Stellungnahme von Prof. Dr. Bl. vom 14. März 2001, Bl. 8). Im ersten
ausführlichen aktenkundigen Befund zur Erkrankung der Klägerin, dem Reha-Entlassungsbericht der Klinik S. vom 8.
April 1986, werden sowohl in der Anamnese als auch in der Beschwerdeschilderung und beim Befund im
Wesentlichen symmetrische Beeinträchtigungen beschrieben.
Eine rein motorische Polyneuropathie lag bzw. liegt bei der Klägerin nicht vor. Von Anfang an bestanden vielmehr
arm- und beinbetonte, sensible und auch sensomotorische Ausfälle, so dass die Erkrankung von allen Gutachtern
praktisch übereinstimmend als überwiegend motorische Polyneuropathie beschrieben wird. Ein Kriterium gegen den
Ursachenzusammenhang wie es im Merkblatt (Kapitel III, letzter Absatz) für eine rein motorische Polyneuropathie
angenommen wird, liegt demnach nicht vor. Auch der Umstand, dass die Klägerin nur knapp vier Jahre, nämlich vom
1. September 1981 bis 1. Juni 1985, schädigenden Lösemitteleinwirkungen ausgesetzt war, spricht nicht gegen den
Ursachenzusammenhang. Denn toxische Polyneuropathien können häufiger schon nach mehrmonatiger Exposition
beobachtet werden (BK-Report 3/99, 3.2.3). Schließlich ist die Erkrankung auch in engem zeitlichem Zusammenhang
mit der Exposition am Arbeitsplatz eingetreten.
Angesichts dessen folgt der Senat den Überlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. W. zur Kausalitätsabwägung,
der in diesem Punkt im Übrigen in Übereinstimmung mit den Gerichtssachverständigen Dr. B. (Gutachten vom 16.
Oktober 1996) und Prof. Dr. Bl. (Gutachten vom 16. November 2000) steht. Auch der Neurologe Dr. K. geht in dem
von der Beklagten vorgelegten Gutachten vom 20. Mai 1997 von einem Ursachenzusammenhang aus, soweit durch
eine Laboruntersuchung weitere Ursachen ausgeschlossen werden (was in der Folgezeit geschah).
Für die Festlegung des Tages des Versicherungsfalls gilt § 551 Abs. 3 Satz 2 RVO. Danach gilt als Zeitpunkt des
Arbeitsunfalls (Versicherungsfalls) der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung, oder, wenn dies für
den Versicherten günstiger ist, der Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Eine genaue Festlegung des Tages
des Versicherungsfalls ist dem Senat nicht möglich. Der Beginn der (dauerhaften) Arbeitsunfähigkeit der Klägerin mit
Behandlungsbedürftigkeit war der 2. Juni 1985. Zu diesem Zeitpunkt dürfte auch bereits eine MdE vorgelegen haben.
Aus den anamnestischen Daten ergibt sich jedoch ferner, dass erste Krankheitserscheinungen offenbar bereits Mitte
1984 festgestellt wurden.
Vor diesem Hintergrund steht fest, dass der Versicherungsfall jedenfalls vor der Aufnahme der BK 1317 in die
Berufskrankheiten-Verordnung (mit Wirkung zum 1. Dezember 1997) und auch vor dem Zeitraum der Rückwirkung
gemäß § 6 Abs. 2 Berufskrankheiten-Verordnung (1. Januar 1993) eingetreten ist. Die noch vom SG hieraus
gezogenen Schlussfolgerungen (Sperrwirkung durch die Aufnahme in die Liste) sind nach der neueren
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Kammerbeschluss vom 23. Juni 2005, SozR 4-1100, Art. 3 Nr. 32)
und des BSG (Urteil vom 27. Juni 2006, a.a.O.) rechtlich nicht mehr haltbar. Ein Anspruch auf Anerkennung und
Entschädigung ergibt sich vielmehr gemäß § 551 Abs. 2 RVO für Versicherungsfälle außerhalb des
Rückwirkungszeitraums nach Inkrafttreten der neugefassten Berufskrankheiten-Verordnung, wenn zu diesem
Zeitpunkt bereits ein Antrag auf Entschädigung einer einschlägigen Krankheit als "Wie-BK" gestellt ist und die
Voraussetzungen für eine solche Entschädigung an sich gegeben sind (BSG, a.a.O.). Eine andere Verfahrensweise
würde gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Grundgesetz (GG) verstoßen, da es sonst von
Zufälligkeiten der Dauer des Verwaltungsverfahrens abhinge, ob die Versicherte noch in den Genuss einer
Feststellung nach § 551 Abs. 2 RVO kommt oder nicht.
Gemäß § 551 Abs. 2 RVO sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht
in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine
Berufskrankheit entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des Abs. 1 erfüllt sind.
Die Klägerin hatte den Antrag auf Anerkennung einer Berufskrankheit am 15. Januar 1987, also vor dem
Rückwirkungszeitraum, der am 1. Januar 1993 begann, gestellt. Die Voraussetzungen für eine Anerkennung nach §
551 Abs. 2 RVO lagen vor. Dass hinsichtlich der lösungsmittelbedingten Polyneuropathie neue medizinische
Erkenntnisse vorlagen, beweist die Aufnahme in die Berufskrankheitenliste mit Wirkung zum 1. Dezember 1997. Für
die Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO reicht es aus, wenn die neuen Erkenntnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung
über den erhobenen Anspruch vorliegen (BSG, Urteil vom 14. November 1996, SozR 3-2200 § 551 Nr. 9). Dies ist
vorliegend der Fall. Im Übrigen ist hinsichtlich der Frage, ob ein Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung
gemäß § 551 Abs. 2 RVO besteht, auch ein Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahren durchgeführt worden. Die
Beklagte hat in ihrem Ablehnungsbescheid vom 23. Juni 1992 auch einen Anspruch nach dieser Norm abgelehnt.
Ob darüber hinaus auch die Voraussetzungen anderer Berufskrankheiten vorliegen (BK 1302 oder 1303), bedarf nach
alledem keiner Entscheidung mehr. Herr Prof. Dr. Bl. hat (aus rechtlichen Gründen) die Anerkennung dieser
Berufskrankheiten vorgeschlagen. Bei der Klägerin liegt eine lösungsmittelbedingte Nervenschädigung
(Polyneuropathie) vor. Diese wird speziell und damit vorrangig von der BK 1317 erfasst. Hingegen betreffen die
Berufskrankheiten nach Nr. 1302 und Nr. 1303 sonstige Schäden durch Halogenkohlenwasserstoffe oder Benzol,
seine Homologe oder Styrol.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 160 Abs. 2 Nr.
1 SGG).