Urteil des LSG Hessen vom 03.09.1999
LSG Hes: mangel des verfahrens, rücknahme, arbeitsentgelt, grobe fahrlässigkeit, rechtswidrigkeit, firma, anhörung, behörde, arbeitsamt, betrug
Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 03.09.1999 (rechtskräftig)
Sozialgericht Wiesbaden S 5 Ar 122/96
Hessisches Landessozialgericht L 10 AL 665/97
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 25. Februar 1997 aufgehoben
und die Klagen abgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die teilweise Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld und Unterhaltsgeld und die
damit verbundene Rückforderung von Leistungen.
Der im Jahre 1959 geborene Kläger war vom 1. Juli 1991 bis zum 30. Juli 1993 bei der Firma M. Gebäudereinigung als
Bereichsleiter tätig. Zum 1. Juli 1993 meldete er sich arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Nach der
Arbeitsbescheinigung der Firma M. hatte der Kläger in den beim Ausscheiden abgerechneten
Lohnabrechnungszeiträumen der Monate April 1993 und Mai 1993 ein gleichbleibendes Bruttoarbeitsentgelt von
3.795,00 DM erzielt; im Juni 1993 betrug es nach einer Tariflohnänderung 3.860,00 DM. Die tarifliche regelmäßige
Arbeitszeit hatte 39 Wochenstunden betragen.
Mit Bescheid vom 16. Juli 1993 bewilligte die Beklagte dem Kläger Arbeitslosengeld ab dem 1. Juli 1993 in Höhe von
582,60 DM wöchentlich (Leistungsgruppe C, kein Kind, gerundetes wöchentliches Arbeitsentgelt 1.410,00 DM). Infolge
der Absenkung der Leistungssätze aufgrund der Leistungsverordnung 1994 betrug der wöchentliche Leistungssatz des
Klägers ab dem 1. Januar 1994 543,00 DM bei unveränderten Leistungsmerkmalen (Änderungsbescheid vom 14.
Januar 1994). Diese Leistung bezog der Kläger noch bis zum 31. Januar 1994. Ab dem 1. Februar 1994 nahm er an
einer Bildungsmaßnahme teil, wofür ihm die Beklagte mit Bescheid vom 12. April 1994 Unterhaltsgeld von 606,60 DM
wöchentlich (Leistungsgruppe C, erhöhter Leistungssatz, gerundetes wöchentliches Arbeitsentgelt 1.410,00 DM)
bewilligte. Infolge einer Dynamisierung des Bemessungsentgelts betrug die Leistung ab dem 1. Juli 1994 621,00 DM
wöchentlich (Änderungsbescheid vom 15. Juli 1994).
Bei einer Aktenprüfung am 16. November 1994 stellte das Vorprüfungsamt der Beklagten fest, dass dem Kläger, der
Vater eines am 17. Dezember 1992 geborenen Kindes ist, Leistungen von Beginn an nach dem erhöhten
Leistungssatz zugestanden hätten, zugleich aber die Leistungshöhe fehlerhaft nach einem zu hohen
Bemessungsentgelt festgesetzt worden war. Nach vorheriger Anhörung des Klägers nahm die Beklagte hierauf mit
Bescheid vom 25. Juli 1995 die Entscheidungen über die Bewilligung von Arbeitslosengeld und Unterhaltsgeld mit
Wirkung vom 1. Juli 1993 bzw. 1. Februar 1994 teilweise zurück und forderte von dem Kläger die Erstattung zuviel
gezahlten Arbeitslosengeldes für die Zeit vom 1. Juli 1993 bis zum 31. Januar 1994 in Höhe von 4.851,00 DM sowie
Unterhaltsgeldes vom 1. Februar 1994 bis zum 17. November 1994 in Höhe von 8.277,90 DM. Das für die Leistung
maßgebliche Bemessungsentgelt sei falsch festgesetzt worden. Zwar beruhe dies auf einem Bearbeitungsfehler des
Arbeitsamtes, der Kläger habe aber nicht im guten Glauben sein können, dass die Höhe der Leistung richtig sei. Auf
den Widerspruch des Klägers vom 15. August 1995 erläuterte die Beklagte dem Kläger hierzu, dass bei der
Berechnung der Zahl der für die Arbeitslosengeldbemessung maßgeblichen Arbeitsstunden dem Arbeitsamt insofern
ein Fehler unterlaufen sei, als es das Brutto-Arbeitsentgelt für die Monate April 1993 bis Juni 1993 in Höhe von
11.450,00 DM nur durch 305,33 Arbeitsstunden geteilt habe, obwohl die richtige Arbeitsstundenzahl 507 hätte lauten
müssen (39 Stunden wöchentliche Arbeitszeit × 13: 3 = 169 Stunden × 3 = 507 Stunden). Mit Widerspruchsbescheid
vom 22. Dezember 1995 wies die Beklagte den Widerspruch, soweit er sich gegen die teilweise Rücknahme der
Arbeitslosengeld-Bewilligung richtete, zurück. Der Kläger habe in der Zeit vom 1. April 1993 bis zum 30. Juni 1993
(Bemessungszeitraum nach § 112 Abs. 2 Arbeitsförderungsgesetz – AFG – in der bis zum 31. Dezember 1993
geltenden Fassung) ein Bruttoentgelt in Höhe von 11.450,00 DM entsprechend einem durchschnittlichen
Bruttoeinkommen von monatlich 3.816,67 DM erzielt, was einem – gerundeten – wöchentlichen Arbeitsentgelt von
880,00 DM entspreche. Rechtmäßig zugestanden habe dem Kläger nach der Leistungsverordnung 1993 und der
Leistungsgruppe C (entsprechend der Steuerklasse III) unter Berücksichtigung eines Kindes bis zum 31. Dezember
1993 Arbeitslosengeld in Höhe von 420,60 DM und vom 1. Januar 1994 bis zum 31. Januar 1994 in Höhe von 408,00
DM wöchentlich. Tatsächlich seien bis zum 31. Dezember 1993 wöchentlich 582,60 DM und bis zum 31. Januar 1994
wöchentlich 543,00 DM gezahlt worden. Bei Erhalt der Bewilligungsbescheide vom 16. Juli 1993 und vom 14. Januar
1994 habe dem Kläger sofort klar sein müssen, dass ihm eine viel zu hohe Leistung bewilligt worden sei; denn nicht
nur das der Leistungsbemessung zugrundeliegende Brutto-Entgelt (1.410,00 DM wöchentlich) sei viel höher als das
zuletzt tatsächlich erzielte Brutto-Arbeitsentgelt gewesen, sondern das zuerkannte Arbeitslosengeld habe auch das
tatsächliche Netto-Einkommen, welches nach Auskunft der Firma M. zuletzt monatlich 2.489,00 DM betragen habe,
überstiegen. Es sei allgemein bekannt, dass das Arbeitslosengeld nur eine Lohnersatzfunktion habe und nicht voll den
entgangenen Verdienst abdecke oder sogar überschreite, weshalb die Unrichtigkeit der Leistungsbewilligung sofort ins
Auge hätte fallen müssen. Deshalb seien die Bewilligungsbescheide vom 16. Juli 1993 und vom 14. Januar 1994
gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) in Verbindung mit § 152 Abs. 2 AFG mit
der daran anknüpfenden Erstattungspflicht hinsichtlich des zu Unrecht erbrachten Arbeitslosengeldes aufzuheben.
Der Kläger erhob am 25. Januar 1996 dagegen Klage zum Sozialgericht Wiesbaden.
Mit weiterem Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 1996 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid
vom 25. Juli 1995 auch insoweit zurück, wie dieser die teilweise Rücknahme der Unterhaltsgeld-Bewilligung ab dem 1.
Februar 1994 betraf. Für die Bemessung des Unterhaltsgeldes gälten gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 in Verbindung
mit Abs. 6 AFG die Bestimmungen für das Arbeitslosengeld entsprechend. Die Berechnung des
Bemessungsentgeltes, welches der Zahlung des Unterhaltsgeldes zugrunde liege, sei, wie bereits im
Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 1995 dargelegt, nicht richtig vorgenommen worden. Nach der
Leistungsverordnung 1994, der Leistungsgruppe C und unter Berücksichtigung eines Kindes habe der Kläger bis zum
30. Juni 1994 einen Anspruch auf Unterhaltsgeld in Höhe von 408,00 DM wöchentlich gehabt; ab dem 1. Juli 1994
habe sein Anspruch wöchentlich 420,60 DM betragen. Tatsächlich habe er vom 1. Februar 1994 bis zum 30. Juni
1994 wöchentlich 606,10 DM und vom 1. Juli 1994 bis zum 17. November 1994 wöchentlich 621,00 DM an
Unterhaltsgeld erhalten. Die Entscheidungen über die Bewilligung des Unterhaltsgeldes vom 12. April 1994 und vom
15. Juni 1994 hätten insoweit aus den im Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 1995 genannten Gründen
zurückgenommen werden können, weshalb der Kläger zur Erstattung von insgesamt 8.277,90 DM verpflichtet sei.
Auch gegen diesen Bescheid erhob der Kläger (am 31. Januar 1996) Klage zum Sozialgericht Wiesbaden, welches
beide Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verband.
Mit Urteil vom 25. Februar 1997 hob das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 25. Juli 1995 und die
Widerspruchsbescheide vom 22. Dezember 1995 und vom 26. Januar 1996 auf. Es führte aus, zwar seien die
Bewilligungsbescheide der Beklagten von Anfang an rechtswidrig gewesen, was der Kläger auch leicht hätte erkennen
können; ihm seien Leistungen gezahlt worden, die mindestens im Bereich seines zuvor bezogenen Netto-
Arbeitsentgeltes gelegen hätten. Eine Rücknahme scheitere jedoch daran, dass die Beklagte die bewilligenden
Bescheide nicht innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen zurückgenommen habe, welche die Rücknahme
der rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakte für die Vergangenheit rechtfertigten (§ 45 Abs. 4 SGB X). Im
Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidungen, zuletzt am 15. Juli 1994, hätten der Beklagten alle Angaben vorgelegen,
die eine zutreffende Berechnung möglich gemacht hätten. Die Beklagte habe also von Anfang an Kenntnis der
entscheidungserheblichen Tatsachen gehabt, so dass im Zeitpunkt der Erteilung des Rücknahmebescheides vom 25.
Juli 1995 die Jahresfrist abgelaufen gewesen sei. Es komme nicht darauf an, wann die Behörde sich der
Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes bewußt geworden sei. Ebenso wenig beginne die Jahresfrist erst mit der
Anhörung des Klägers; die dahingehende Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 8. Februar 1996, 13 RJ 35/94) betreffe
einen anderen Sachverhalt.
Gegen dieses ihr am 23. April 1997 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 23. Mai 1997 Berufung eingelegt.
Sie trägt vor, die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X beginne zu laufen, wenn dem Arbeitsamt hinreichend
sichere Informationen über alle die rückwirkende Aufhebung berechtigenden Tatsachen vorlägen und keine weiteren
Ermittlungen erforderlich seien. Nach der Rechtsprechung des BSG erfordere dies eine hinreichend sichere
Information über alle für die Rücknahme bedeutsamen Fakten. Angaben des Leistungsempfängers zu den für die
Rücknahmentscheidung erheblichen Tatsachen hätten hierfür besondere Bedeutung. Im Falle des Klägers seien die
Überzahlungen dem Grunde nach erstmals durch Feststellungen des Vorprüfungsamtes im Oktober 1994 für die den
Leistungsvorgang bearbeitende Stelle im Arbeitsamt Wiesbaden erkennbar geworden, worauf dem Kläger Gelegenheit
zur Stellungnahme gegeben worden sei. Eine erneute Anhörung sei am 14. November 1994 erfolgt. Der am 25. Juli
1995 erlassene Aufhebungs- und Erstattungsbescheid sei damit innerhalb der Jahresfrist ergangen.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 25. Februar 1997 aufzuheben und die Klagen
abzuweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Er macht sich die Ausführungen des Sozialgerichts zu eigen. Der Beklagten hätten bei ihren
Bewilligungsentscheidungen alle für die Rücknahme bedeutsamen Fakten vorgelegen; diese habe lediglich aufgrund
eines Berechnungsfehlers seinen Anspruch unzutreffend ermittelt. Seit diesem Zeitpunkt habe sie die Möglichkeit
gehabt, ihre Berechnungen zu überprüfen; es sei ihre Obliegenheit, ihre Verwaltung so zu organisieren, dass dies
rechtzeitig erfolge. Er habe auf die Richtigkeit der von der Beklagten durchgeführten Berechnungen vertraut und
dementsprechend über die ihm gewährten Leistungen disponiert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der
Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig.
Dies gilt zunächst in formell-rechtlicher Hinsicht. Zwar unterliegt es Zweifeln, ob der Bescheid vom 25. Juli 1995 im
Sinne von § 35 Abs. 1 SGB X ausreichend begründet ist: Denn weder aus diesem Bescheid noch aus dem
Anhörungsschreiben vom 19. November 1994 war für den Kläger zu ersehen, aus welchem konkreten Grund die
früheren Leistungsbewilligungen rechtswidrig waren. Ein darin möglicherweise liegender Mangel des Verfahrens ist
aber jedenfalls dadurch geheilt worden, dass die Beklagte im Verlauf des Widerspruchsverfahrens die erforderliche
Begründung nachträglich gegeben hat (§ 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X). Denn sie hat den Kläger durch ihr Schreiben vom
14. September 1995 über den insoweit maßgeblichen Sachverhalt aufgeklärt.
Auch in materiell-rechtlicher Hinsicht ist der Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 25. Juli 1995 nicht zu
beanstanden. Seine Rechtsgrundlage findet er in § 45 SGB X. Danach darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder
einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, auch nach Eintritt seiner Unanfechtbarkeit unter
bestimmten, in den Absätzen 2 bis 4 beschriebenen Einschränkungen mit Wirkung für die Zukunft oder für die
Vergangenheit zurückgenommen werden, sofern er rechtswidrig ist.
Bei den Bescheiden der Beklagten vom 16. Juli 1993 und vom 14. Januar 1994 über die Bewilligung von
Arbeitslosengeld sowie den Bescheiden vom 12. April 1994 und vom 15. Juli 1994 über die Bewilligung von
Unterhaltsgeld, welche die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid teilweise zurückgenommen hat, handelte es
sich in diesem Sinne um rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte. Denn sowohl bei der Berechnung des
Arbeitslosengeldes wie bei der Berechnung des Unterhaltsgeldes hat die Beklagte ein zu hohes Arbeitsentgelt
zugrunde gelegt. Der Kläger hatte im Bemessungszeitraum (§ 112 Abs. 2 AFG) ein durchschnittliches Brutto-
Einkommen von monatlich 3.816,67 DM. Bei einer tariflichen regelmäßigen Arbeitszeit von 39 Wochenstunden hätte
nach der Berechnungsformel des § 112 Abs. 3 AFG der Leistungsbewilligung ein gerundetes wöchentliches
Arbeitsentgelt von 880 DM zugrunde gelegt werden müssen. Die insoweit maßgeblichen Berechnungsschritte wie
auch die daraus sich ergebenden richtigen Leistungssätze, die dem Kläger an Arbeitslosengeld bzw. Unterhaltsgeld
zugestanden hätten, hat die Beklagte in ihren Widerspruchsbescheiden vollständig und zutreffend dargelegt, weshalb
der Senat hierauf gemäß § 136 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zur Entlastung Bezug nimmt. Tatsächlich erhielt
der Kläger wesentlich höhere Leistungen, weil die Beklagte der Bemessung fälschlich ein wöchentliches
Arbeitsentgelt von 1.410,00 DM zugrunde legte.
Zwar darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte
auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen
Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (§ 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte
jedoch unter anderem dann nicht berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge
grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in
besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Maßgeblich ist also, ob unter
Berücksichtigung des Einsichtsvermögens und der Kritikfähigkeit des Betroffenen dieser aufgrund einfachster und
ganz naheliegender Überlegungen hätte erkennen können bzw. müssen, dass die Behördenentscheidung nicht
rechtmäßig sein konnte (BSGE 62, 107; SozR 4100 § 152 Nr. 10).
Dies ist im Fall des Klägers zu bejahen. Dieser konnte schlechterdings von der Rechtmäßigkeit der Höhe des ihm
bewilligten Arbeitslosengeldes bzw. Unterhaltsgeldes nicht ausgehen. Aus den Bewilligungsbescheiden ergab sich,
dass der Leistungsbemessung ein wöchentliches Bruttoarbeitsentgelt von 1.410,00 DM zugrunde gelegt worden war.
Zutreffend hat die Beklagte darauf hingewiesen, dass dieses Bemessungsentgelt viel höher war als das Brutto-
Arbeitsentgelt, das der Kläger bei der Firma M. zuletzt tatsächlich erzielt hatte. Auch bewegte sich das zuerkannte
Arbeitslosengeld (582,60 DM ab dem 1. Juli 1993) umgerechnet auf den Monat im Bereich des zuletzt bei der Firma
M. erzielten Nettoeinkommens. Zur Überzeugung des Senats ist es jedoch allgemeinkundig, dass das
Arbeitslosengeld nicht in voller Höhe den Verdienst der letzten Beschäftigung ersetzt. Eine entsprechende
Einsichtsfähigkeit ist bei dem Kläger, der bis zum Beginn seiner Arbeitslosigkeit als Bereichsleiter bei einer
Gebäudereinigungsfirma arbeitete und anschließend eine Umschulung zum Industrieelektroniker erfolgreich
abgeschlossen hat, gegeben. Die gegenteilige Behauptung des Klägers vermochte der Senat nicht zu glauben, zumal
dieser sein Arbeitsverhältnis bei der Firma M. selbst gekündigt hatte und dieser Zusammenhang es nahelegt, dass
sich der Kläger auch über die ihm zustehenden Lohnersatzleistungen vorher Kenntnis verschafft hatte.
Schließlich hat die Beklagte ihren Rücknahmebescheid auch innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen
erlassen, welche die Rücknahme der rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakte für die Vergangenheit
rechtfertigen (§ 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X). Nach der Rechtsprechung des BSG hat sich die Kenntnis im Sinne von §
45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nämlich sowohl auf diejenigen Tatsachen zu erstrecken, aus denen sich die Rechtswidrigkeit
des begünstigenden Verwaltungsaktes ergibt, als auch auf die, welche in § 45 Abs. 2 Satz 3 oder Abs. 3 Satz 2 SGB
X vorausgesetzt werden. Denn nur in diesen Fällen ist die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes mit
Wirkung für die Vergangenheit zugelassen (§ 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Die Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X wird
daher nicht schon durch die bloße Kenntnis der Tatsachen ausgelöst, die die Rechtswidrigkeit des begünstigenden
Verwaltungsaktes begründen (BSG SozR 3-1300 § 45 SGB X Nr. 2, Nr. 27).
Für den Beginn der Jahresfrist genügt es folglich nicht, dass ein aufmerksamer Sachbearbeiter bei der erstmaligen
Festsetzung des maßgeblichen Bemessungsentgelts – welches dann bei allen Folgebewilligungen ungeprüft
übernommen wurde – hätte erkennen können oder sogar müssen, dass der Berechnungsfaktor "Arbeitsstunden” im
Sinne von § 112 Abs. 3 Satz 1 AFG falsch bestimmt worden war. Die Jahresfrist beginnt nicht zu laufen, bevor die
Behörde die Rechtswidrigkeit ihrer Entscheidung erkannt hat. Denn erst hierdurch wird sie in die Lage versetzt, die
maßgeblichen Tatsachen zu den übrigen Rücknahmevoraussetzungen zu ermitteln, insbesondere also zu klären, ob
der Begünstigte die Rechtswidrigkeit der Leistungserbringung kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte
(BSG SozR 3-1300 § 45 Nr. 2). Daher kann die Jahresfrist regelmäßig erst nach erfolgter Anhörung des Betroffenen
beginnen, da die Behörde erst hierdurch die erforderliche Kenntnis aller für die Rücknahmeentscheidung maßgeblichen
Tatsachen erlangt (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr. 27).
Hieraus folgt, dass die Beklagte im vorliegenden Fall die Jahresfrist gewahrt hat. Sie wurde erstmals durch
Feststellungen des Vorprüfungsamtes im Oktober 1994 auf die Rechtswidrigkeit der vorangegangen
Leistungsbewilligungen aufmerksam; es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sie bereits zu einem früheren Zeitpunkt
um die Rechtswidrigkeit der Leistungserbringung wußte. Hierauf hat sie den Kläger (mit Schreiben vom 19. Oktober
1994 und 14. November 1994) angehört und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben; dieser hat sich mit
Schreiben vom 1. November 1994 geäußert. Unabhängig davon, welches Datum insoweit für den Beginn der
Jahresfrist maßgeblich ist, liegt die angefochtene Rücknahmeentscheidung der Beklagten vom 25. Juli 1995 damit in
jedem Fall innerhalb der gesetzlichen Frist.
Mithin war die Beklagte verpflichtet, die rechtswidrigen Bewilligungsbescheide mit Wirkung für die Vergangenheit
teilweise zurückzunehmen. Ermessen hatte sie hierbei aufgrund von § 152 Abs. 2 AFG in der seit dem 1. Januar 1994
geltenden Fassung durch das 1. SKWPG vom 21. Dezember 1993 nicht auszuüben.
Liegen damit die Rücknahmevoraussetzungen des § 45 SGB X vor, so folgt hieraus die Pflicht des Klägers zur
Erstattung der ihm zu Unrecht erbrachten Leistungen (§ 50 Abs. 1 SGB X). Die sich ergebenden Überzahlungsbeträge
hat die Beklagte in ihren Widerspruchsbescheiden korrekt berechnet. Der Senat nimmt hierauf Bezug.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Entscheidung über die Zulassung der Revision auf § 160 Abs. 2
SGG.