Urteil des LSG Hessen vom 12.01.2009

LSG Hes: hauptsache, rechtsschutz, aufschiebende wirkung, niedersachsen, beschränkung, kongruenz, anwendungsbereich, beweismittel, beweisgrad, verfügung

Hessisches Landessozialgericht
Beschluss vom 12.01.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 7 AS 1228/08 ER
Hessisches Landessozialgericht L 7 AS 421/08 B ER
I. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. November
2008 wird als unzulässig verworfen.
II. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind auch nicht zu erstatten.
Gründe:
Die am 1. Dezember 2008 eingelegte Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts
Frankfurt am Main (SG) vom 13. November 2008 mit dem sinngemäßen Antrag,
den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. November 2008 aufzuheben und die aufschiebende
Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Kürzungsbescheid des Antragsgegners vom 15. August 2008 anzuordnen und
den einbehaltenen Betrag in Höhe von insgesamt 105,00 EUR an sie auszuzahlen, hilfsweise den Antragsgegner
vorläufig bis zu einer Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache zu verpflichten, an sie 105,00 EUR zu zahlen,
ist entgegen der falschen Rechtsmittelbelehrung des SG bereits unstatthaft, so dass der Senat in der Sache keine
Entscheidung treffen darf.
Gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG idF des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und
Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.3.2008 (BGBl I 444) - SGG F. 2008 -, in Kraft ab 1. April 2008 (Art. 4 des
Änderungsgesetzes), ist ein Beschluss im einstweiligen Rechtsschutz mit der Beschwerde nur anfechtbar, wenn in
der Hauptsache die Berufung zulässig wäre.
Die Berufung wiederum wäre in der Hauptsache gemäß § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG F. 2008 ohne gesonderte
Zulassung durch das Sozial- (§ 144 Abs. 2 und 3 SGG) oder auf Beschwerde das Berufungsgericht (§ 145 SGG) nur
statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes oder eines hierauf gerichteten Verwaltungsaktes 750,00 EUR
überstiege oder gemäß § 144 Abs. 1 S. 2 SGG wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr
betroffen wären.
Beide Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt, weil der Beschwerdewert nur 105,00 EUR beträgt und der
Leistungszeitraum auf 3 Kalendermonate beschränkt ist.
Als statthaft ist die Beschwerde auch nicht anzusehen, weil es möglich bleibt, dass in der Hauptsache das Sozial-
oder Berufungsgericht die Berufung zulassen wird. Die vom Gesetzgeber gewollte Beschränkung der Beschwerde im
einstweiligen Rechtsschutz würde ins Leere laufen, wenn allein die Möglichkeit zur Zulassung der Berufung die
Beschränkung aufheben würde, weil das ausnahmslos eröffnet ist und die beabsichtigte Beschränkung damit vereitelt
wäre.
Ebenso wenig ist für das Sozial- oder Beschwerdegericht die Befugnis eröffnet, für das einstweilige
Rechtsschutzverfahren die Beschwerde entsprechend §§ 144 Abs. 2 und 3, 145 SGG zuzulassen oder sie zumindest
als statthaft anzusehen, wenn entsprechende Zulassungsgründe in der Hauptsache nach Auffassung des
Beschwerdegerichts gegeben sind. Insoweit hält der Senat an seiner ständigen Rechtsprechung im Ergebnis fest
(Beschlüsse des Senats: 11.8.2008 – L 7 AS 213/08 B ER, 1. Juli 2008 - L 7 SO 59/08 B ER -, 26. Juni 2008 - L 7
AS 164/08 B ER -; so auch: Schleswig-Holsteinisches LSG, 6.11.2008 – L 11 B 526/08 AS ER; LSG Berlin-
Brandenburg, 16.10.2008 – L 20 B 1647/08 AS ER; LSG Niedersachsen-Bremen, 29.9.2008 – L 8 SO 80/08 ER und
8.9.2008 – L 13 AS 178/08 ER; LSG NRW, 15.8.2008 – L 19 B 146/08 AS ER), obwohl dem mit ausführlicher
Begründung entgegengetreten worden ist (LSG Niedersachsen-Bremen, 21.10.2008 – L 6 AS 458/08 ER).
Eine gesonderte Zulassungsbefugnis für das Beschwerdeverfahren ist § 177 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGG F. 2008 schon
deshalb nicht zu entnehmen, weil Maßstab für die Statthaftigkeit der Beschwerde ausdrücklich nur die allerdings
hypothetische Statthaftigkeit einer Berufung in der Hauptsache ist. Damit hat der Gesetzgeber allein auf die
ausdrückliche Regelung in §§ 144, 145 SGG F. 2008 für das Berufungsverfahren abgestellt, ohne ein eigenständiges
Zulassungsverfahren im Beschwerdeverfahren vorzusehen. Es widerspräche auch der gebotenen Dringlichkeit im
einstweiligen Rechtsschutz ein solches dem Beschwerdeverfahren vorzuschalten.
Die Beschwerde wäre auch nicht statthaft, wenn ohne gesonderte Zulassung im Beschwerdeverfahren alleine einer
der in § 144 Abs. 2 SGG aufgeführten Zulassungsgründe vorläge.
Der Wortlaut des § 172 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGG F. 2008 gibt dafür nichts her. Der Gesetzgeber hat sich leider gegen
eine eindeutige Formulierung entschieden, nach der entweder die Zulassungsgründe einzubeziehen wären oder
unberücksichtigt bleiben müssen. Weder hat er ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Beschwerde
ausgeschlossen ist, wenn in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfe noch hat er angeordnet, der
Ausschluss greife nicht, soweit Zulassungsgründe vorlägen.
Gestützt wird die Auffassung des Senats aber nach Sinn und Zweck des Zulassungsverfahrens und der hierfür
erforderlichen Gründe in der Hauptsache gemäß §§ 144, 145 SGG sowie dem gesetzgeberischen Zweck der
Neuregelung in § 172 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGG F. 2008.
Getragen ist die Neuregelung von dem gesetzgeberischen Willen, die Landessozialgerichte zu entlasten. Aus diesem
Blickwinkel heraus, soll die Privilegierung von Rechtsschutzmöglichkeiten im Beschwerdeverfahren gegenüber dem
Hauptsacheverfahren entfallen (BT-Drucks 16/7716, S. 106, zu Nr. 29, Buchstabe b). Angestrebt ist damit eine
Kongruenz zwischen der Rechtsmittelbefugnis in der Hauptsache und im einstweiligen Rechtsschutz. Bei einfacher
Betrachtung könnte das zunächst dafür sprechen, im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gleichermaßen wie im
Hauptsacheverfahren auch die Zulassungsgründe nach § 144 Abs. 2 SGG für die Statthaftigkeit der Beschwerde
ausreichen zu lassen. Eine solche oberflächliche Betrachtung berücksichtigt aber nicht ausreichend die zeitlichen und
sachlichen Unterschiede einer Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz gegenüber der Hauptsache.
Dabei lässt es der Senat offen, ob aus der Verwendung des Konjunktivs in der Formulierung "die Berufung zulässig
wäre" zu folgern ist, § 172 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGG F. 2008 stelle nicht auf die Zulässigkeit, enger: Statthaftigkeit, der
Berufung für den Gegenstand der Hauptsache ab (so noch: Senat, 11.8.2008 – L 7 AS 213/08 B ER; auch: LSG
Hamburg, 1.9.2008 – L 5 AS 70/08 NZB; LSG Niedersachsen-Bremen, 8.9.2008 – L 13 AS 178/08 ER), sondern
übertrage nur die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Berufungsverfahrens auf den Gegenstand des
Beschwerdeverfahrens im einstweiligen Rechtsschutz (LSG Niedersachsen-Bremen, 21.10.2008 – L 6 AS 458/08
ER). Denn nach beiden Lesarten können die Zulassungsgründe nach § 144 Abs. 2 SGG nicht die Beschwerde gemäß
§ 172 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGG F. 2008 eröffnen.
Sollte hypothetisch auf die Statthaftigkeit der Berufung für das zugrundeliegende Hauptsacheverfahren abzustellen
sein, das ggf. noch gar nicht anhängig ist, weil der gerichtliche einstweilige Rechtsschutz nach § 86b SGG bereits für
das Verwaltungsverfahren eröffnet ist, fehlte es bereits an der dann erforderlichen zeitlichen Kongruenz zwischen dem
Berufungs- und Beschwerdeverfahren. In der Hauptsache können Zulassungsgründe nach § 144 Abs. 2 SGG die
Berufung nur in dem Zeitpunkt statthaft werden lassen, in dem das Sozial- oder Berufungsgericht die Berufung
deswegen zugelassen hat. Die Zulassungsentscheidung ist konstitutive Voraussetzung für die Statthaftigkeit der
Berufung. Solange sie nicht ergangen ist, bleibt die Berufung schwebend unzulässig. Eine Zulassung kann aber vor
dem Abschluss des Beschwerdeverfahrens über den einstweiligen Rechtsschutz nicht ergangen sein und ob sie zu
einem späteren Zeitpunkt ergehen wird, bleibt in jedem Fall schon deshalb fraglich, weil eine Entscheidung im
vielleicht nachfolgenden Klageverfahren nicht – zwingend – zu ergehen hat. Bei der anderen Lesart ist hingegen zu
bedenken, dass die Zulassungsgründe des § 144 Abs. 2 SGG auf den einstweiligen Rechtsschutz nicht
zugeschnitten sind und deshalb auch nicht übertragen werden können. Grundsätzliche Bedeutung nach § 144 Abs. 2
Nr. 1 SGG kann nicht die vorläufige Regelung im einstweiligen Rechtsschutz haben, sondern können nur die ihr
zugrundeliegenden Ansprüche in der Hauptsache haben, welche gerade nicht den Streitgegenstand des einstweiligen
Rechtsschutzverfahrens bilden. Auch eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung nach § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG ist
nicht angezeigt, weil durch die Verkürzung des Rechtswegs auf die Tatsachengerichte eine einheitliche
Rechtsprechung im einstweiligen Rechtsschutz ohnehin nicht herzustellen ist. Allein der Zulassungsgrund des § 144
Abs. 2 Nr. 3 SGG - Verfahrensfehler, auf dem die Entscheidung des SG beruhen kann -, könnte grundsätzlich auch
für das einstweilige Rechtsschutzverfahren greifen. Eine weitere Fehlerkorrektur in einem Rechtsmittelverfahren ist
aber in Anfechtungssachen entbehrlich, weil bereits das Sozialgericht auf einen weiteren Antrag nach § 86b Abs. 1 S.
4 SGG seine Entscheidung nach herrschender Meinung (h.M.) jederzeit selbst dann abändern kann, wenn eine
Änderung der Rechts- oder Sachlage nicht eingetreten ist (Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 9. Aufl., § 86b Rn. 20
mwN; aA Krodel, "Das sozialgerichtliche Eilverfahren", 2. Aufl., Rn. 185). Lediglich in Vornahmesachen gilt das nach
h.M. nur, wenn eine Änderung der Tatsachen- oder Rechtslage eingetreten ist (Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 9.
Aufl., § 86b Rn. 45 f. mwN). Weiter steht für Gehörsfehler die Anhörungsrüge gemäß § 178a SGG zur Verfügung. Es
ist aber ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung auszuschließen, dass für den verbleibenden engen
Anwendungsbereich der Gesetzgeber eine Prüfung der Zulassungsgründe im einstweiligen Rechtsschutzverfahren
einführen wollte; zumal der geminderte Beweisgrad und die Erweiterung der Beweismittel im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren dem eher entgegenstehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf dem Ausgang des Rechtsstreits entsprechend § 193 Abs. 1 S. 1 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit einer weiteren Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).