Urteil des LSG Hessen vom 21.01.1981

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Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 21.01.1981 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel S 12 Kr 37/78
Hessisches Landessozialgericht L 8 Kr 1267/79
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 3. Oktober 1979 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Im übrigen
sind keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Höhe des von dem Beklagten an den Kläger zu gewährenden
Pflichtkrankenkassenbeitrags nach § 520 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung – RVO –.
Der Kläger war vom 1. Juli 1977 bis zum 16. Mai 1980 Angestellter der Beklagten und als Pflichtversicherter nach §
165 Abs. 1 Nr. 2 RVO Mitglied der Beigeladenen. Mit Schreiben vom 23. August 1977 begehrte er von dem Beklagten
die Auszahlung des vollen Arbeitgeberanteils des Pflichtkrankenkassenbeitrags der für ihn an sich zuständigen AOK
Deren Beitragssatz betrage 11,4 % der Bruttolohnsumme, während dieser bei der Beigeladenen mit 10,7 %
festgesetzt sei. Der Beklagte habe daher seinen Arbeitgeberanteil nach einem Beitragssatz in Höhe von 5,7 %
anstelle von 5,35 % zu leisten gehabt. Nachdem der Beklagte das Begehren des Klägers wiederholt zurückgewiesen
hatte, hat dieser bei dem Sozialgericht Kassel – SG – am 17. Juli 1978 Klage auf dessen Verurteilung zur Zahlung
des Differenzbetrages zwischen dem Ersatzkassen- und Pflichtkrankenkassenbeitrag aus dem Arbeitgeberanteil
erhoben. Mit Urteil vom 3. Oktober 1979 hat das SG der Klage stattgegeben und im wesentlichen ausgeführt: Die
gesetzliche Regelung sei eindeutig. Mit der Lohn- und Gehaltszahlung habe der Beklagte als Arbeitgeber auch den
vollen Beitragsanteil an den Versicherten zu zahlen, wie er dem Beitragssatz der für ihn an sich zuständigen
Pflichtkrankenkasse, nämlich der AOK entspreche. Ob der Beitragssatz der Ersatzkasse höher oder niedriger sei, sei
rechtlich ohne Bedeutung. Wegen der Einzelheiten wird auf das sozialgerichtliche Urteil verwiesen.
Gegen das an ihn am 15. Oktober 1979 abgesandte Urteil hat der Beklagte beim SG am 30. Oktober 1979 Berufung
eingelegt.
Es ist im Berufungsverfahren die Ersatzkasse beigeladen und die Auskunft der AOK vom 1. Oktober 1980 eingeholt
worden. Danach galten bei dieser Krankenkasse als allgemeine Beitragssätze in der Zeit vom 1. Juli 1977 bis zum 31.
Juli 1978 11,4 %, vom 1. August 1978 bis zum 31. Dezember 1979 12,6 % und vom 1. Januar bis zum 16. Mai 1980
13,2 %.
Der Beklagte bringt zur Begründung der Berufung vor: Das SG habe die Vorschrift zu positivistisch ausgelegt und den
Zusammenhang mit anderen Beitragsvorschriften übersehen. Der Gesetzgeber gehe davon aus, daß im Normalfall
Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils die Hälfte des Pflichtkrankenkassenbeitrags einer RVO-Kasse zu zahlen hätten.
Für diejenigen Fälle aber, in denen sich ein versicherungspflichtiger Arbeitnehmer für die Mitgliedschaft in einer
Ersatzkasse entschieden habe, sei durch § 520 RVO sichergestellt, daß der Arbeitgeber niemals mehr als denjenigen
Beitragsanteil aufzubringen habe, als er dem der RVO-Kasse entspreche. Bei der Schaffung des § 520 RVO sei der
Gesetzgeber selbstverständlich davon ausgegangen, daß die Ersatzkassenbeiträge höher seien als die der
zuständigen RVO-Kasse. Es habe daher kein Bedürfnis bestanden, den völlig theoretischen Fall zu regeln, daß die
Ersatzkassenbeiträge einmal niedriger und einmal höher sein könnten als die Beitragssätze der zuständigen RVO-
Kasse. Da der Gesetzgeber eine solche atypische Fallgestaltung nicht habe voraussehen können sei eine
entsprechende Regelung unterblieben. Insoweit sei § 520 RVO ergänzend auslegungsfähig dahin, daß der Arbeitgeber
jeweils nur die Hälfte des tatsächlich geleisteten Krankenkassenbeitrags, begrenzt bis zur Höhe des Beitrags der
zuständigen RVO-Kasse, zu zahlen habe. Dies entspreche dem Grundgedanken der paritätischen Beitragszahlung
nach § 381 Abs. 1 Satz 1 RVO und habe seinen Niederschlag auch in der neuen Vorschrift des § 405 RVO für
freiwillig Versicherte gefunden. Der Hinweis des SG, daß der Gesetzgeber mehrfach Gelegenheit gehabt habe, § 520
RVO zu ändern, sei angesichts seiner Überforderung durch die hinlänglich bekannte Gesetzesflut nicht stichhaltig. Die
von dem SG vorgenommene Auslegung sei auch rechts- und sozialpolitisch unerwünscht. Sogenannte
Geringverdiener würden sich bereichern können und es bestehe die Gefahr, daß die Pflichtmitglieder massenhaft
Ersatzkassen beitreten, was zu einer erheblichen Schwächung der RVO-Kassen führen müsse. Im übrigen habe das
SG dem Kläger mehr zugesprochen als er begehrt habe. Außerdem müsse die Einrede der Verjährung erhoben
werden.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 3. Oktober 1979 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Der Kläger und die Beigeladene beantragen, die Berufung zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Beigeladene weist im übrigen darauf hin, daß als allgemeine
Beitragssätze bei ihr für die Zeit vom 1. Januar 1977 bis zum 31. Dezember 1978 10,7 v.H. und ab dem 1. Januar
1979 10,2 v.H. festgesetzt sind.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Streitakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die mangels Ausschließungsgründen statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und daher zulässig (§§
143, 151 SGG).
Sie ist jedoch unbegründet. Das SG hat der nach § 54 Abs. 5 SGG zulässigen Leistungsklage (vgl. auch BSG, SozR
2200 § 405 RVO Nr. 9; BSGE 37, 292; Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, Anm. 37 und 41 zu § 54 SGG) mit
zutreffenden Erwägungen stattgegeben. Der Kläger hat gegenüber dem Beklagten Anspruch auf Nachzahlung des
Differenzbetrages, der sich aus dem auf den Beklagten entfallenden Arbeitgeberanteil bezüglich des
Krankenversicherungsbeitrags aus dem höheren Beitragssatz der RVO-Kasse und dem niedrigeren Beitragssatz der
Ersatzkasse ergibt (§ 520 Abs. 1 RVO).
Zunächst stellt der Senat fest, daß der Kläger in der Zeit vom 1. Juli 1977 bis zum 16. Mai 1980 bei dem Beklagten in
einem Versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stand und als solcher nach Befreiung von der
Pflichtmitgliedschaft bei der für ihn an sich zuständigen AOK Mitglied der beigeladenen Ersatzkasse war. Die AOK
hatte in der hier streitigen Zeit die allgemeinen Beitragssätze vom 1. Juli 1977 bis zum 31. Juli 1978 mit 11,4 %, vom
1. August 1978 bis zum 31. Dezember 1979 mit 12,6 % und ab 1. Januar 1980 mit 13,2 % festgesetzt. Diese
Beitragssätze liegen sämtlich höher als die bei der Beigeladenen mit 10,7 % bis zum 31. Dezember 1978 und mit 10,2
% ab dem 1. Januar 1979 geltenden. Das ergibt sich aus den Angaben der Beteiligten sowie der Auskunft der AOK
Hierüber besteht unter den Beteiligten auch kein Streit.
Nach § 520 Abs. 1 Satz 1 RVO hat die Ersatzkasse für die nach § 517 RVO von der Mitgliedschaft bei einer RVO-
Krankenkasse befreiten Anspruch auf den vollen Beitragsanteil, den der Arbeitgeber an die Krankenkasse abzuführen
hätte, bei der der Beschäftigte ohne die Mitgliedschaft bei der Ersatzkasse versichert sein würde. Ferner hat der
Arbeitgeber nach § 520 Abs. 1 Satz 2 RVO den Beitragsanteil unmittelbar an den Versicherten bei der Lohn- oder
Gehaltszahlung abzuführen. Das ist entgegen der Auffassung des Beklagten nicht die Hälfte des Beitragsteils, der
sich nach dem Beitragssatz der Beigeladenen, sondern nach demjenigen errechnet, den die für ihn an sich zuständige
AOK als Pflichtbeitrag festzusetzen gehabt hätte (vgl. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 36. Nachtrag,
Anm. 2 zu § 520 RVO; Krauskopf/Schroeder/Printzen, Soziale Krankenversicherung, 2. Aufl., Stand April 1980, Anm.
1.1 zu § 520 RVO; ebenso Fischwasser, Das Zweite Krankenversicherungsänderungsgesetz in DOK 1970, 813, 825;
BSG, Urteil vom 11. März 1970 – 3 RK 48/66 – in E 31, 59; 24. Mai 1973 – 3 RK 9/73 – SozR Nr. 2 zu § 163 AFG).
Es liegt allein in der freien Dispositionsmöglichkeit des Versicherten, ob er sich nach § 517 RVO von der
Pflichtversicherung bei der RVO-Kasse befreien lassen und einer Ersatzkasse beitreten will. Daraus darf aber dem
Arbeitgeber, der darauf keinen Einfluß hat, kein Nachteil erwachsen. Daher sieht nach dem gesetzgeberischen Willen
§ 520 RVO vor, daß der Arbeitgeber jeweils die Hälfte des Beitrags zur Krankenversicherung nach dem Beitragssatz
der für den bei ihm Beschäftigten an sich zuständigen RVO-Kasse zu leisten hat. Diese gesetzliche Regelung ist
eindeutig und keiner anderen, insbesondere ergänzenden Auslegung fähig.
Mit zutreffenden Erwägungen hat das SG darauf hingewiesen, daß sich weder aus der Regelung des § 381 RVO noch
der des § 405 RVO etwas anderes ergibt. Diese Vorschriften betreffen andere Versicherungsfälle als den
vorliegenden. Im Gegensatz zu § 520 RVO regelt § 405 RVO die Höhe des Zuschusses von freiwillig gegen Krankheit
Versicherte. Zutreffend ist, daß § 381 Abs. 1 Satz 1 RVO in Zusammenhang mit § 520 RVO gesehen werden muß.
Beide Vorschriften behandeln in gleicher Weise die Höhe der Anteile des Beitrags eines Pflichtversicherten. Sie gehen
übereinstimmend davon aus, daß sich der Arbeitgeberanteil jeweils nach dem Beitragssatz der für den
Pflichtversicherten zuständigen RVO-Kasse bemißt. Die von dem Beklagten vorgenommene Berechnung der Höhe
des Arbeitgeberanteils führt zwangsläufig zu dessen Entlastung, sofern der Beitragssatz der Ersatzkasse niedriger
liegt als der der RVO-Kasse wie hier. Die Richtigkeit der Auffassung des SG ergibt sich auch aus dem Erlaß des
Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 26. April 1974 (I a 1-15510) gegenüber dem Bundesminister der
Finanzen. Darin ist ausdrücklich die Auffassung vertreten worden, daß eine mögliche Diskrepanz zwischen den
Beitragssätzen bezüglich des Arbeitgeberanteils nach § 381 Abs. 1 RVO und § 520 Abs. 1 RVO hingenommen
werden muß und keine Bedenken sozialversicherungsrechtlicher Art bestehen. Zutreffend hat das SG darauf
hingewiesen, daß in Kenntnis dieser Problematik der Gesetzgeber bei der wiederholten Änderung des
Krankenversicherungsrechts davon Abstand genommen hat, eine entsprechende Angleichung in § 520 Abs. 1 RVO
vorzunehmen. Danach muß davon ausgegangen werden, daß diese Regelung dem gesetzgeberischen Willen
entspricht. Es ist nicht zutreffend, wie der Beklagte meint, daß wegen der hinlänglich bekannten Gesetzesflut der
Gesetzgeber zur Änderung des § 520 RVO überfordert gewesen sei. Aus dem Erlaß des Bundesministers für Arbeit
und Sozialordnung vom 26. April 1974 kann vielmehr entnommen werden, daß von einer solchen Änderung in
Kenntnis der bestehenden Problematik Abstand genommen worden ist. Auch aus rechts- und sozialpolitischen
Erwägungen heraus lassen sich keine Kriterien finden, die die Handhabung des Beklagten rechtfertigen. Das
möglicherweise ein sogenannter Geringverdiener ungerechtfertigt besser steht, wird vom Gesetzgeber hingenommen.
Im übrigen ist es unzutreffend, daß Pflichtversicherte "scharenweise in Ersatzkassen übertreten”. Hierbei handelt es
sich um eine unbewiesene Annahme des Beklagten. Im Gegenteil ist gerade das von ihm für rechtens angesehene
Verfahren geeignet, Arbeitgeber zu veranlassen, auf ihre Pflichtversicherten hinzuwirken, sich von der
Pflichtmitgliedschaft befreien zu lassen und einer Ersatzkasse beizutreten. Denn es ist der Arbeitgeber, der bei einem
solchen, wie von dem Beklagten gehandhabten Verhalten begünstigt wird und an dieser Begünstigung ein Interesse
haben müßte.
Mit dem Hinweis des Beklagten, daß das SG dem Kläger mehr zugesprochen habe als er verlangt habe, kann er
ebenfalls keinen Erfolg haben. Der Kläger ist erst seit dem 1. Juli 1977 bei dem Beklagten beschäftigt gewesen. Er
hat mit dem Schreiben vom 23. August 1977, aber auch mit dem vom 15. Mai 1978 die Nachzahlung des
Differenzbetrages, der sich aus dem auf den Beklagten entfallenden Arbeitgeberanteil bezüglich des
Krankenversicherungsbeitrages aus dem höheren Beitragssatz der AOK und dem niedrigeren Beitragssatz der
Beigeladenen ergibt, auch erst ab 1. Juli 1977 geltend gemacht. Ein weiterer zurückliegender Anspruch konnte
mangels eines entsprechenden Beschäftigungsverhältnisses zum Beklagten nicht entstehen, so daß das SG im
Rahmen des § 123 SGG das Grundurteil (§ 130 SGG) erlassen konnte. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist
der Anspruch auch nicht verjährt. Da es sich hier um Ansprüche handelt, die seit dem 1. Juli 1977 entstanden sind,
sind die Gemeinsamen Vorschriften für die Sozialversicherung des 4. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 4)
anzuwenden, die am 1. Juli 1977 in Kraft getreten sind (Art. 2 §§ 15, 21 des Gesetzes zum SGB 4 vom 23. Dezember
1976; BGBl. I S. 3845). Nach § 25 Abs. 1 SGB 4 gilt eine vierjährige Verjährungsfrist, deren Lauf mit der Erhebung
der Klage am 17. Juli 1978 unterbrochen worden ist (§ 25 Abs. 2 SGB 4).
Der Senat konnte sich auf die Bestätigung des erlassenen Grundurteils (§ 130 SGG) beschränken, da nach den oben
festgestellten unterschiedlichen Beitragssätzen feststeht, daß der Beklagte zu Ungunsten des Klägers in der Zeit vom
1. Juli 1977 bis zum 16. Mai 1980 lediglich die Hälfte des Beitrags nach den Beitragssätzen der Beigeladenen
geleistet hat und damit der Anspruch auf Mindestleistungen gegeben ist. Es wird dem Beklagten nunmehr obliegen,
den nachzuzahlenden Betrag rechnerisch genau festzustellen.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.