Urteil des LSG Hessen vom 08.08.2008

LSG Hes: umkehr der beweislast, erlass, hauptsache, bedürftigkeit, bekleidung, rechtsschutz, lebenserfahrung, käufer, fehlbetrag, besitz

Hessisches Landessozialgericht
Beschluss vom 08.08.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 45 AS 460/08 ER
Hessisches Landessozialgericht L 7 AS 149/08 B ER
I. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 17. April
2008 aufgehoben.
II. Der Antrag des Antragstellers vom 2. April 2008 auf einstweiligen Rechtsschutz wird zurückgewiesen.
III. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Der 1953 geborene Antragsteller ist schwerbehindert (GdB 90, Nachteilsausgleiche "G", "RF"). Er bezieht seit dem 1.
Januar 2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II),
Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) wurden ihm zuvor ab Februar 1991 gewährt.
Seit Juni 1980 wohnt der Antragsteller in einer 98 m² großen Vierzimmerwohnung in der A-Straße, A-Stadt, für deren
Grundmiete er nach Aktenlage 454,93 EUR zuzüglich 85,00 EUR Heizkosten und 36,74 EUR Betriebskosten -
insgesamt 576,67 EUR monatlich - zu zahlen hat (Bl. 188 der Verwaltungsakte).
Von der Antragsgegnerin werden bereits seit Leistungsbeginn nur die angemessenen Unterkunftskosten geleistet. Zur
Sicherung des vorhandenen Wohnraumes erhielt der Antragsteller daneben von einem Bekannten ein
zweckgebundenes Darlehen in Höhe von 250,00 EUR monatlich. In einem früheren zwischen den Beteiligten geführten
Rechtsstreit war bereits die Hilfebedürftigkeit des Antragstellers und die Bewertung des Darlehens bei der
Leistungsgewährung streitig. Mit Beschluss vom 8. Mai 2007 (Az.: L 7 AS 24/07 ER) verpflichtete das Hessische
Landessozialgericht die Antragsgegnerin, dem Antragsteller bis zur abschließenden Verwaltungsentscheidung,
längstens bis August 2007, Leistungen nach dem SGB II in gesetzlichem Umfang unter Anrechnung des ihm
zufließenden Privatdarlehens (200,00 EUR mtl.) zu gewähren.
Unter dem 24. Mai 2007 teilte der Antragsteller mit, das Privatdarlehen künftig nicht mehr in Anspruch zu nehmen.
Daraufhin bewilligte die Antragsgegnerin ihm mit Bescheid vom 30. Mai 2007 bis einschließlich Mai 2007 Leistungen
mit Einkommensanrechnung, für die Zeit ab Juni 2007 ohne diese. Bis einschließlich Januar 2008 erhielt der
Antragsteller monatlich 732,90 EUR (Regelsatz: 347,00 EUR, Kosten für Unterkunft und Heizung: 385,90 EUR).
Im Rahmen der Folgeantragstellung im Januar 2008 erklärte der Antragsteller auf Nachfrage der Antragsgegnerin,
dass bei ihm keine Mietrückstände aufgelaufen seien und begründete dies mit einer extremen Einschränkung der
Ausgaben für den Lebensunterhalt.
Darüber hinaus habe er auf privaten Flohmärkten Teile seines Inventars (Bücher, Platten, ältere Möbel,
Bekleidungsgegenstände, Hausrat) veräußert und dadurch im Durchschnitt ca. 150,00 EUR im Monat erlöst. Bei der
Energieversorgung A. AG (E.) bestünden erhebliche Rückstände. Mit Schreiben vom 26. Februar 2008 forderte die
Antragsgegnerin den Antragsteller auf, konkrete, detaillierte Angaben und Nachweise u.a. zu den behaupteten
erfolgten Verkäufen zu machen und eine Erklärung zu den noch vorhandenen Vermögensgegenständen abzugeben.
In Beantwortung der Anfrage wies der Antragsteller einen Rückstand von Energiekosten in Höhe von 744,00 EUR
nach (Schreiben E. vom 29. Februar 2008). Er teilte mit, nicht alle konkreten Gegenstände, die auf den Flohmärkten
verkauft worden seien und die Erlöse jeweils hierfür benennen zu können. Für eine alte, ca. 25 Jahre alte Lederjacke
habe er - soweit erinnerlich - 80,00 EUR erzielt. Schallplatten habe er zum Teil für ein Betrag von je 1,00 EUR
verkauft, für eine ältere Nachttischlampe habe er 15,00 EUR erhalten. Von dem Regelsatz könne er monatlich ca.
30,00 bis 40,00 EUR abzweigen, den Regelsatzanteil für die Bereiche Freizeit, Unterhaltung, Kultur und
Gaststättenleistungen sowie Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren habe er auf ein Minimum reduziert.
Mit Bescheid vom 28. März 2008 lehnte die Antragsgegnerin die Leistungsgewährung für die Zeit ab Februar 2008
aufgrund fehlender Mitwirkung sowie wegen nicht nachgewiesener Hilfebedürftigkeit ab. Es sei nicht erklärt worden, in
welchem Umfang Erlöse aus den angeblichen Verkäufen erzielt worden und in welchem Umfang diese geeignet zur
Deckung nicht berücksichtigter Bedarfe gewesen seien. Der angebliche Verkaufserlös von durchschnittlich 150,00
EUR pro Monat bei einem behaupteten Verkauf von u.a. Bekleidung und Schallplatten sei nicht anzunehmen. Die
Bedürftigkeit sei weder glaubhaft noch als nachgewiesen anzuerkennen. Aufgrund der nicht erklärten Verhältnisse,
widersprüchlicher Angaben und der bei nicht nachvollziehbarer wirtschaftlicher Bedingung vorgenommener Zahlung
der gesamten Kosten der Unterkunft, bestünden akute, aktuelle Zweifel an der Bedürftigkeit.
Über den Widerspruch des Antragstellers hiergegen wurde bisher nicht entschieden. Der Antragsteller hat mit
Schriftsatz vom 28. März 2008, eingegangen bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main am 2. April 2008, einen Antrag
auf einstweiligen Rechtsschutz mit dem Ziel gestellt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihm über den 1. Februar
2008 hinaus Leistungen nach dem SGB II in ungekürzter Höhe weiter zu gewähren. Er ist der Auffassung, dass
Anhaltspunkte für seine fehlende Bedürftigkeit nicht vorlägen.
Er habe der Antragsgegnerin nachgewiesen, dass er die monatliche Differenz zwischen anerkannten und
tatsächlichen Mietkosten durch spartanische Lebensführung sowie den Verkauf privater Sachen auf Flohmärkten
finanziere. Allein eine aus früheren Zeiten vorhandene Gitarre habe einen Verkaufserlös von ca. 100,00 EUR erzielt.
Er sei seiner Mitwirkungspflicht nachgekommen, habe der Antragsgegnerin alle gewünschten Informationen gegeben.
Die Antragsgegnerin gehe zudem von falschen Zahlen aus, seine Gesamtkosten für die Unterkunft beliefen sich nur
auf 576,00 EUR, so dass sich eine monatliche Differenz von 190,00 EUR ergäbe.
Die Antragsgegnerin hat die Abweisung des Antrags beantragt und ausgeführt, die persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse des Antragstellers seien nicht nachvollziehbar und nicht glaubhaft gemacht. Seit fast einem Jahr werde
kein Erhalt von Leistungen Dritter mehr behauptet, dennoch bestehe kein Mietrückstand trotz eines erheblichen
Fehlbetrages in Höhe von 275,96 EUR monatlich zwischen den tatsächlichen Kosten der Wohnung und den
berücksichtigten Kosten. Der Erlös von 150,00 EUR pro Monat durch Verkaufsaktivitäten sei weder schlüssig noch
z.B. durch Vorlage von Quittungen über Standgebühren nachgewiesen. Ein Verkauf in dieser Höhe sei nach
gesellschaftlicher Lebenserfahrung nicht anzunehmen. Von Juni 2007 bis einschließlich April 2008 habe ein
Differenzbetrag für die Wohnungskosten in Höhe von 3.035,56 EUR aufgebracht werden müssen. Der Antragsteller
stehe bereits seit Februar 1991 - mit Unterbrechungen - im Sozialhilfeleistungsbezug. Sowohl nach gesellschaftlicher
Lebenserfahrung als auch nach den statistisch erfassten Nutzungszeiträumen getragener Bekleidung sei nicht zu
glauben, dass der Antragsteller noch nicht benötige Kleidung besäße und diese veräußern könne. Im Übrigen sei zu
berücksichtigen, dass der Verkauf von Bekleidung regelmäßig nur 1,00 EUR pro Stück erwarten ließe. Das
Zustandekommen der angeblichen Verkaufserlöse sei nicht nachvollziehbar.
Mit Beschluss vom 17. April 2008 hat das Sozialgericht Frankfurt am Main die Antragsgegnerin verpflichtet, vorläufig
ab dem 2. April 2008, längstens bis zum 30. September 2008, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach
dem SGB II in gesetzlichem Umfang zu gewähren. Es hat ausgeführt, dass die Erfolgsaussicht einer Klage im
Hauptsacheverfahren zumindest offen sei. Ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung würde dem Antragsteller
ein gegenwärtiger erheblicher Nachteil drohen, der nicht hinzunehmen sei. Sein Existenzminimum werde anders nicht
gedeckt. Diese erhebliche Beeinträchtigung könne auch nachträglich bei einem erfolgreichen Abschluss des
Widerspruchs- oder Klageverfahrens nicht mehr ausgeglichen werden, weil der elementare Lebensbedarf eines
Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden könne, indem er entstehe. Der zu befürchtenden
Beeinträchtigung der Menschenwürde durch die Vorenthaltung von Leistungen der Existenzsicherung stehe lediglich
die Möglichkeit ungerechtfertigter Geldzahlungen seitens der Antragsgegnerin gegenüber.
Gegen den am 24. April 2008 zugestellten Beschluss hat die Antragsgegnerin am 2. Mai 2008 Beschwerde eingelegt
und eine nicht erfolgte inhaltliche Auseinandersetzung mit den von ihr vorgebrachten Argumenten und genannten
Gründen, die sie wiederholt und vertieft, bemängelt. Die Auffassung des Sozialgerichtes, dass die Erfolgsaussicht der
Klage im Hauptsacheverfahren zumindest offen sei, sei nicht anzuerkennen. Wenn man das Verhalten des
Antragstellers und damit grundsätzlich bei angenommener Unaufklärbarkeit eines Sachverhaltes eine einstweilige
Verpflichtung gegen die Sozialleistungsträger aussprechen würde, wäre grundsätzlich in jedem Fall eine solche
Verpflichtung zu erteilen, auch wenn grundsätzlich leistungsrechtliche Fragen nicht beantwortet oder verschleiert
würden. Dieses Ergebnis wäre mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang zu bringen. Auch nach der Entscheidung
des Hessischen Landessozialgerichtes (L 7 AS 1/05 ER) sei auf die aktuelle Situation eines Hilfebedürftigen
abzustellen, die Erheblichkeit, Untersuchung und Relevanz der aktuellen Verhältnisse sei dort gerade bestätigt
worden. Es sei Aufgabe des Gerichts von Amts wegen zu ermitteln, denn eine abschließende Ermittlung durch die
Verwaltung sei durch das Verhalten des Antragstellers nicht möglich. Eine Folgenabwägung sei nur dann zulässig,
wenn eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich sei. Selbst bei niedrigeren
Kosten für die Wohnung und einem nur angenommenen Fehlbetrag von 190,10 EUR pro Monat wären die
grundsätzlichen Zweifel an der vom Antragsteller angegebenen Situation nicht zu entkräften, denn auch dann wären
erhebliche Fehlbeträge gegeben, die wesentlich mehr als die Hälfte des Regelsatzes ausmachten. Die von dem
Antragsteller behaupteten einzelnen Verkäufe seien nach gesellschaftlicher Lebenserfahrung weder anzunehmen,
noch unter Beachtung des gesamten Sachverhaltes und des bisherigen Vorbringens glaubhaft. Auch habe der
Antragsteller am 19. Oktober 2007 bei angeblich nicht vorhandenen Mitteln eine Zahlung in Höhe von 1.500,00 EUR
an die E. vorgenommen, am 30. Mai 2008 seien weitere 500,00 EUR gezahlt worden. Verkaufserlöse in dieser Höhe
sei von ihm weder behauptet noch nachgewiesen worden. Es sei unerklärlich, wie diese Zahlung von ihm
bewerkstelligt worden sei. Ebenso unklar sei, wovon der Antragsteller die Zahlung der gesamten Unterkunftskosten für
die Monate Februar und März 2008 geleistet habe.
Der Antragsteller hat auf Nachfrage des Senats angegeben, im April 2008 sechs Sammlerschallplatten zu je 25,00
EUR auf dem F. Flohmarkt verkauft zu haben. Den Käufer könne er nicht benennen. Er selbst habe dort keinen
eigenen Stand, sei mit dem späteren Käufer vor einem Flohmarktstand ins Gespräch gekommen, hieraus habe sich
der Verkauf entwickelt. Am 6. Mai 2008 habe er in der B. in A. eine Swatchuhr für 135,00 EUR an einen Gast namens
G. verkauft. Im Juni habe er auf dem Flohmarkt R. in A. eine Modelleisenbahn für 170,00 EUR an einen unbekannten
Käufer veräußert.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der
beigezogenen Akten (Gerichtsakte Sozialgericht Frankfurt am Main und Verwaltungsakten der Antragsgegnerin)
Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung gewesen sind.
II.
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 12. Februar
2008 ist gemäß § 172 Abs. 1 und § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und auch begründet.
Der Beschluss des Sozialgerichts war auf die Beschwerde der Antragsgegnerin hin aufzuheben. Das Sozialgericht hat
die Antragsgegnerin zu Unrecht durch Erlass einer einstweiligen Anordnung zu vorläufigen Leistungen nach dem SGB
II verpflichtet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht in der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug
auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands
die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte
(Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG auch zur Regelung eines
vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur
Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Vorliegend kommt, da die Voraussetzungen
des § 86b Abs. 1 SGG ersichtlich nicht gegeben sind und es auch nicht um die Sicherung eines bereits bestehenden
Rechtszustands geht, nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht. Der Erlass einer
derartigen Regelungsanordnung setzt voraus, dass nach materiellem Recht ein Anspruch auf die begehrten
Leistungen besteht (Anordnungsanspruch) und dass die Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile
notwendig ist (Anordnungsgrund). Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert
nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, als die Anforderungen an den
Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem
Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich
aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Beschluss des erkennenden Senats vom 29.
Juni 2005 – L 7 AS 1/05 ER; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 86b, Rn. 27 und 29 m. w. N.). Ist
die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung
ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden
ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den
Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn
in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des
Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen
Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten
der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind grundrechtliche Belange des Antragstellers
umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen. Insbesondere bei Ansprüchen, die darauf gerichtet sind, als Ausfluss
der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern (Art. 1 Abs. 1
Grundgesetz – GG - i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip) ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch, vor
allem wenn er eine für die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistungshöhe erreicht und für einen nicht nur
kurzfristigen Zeitraum zu gewähren ist, in der Regel vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im
Eilverfahren nicht vollständig klären lässt (BVerfG vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - info also 2005, 166 unter
Hinweis auf BVerfGE 82, 60, 80). Denn im Rahmen der gebotenen Folgeabwägung hat dann regelmäßig das Interesse
des Leistungsträgers ungerechtfertigte Leistungen zu vermeiden gegenüber der Sicherstellung des ausschließlich
gegenwärtig für den Antragsteller verwirklichbaren soziokulturellen Existenzminimums zurückzutreten (vgl. Beschluss
des erkennenden Senats vom 27. Juli 2005 – L 7 AS 18/05 ER).
Sowohl Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m.
§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen. Dabei ist, soweit im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch
auf die Erfolgsaussichten abgestellt wird, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu
prüfen (BVerfG vom 12. Mai 2005 – a. a. O.). Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen lediglich auf die
reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für
die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes (vgl. Beschluss des
erkennenden Senats vom 29. Juni 2005 – L 7 AS 1/05 ER; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a. a. O., Rn. 16 b, 16 c,
40; Berlit, info also 2005, 3, 8). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die
Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. etwa Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a. a. O., Rn. 42,
s. auch Schoch in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 123 Rn. 165 ff.). Deshalb sind auch Erkenntnisse,
die erst im Laufe des Beschwerdeverfahrens zutage getreten sind, vom Senat zu berücksichtigen (ständige
Rechtsprechung des erkennenden Senats, vgl. etwa Beschluss vom 6. Januar 2006 – L 7 AS 87/05 ER).
Vorliegend hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Bei der nach den obigen
Grundsätzen gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage kann der Senat das Bestehen eines
Anordnungsanspruchs nicht bejahen.
Gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach diesem Gesetz Personen, die das 15. Lebensjahr
vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erwerbsfähig im Sinne des § 8 SGB II und hilfebedürftig
sind sowie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Zu den zu gewährenden Leistungen gehören als
Arbeitslosengeld II insbesondere die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes einschließlich der
angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung (§ 19 Abs. 1 Nr. 1 SGB II). Nicht erwerbsfähige Angehörige, die
mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten grundsätzlich Sozialgeld, das die
sich aus § 19 Satz 1 Nr. 1 SGB II ergebenden Leistungen umfasst (§ 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB II). Hilfebedürftig
ist nach § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer
Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Mitteln oder aus den zu
berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen,
insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält.
Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass er hilfebedürftig ist. Er hat bis einschließlich Januar 2008 von der
Antragsgegnerin monatlich Leistungen nach dem SGB II in Höhe von insgesamt 732,90 EUR erhalten. Abzüglich der
tatsächlich anfallenden Wohnraumkosten (576,67 EUR) verblieben ihm damit für sämtliche mit der Lebenshaltung
zusammenhängenden Kosten noch 156,23 EUR, bezogen auf den Regelsatz ergibt sich ein Fehlbetrag von 190,77
EUR pro Monat.
Ausgehend davon, dass der Antragsteller seit Juni 2007 keine Darlehenszahlungen mehr von seinem Bekannten
erhalten haben will und für die Monate Februar und März 2008 gar keine Leistungen von der Antragsgegnerin erhalten
hat, waren von ihm zur Deckung seiner Gesamtkosten - über die SGB II Leistungen hinaus - bis einschließlich Juli
2008 insgesamt 3.653,02 EUR aufzubringen und sind auch aufgebracht worden (14 Monate à 156,23 EUR zzgl. 2
Monate à 732,90 EUR). Mietrückstände bestehen seiner Erklärung nach bis heute nicht. Darüber hinaus hat der
Antragsteller Einmalzahlungen an die E. i.H.v. 1.500,00 EUR am 19. Oktober 2007 und 500,00 EUR am 30. Mai 2008
geleistet.
Einer plausiblen Erklärung, wie er die Geldmittel erlangt hat, wie auch zu den bei ihm (noch) vorhandenen
Vermögensgegenständen ist der Antragsteller der Antragsgegnerin wie auch dem Senat gegenüber schuldig
geblieben. Seine durch keinerlei Nachweise belegte Behauptung, durch Flohmarktgeschäfte und eine extrem
eingeschränkte Lebensführung "über die Runden zu kommen" ist weder nachvollziehbar noch glaubhaft.
Der Antragsteller will im Durchschnitt monatlich 150,00 EUR durch den Verkauf von ihm nicht mehr benötigter
Vermögensgegenstände und gebrauchter Kleidung erzielen, weitere 30,00 EUR bis 40,00 EUR vom Regelsatz
einsparen. Eine konkrete, nach Monaten differenzierte Auflistung, welche Gegenstände im Einzelnen zu welchem
Preis und auch an wen veräußert wurden, hat der Antragsteller auf Nachfrage der Antragsgegnerin vom 26. Februar
2008 nicht geliefert, lediglich von einer Lederjacke (80,00 EUR), Schallplatten (Verkaufserlös pro Stück zum Teil 1,00
EUR) und einer Nachttischlampe (15,00 EUR) berichtet. In dem erstinstanzlichen Verfahren hat er den Verkauf einer
Gitarre (100,00 EUR) bezeichnet. Auf Nachfrage des Senats hat der Antragsteller für den Monat April 2008 den
Verkauf von sechs Schallplatten mit einem Erlös von insgesamt 150,00 EUR, für Mai 2008 den Verkauf einer
Swatchuhr (135,00 EUR) und für Juni 2008 den einer Modelleisenbahn (170,00 EUR) behauptet.
Mit der Antragsgegnerin stimmt der Senat darin überein, dass das Vorbringen des Antragstellers zu seinen
Verkaufsaktivitäten und Flohmarktgeschäften - insbesondere in Ansehung seiner langen Sozialhilfevita - nicht
glaubhaft und auch realitätsfremd ist.
Es ist schlicht nicht nachvollziehbar, dass der sich ergebende monatliche Differenzbetrag über inzwischen 14 Monate
hinweg im Wesentlichen - nur - durch Verkäufe auf dem Flohmarkt mit einem Erlös von durchschnittlich 150,00 EUR
pro Monat gedeckt werden konnte.
Der Senat verkennt nicht, dass Sammlerstücke wie zum Beispiel antike Möbel, Uhren und auch besondere
Schallplatten im Einzelfall hochpreislich auf Flohmärkten oder auch in Internetauktionshäusern veräußert werden
können. Im Falle des Antragstellers erscheint indes bereits der Besitz solcher, auch der Anzahl nach, zweifelhaft. Der
Antragsteller bezieht - mit Unterbrechungen - seit Februar 1991 Hilfeleistungen nach dem BSHG und dem SGB II.
Dass Vermögensgegenstände während des Leistungsbezuges angeschafft worden sind, ist kaum vorstellbar. Selbst
wenn man davon ausgeht, dass solche noch aus davorliegenden Zeiten vorhanden waren und ggf. auch noch
vorhanden sind, erscheint ein Verkaufserlös in der hier behaupteten Größenordnung wenig wahrscheinlich. Die
Angaben des Antragstellers in diesem Punkt erweisen sich ohnehin als widersprüchlich. Während er im
Verwaltungsverfahren mehr von dem Verkauf im Grunde wertloser (Ramsch-) Gegenstände wie gemeiner
Schallplatten und gebrauchter Bekleidungsstücke berichtete, gibt er nunmehr an, nur einzelne Sammlerstücke zu
entsprechenden Preisen verkauft zu haben.
Es mag dahingestellt bleiben, ob für die von dem Antragsteller für die Monate April, Mai und Juni 2008 bezeichneten
Gegenstände Verkaufserlöse in der behaupteten Größenordnung überhaupt erzielt werden können. Zweifelhaft ist in
jedem Fall der mehr zufällige Verkauf in dieser (passenden) Höhe an den von dem Antragsteller angegebenen Orten.
Abgesehen von einer Gitarre, einer Lederjacke und einer Nachttischlampe hat der Antragsteller im Übrigen keinen
Verkauf von "wertvolleren" Gegenständen behauptet. Was den Verkauf von Inventarteilen, Büchern, Platten, älteren
Möbel und nicht mehr benötigten Bekleidungsteilen anbelangt, erfordert ein Verkaufserlös von 150,00 EUR im Monat
zum einen eine ungeheure Menge von verkaufsfähigen Objekten, zum anderen mit Blick auf den hier eher erzielbar
geringen Verkaufserlös eine häufige Präsenz auf privaten Flohmärkten. Beides ist im Grunde in Zweifel zu ziehen. Der
Antragsteller ist schwerbehindert mit einem GdB von 90.
Ihm wurden vom Versorgungsamt zudem die Nachteilsausgleiche "G" (erhebliche Gehbehinderung) und "RF"
(Rundfunkgebührenbefreiung und Telefongebührenermäßigung) zuerkannt. Mit Blick auf die bei ihm anzutreffenden
schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Schwerhörigkeit, Wirbelsäulensyndrom, Beinfunktionsbeschwerden)
ist es schwerlich vorstellbar, dass er regelmäßig die mit langen Sitz- u./o. Stehzeiten einhergehenden
Flohmarktgeschäfte als Verkäufer tätigt. Der Besitz von gebrauchten, noch verkaufsfähigen Bekleidungsstücken in
nennenswertem Umfang ist mit Blick auf die dem Antragsteller langjährig gewährten Hilfeleistungen nicht
nachvollziehbar. Dass für eine 25 Jahre alte Lederjacke 80,00 EUR erlöst worden sein sollen, ist gänzlich unglaubhaft.
Geht man davon aus, dass für Schallplatten und Bücher entsprechend den Auktionserlösen in dem Internetportal ebay
in der Regel nur 1,00 - 2,00 EUR pro Stück erzielt werden, müsste der Antragsteller einen ganz erheblichen Fundus
für den Verkauf gehabt haben. Welche Vermögensgegenstände der Antragsteller aktuell noch hat, ist nicht bekannt.
Insoweit ist gänzlich unklar, wie der Fehlbetrag zukünftig ausgeglichen werden soll.
Der Senat verkennt nicht, dass exakte Feststellungen zu den Verkaufsaktivitäten in der Vergangenheit und der
diesbezüglichen Möglichkeit des Antragstellers für die Zukunft, zum Beispiel durch eine Wohnungsbegehung und
Zeugeneinvernahmen, bislang nicht durchgeführt werden konnten. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichtes hat
die sich daraus ergebende Ungewissheit jedoch nicht zur Folge, dass dem Antragsteller vorläufig zunächst Leistungen
nach dem SGB II weiter zu bewilligen wären. Zum einen liefe dies auf eine faktische Umkehr der Beweislast zum
Nachteil der Antragsgegnerin und damit der steuerzahlenden Allgemeinheit hinaus. Zum anderen wäre, worauf die
Antragsgegnerin zu Recht hinweist, dem Leistungsmissbrauch bei einer solchen Rechtsprechung Tür und Tor eröffnet,
da auch dem seine Einkommens- und Vermögenssituation bewusst verschleiernden Antragsteller im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren Leistungen mit einer für den Leistungsträger fraglichen realen Rückforderungsmöglichkeit für
den Fall des negativen Ausgangs des Hauptsacheverfahrens zuzubilligen wären. Dies wäre in der Tat mit den
Rechtstaatsprinzipien nicht vereinbar.
Der Senat weist insoweit ausdrücklich darauf hin, dass er sich mit den hier aufgestellten Anforderungen an den
Nachweis der Hilfebedürftigkeit nicht über die Entscheidung des BVerfG vom 12. Mai 2005 (a.a.O.) hinwegsetzt.
Leistungsträger dürfen danach existenzsichernde Leistungen nicht aufgrund von bloßen Mutmaßungen verweigern, die
sich auf vergangene Umstände stützen, wenn diese über die gegenwärtige Lage eines Anspruchstellers keine
eindeutigen Erkenntnisse ermöglichen.
Das schlichte Bestreiten des Sozialleistungsträgers, es seien weiteres Vermögen oder weitere Einnahmen vorhanden,
ist daher für die Leistungsverweigerung nicht ausreichend (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 7. Dezember
2005 - L 7 AS 81/05 ER).
Im Falle des Antragstellers begründen jedoch die ihm in der Vergangenheit zugeflossene und bis einschließlich Mai
2007 gegenüber der Antragsgegnerin angebende Einnahme in Höhe von 250,00 EUR bzw. 200,00 EUR monatlich
durch darlehensweise Zuwendung eines Bekannten sowie sein Verhalten im Verwaltungs- und auch
Sozialgerichtsverfahren berechtigte Zweifel an der geltend gemachten Hilfebedürftigkeit.
Bei berechtigten Zweifel ist die Behörde umso mehr zu umfassender Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen nach §
20 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) verpflichtet, der Antragsteller hat an dieser gemäß §§ 21 Abs. 2 SGB X,
60 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) mitzuwirken. Gerade und insbesondere Leistungsbezieher nach dem SGB
II und dem SGB XII (Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe) sind gehalten, die für den geltend gemachten
Anspruch erforderlichen Tatsachen umfassend, vollständig und behördlich nachprüfbar vorzutragen (HessLSG vom
22. Februar 2006 - L 9 SO 40/05 ER m.w.N. auch zur Rechtsprechung zum BSHG).
Gerade indem der Sozialleistungsträger dem Antragsteller die Sachverhalte oder Fragen, an denen er seine Zweifel
anknüpft, darlegt und ihn zur Vorlage konkret bezeichneter Beweismittel auffordert, ermöglicht er eine Widerlegung
behördlicher Mutmaßungen (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 7. Dezember 2005 a.a.O.). Bei
Antragstellern, deren persönliche Glaubwürdigkeit wie vorliegend aufgrund besonderer Umstände erschüttert ist,
besteht dabei eine gesteigerte Nachweisobliegenheit in dem Sinne, dass widerspruchsfreie und lückenlose Nachweise
in Form beweiskräftiger Urkunden und oder auch Zeugenaussagen zu erbringen sind (LSG Nordrhein-Westfalen vom
14. Juni 2005 - L 1 B 2/05 AS ER). Hieran fehlt es vorliegend.
Solange diesen Erfordernissen durch den Antragsteller nicht Genüge getan wird, kommt eine selbst nur vorläufige
Leistungsgewährung nach dem SGB II nicht in Betracht. Die vorzunehmende umfassende Abwägung der Interessen
des Antragstellers an einer vorläufigen Leistungserbringung und dem öffentlichen Interesse an einer sparsamen und
sachgerechten Verwendung staatlicher Mittel muss insoweit zu Lasten des Antragstellers ausfallen.
Aus der Tatsache heraus, dass es dem Antragsteller möglich war, bisher vierzehn Monate "über die Runden zu
kommen", ohne bedarfsdeckende staatliche Leistungen zu erhalten - und ohne dass dies der Antragsgegnerin
angelastet werden könnte -, ergeben sich zusammenfassend nach alledem nicht nur Zweifel an seiner
Hilfebedürftigkeit. Es wird darüber hinaus vielmehr zudem auch deutlich, dass es dem Antragsteller aufgrund der
gegebenen Tatsachenlage zumutbar ist, eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren abzuwarten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).