Urteil des LSG Hessen vom 13.05.1996
LSG Hes: hochgradige schwerhörigkeit, auflage, widerspruchsverfahren, beendigung, behinderung, rka, unverzüglich, gutachter, klagebegehren, gonarthrose
Hessisches Landessozialgericht
Beschluss vom 13.05.1996 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 11/12 Vb 3051/91
Hessisches Landessozialgericht L 5 B 64/94
Die Beschwerde des Beklagten gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 20. Juli 1994 (Az.:
S-11/12/Vb-3051/91) wird zurückgewiesen.
Tatbestand:
I.
Die Klägerin und Antragstellerin ist Schwerbehinderte im Sinne des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG). Durch
rechtsverbindlichen Bescheid vom 18. Juni 1984 wurden bei ihr folgende Behinderungen festgestellt:
1) Schwere Arthrose beider Daumen mit Subluxation Senk-Spreizfüße beiderseits
2) Hochgradige Schwerhörigkeit
3) Koronare Herzkrankheit, Herzinfarkt 4/83, Bluthochdruck
4) Sehminderung
5) Degenerative Wirbelsäulenveränderungen mit Verbiegung
und der Grad der Behinderung (GdB) mit 70 bewertet.
Ein Erhöhungsantrag der Klägerin vom 5. November 1990 führte zu dem Bescheid des Beklagten vom 8. Januar
1991, mit dem die Behinderung zu 5. wie folgt neu bezeichnet wurde:
"5. Degenerative Wirbelsäulenveränderungen mit Verbiegung, Gonarthrose beiderseits”.
Der hiergegen eingelegte Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 12. November 1991). Zur
Begründung führte der Beklagte und Antragsgegner u.a. aus, aufgrund der im Widerspruchsverfahren beigezogenen
medizinischen Unterlagen könne nach versorgungsärztlicher Auswertung eine andere Entscheidung nicht getroffen
werden.
Am 4. Dezember 1991 hat die Klägerin beim Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben. Zur Begründung hat sie
u.a. ein auf eigene Rechnung erstelltes Privatgutachten des Orthopäden Dr. B. vorgelegt und vorgetragen, es sei eine
Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes eingetreten. Das Ausmaß ihrer Behinderungen habe sich verstärkt.
Nach Beiziehung von Befundberichten der Dres. Z. und B. hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch Einholung
eines Sachverständigengutachtens bei dem Arzt für Orthopädie Dr. Dieser gelangte in seinem Gutachten vom 28.
April 1993 zusammenfassend zu der Beurteilung, seit Erteilung des Bescheides vom 18. Juni 1984 habe die schwere
Arthrose der Daumensattelgelenke zugenommen und zu einer Versteifung geführt. Außerdem finde sich jetzt eine
Polyarthrose der Fingergelenke. Diese Behinderungen bewertete der Gutachter mit einem Einzel-GdB von 20. Darüber
hinaus stellte er fest, daß die degenerativen Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule wesentlich stärker geworden
seien (Einzel-GdB 20). Hinzu komme als neue Funktionsbeeinträchtigung eine Arthrose beider Kniegelenke mit
Beugebehinderung und einem Einzel-GdB von 10. Unter Berücksichtigung der von anderen Fachgebieten
festgestellten Behinderungen der Klägerin bewertete der Gutachter den Gesamt-GdB mit 80. Daraufhin erteilte der
Beklagte den Neufeststellungsbescheid vom 3. August 1993, mit dem er die Behinderungen der Klägerin
entsprechend dem Gutachten von Dr. A. neu bezeichnete und den GdB mit insgesamt 80 feststellte.
Mit Schriftsatz vom 7. September 1993 erklärte die Klägerin den Rechtsstreit hierauf in der Hauptsache für erledigt
und beantragte (sinngemäß), dem Beklagten die Erstattung der ihr zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung
entstandenen notwendigen Aufwendungen aufzuerlegen.
Dem widersprach der Beklagte mit der Begründung, außergerichtliche Kosten seien nicht zu erstatten, da das
Ausmaß der Funktionseinbußen erstmals ab dem 28. April 1993 nachgewiesen worden sei.
Mit Beschluss vom 20. Juli 1994 entschied das Sozialgericht, das beklagte Land habe der Klägerin die
außergerichtlichen Kosten zu erstatten und führte zur Begründung im wesentlichen aus, die ärztlichen Feststellungen,
aufgrund derer der Sachverständige Dr. A. in seinem Gutachten vom 10. Mai 1993 von einer Verschlimmerung der
festgestellten Behinderungen bei einem Gesamt-GdB von 80 ausgegangen sei, seien schon den Arztbriefen zu
entnehmen gewesen, die bereits im Widerspruchsverfahren vorgelegt worden waren. So gehe die vom
Sachverständigen festgestellte schwerste Rhizarthrose mit Versteifung der Daumensattelgelenke bereits deutlich
auch im Sinne einer beiderseitigen Fehlstellung aus dem Arztbrief von Dr. W. vom 19. Januar 1988 hervor. Hinzu
komme, daß Dr. P. in seinem Arztbrief vom 31. Juli 1989 auf die links bestehende Einsteifung des
Daumensattelgelenkes in Adduktionsstellung hingewiesen habe. Auch sei eine bei der Klägerin bestehende
Polyarthrose in den genannten Arztbriefen bereits als chronisch bezeichnet worden. Die von Dr. A. festgestellten
hochgradigen degenerativen Wirbelsäulenveränderungen habe als Gesundheitsstörung bereits im Arztbrief von Dr. A.
vom 20. November 1990 ihren Niederschlag in der Diagnose eines chronischen, therapieresistenten HWS-BWS-LWS-
Syndroms mit schweren degenerativen Wirbelsäulenveränderungen gefunden; dies gelte entsprechend auch für das
Bestehen der Gonarthrose.
Gegen diesen ihm am 3. August 1994 zugestellten Beschluss hat der Beklagte und Beschwerdeführer am 5.
September 1994 Beschwerde eingelegt. Er ist der Ansicht, die Klägerin und Beschwerdegegnerin müsse ihre Kosten
selbst tragen, weil maßgebend für die Feststellungen im Schwerbehindertenrecht das nachgewiesene Ausmaß der
Funktionseinbußen sei, deren Ausmaß erstmals Dr. A. am 28. April 1993 festgestellt habe. Soweit zuvor lediglich
Diagnosen mitgeteilt worden seien, könnten dadurch gerade nicht Verschlimmerungen einschließlich der sie
begleitenden Funktionseinbußen belegt werden.
Der Beschwerdeführer beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 20. Juli 1994 aufzuheben
und zu entscheiden, daß der Beklagte keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten hat.
Die Beschwerdegegnerin hat sich nicht geäußert. Es wird davon ausgegangen, daß sie (sinngemäß) beantragen will,
die Beschwerde zurückzuweisen, und die angefochtene Entscheidung für zutreffend hält.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist an sich statthaft und zulässig (§§ 172 Abs. 1, 173 des
Sozialgerichtsgesetzes – SGG –); sie ist aber sachlich nicht begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt
am Main vom 20. Juli 1994 ist nicht zu beanstanden.
Nach § 193 Abs. 1 SGG hat das Gericht auf Antrag eines Beteiligten durch Beschluss darüber zu entscheiden, ob
und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben, wenn das gerichtliche Verfahren anders
als durch Urteil beendet wird. Darüber, nach welchen Maßstäben das Gericht die Kostenverteilung im Einzelfall
vorzunehmen hat, sagt das Gesetz nichts. Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. BSG, Beschlüsse vom 18. Januar
1957 – 6 RKa 7/56 und vom 25. Mai 1957 – 6 RKa 16/54, beide in SozR § 193 Nrn. 3 und 4 sowie Urteil vom 20. Juni
1992 – 1 RA 66/59 = BSGE 17, 124 ff., 128; Hessisches Landessozialgericht – HLSG –, Beschlüsse vom 10. Februar
1992 – L-5/B-117/91 –, vom 28. April 1993 – L-5/Vb-1189/90 – und vom 30. März 1994 – L-13/B-17/93 – in: Breithaupt
1995, 16 ff. sowie Beschluss vom 30. Januar 1996 – L-4/B-24/95 – m.w.N.), der die Kommentarliteratur überwiegend
folgt, sind die außergerichtlichen Kosten nach sachgemäßem Ermessen des Gerichts zu verteilen (Meyer-Ladewig,
SGG, 5. Auflage § 193 Rdz. 12 und 13). Das Beschwerdegericht ist dabei nicht lediglich auf die Prüfung beschränkt,
ob das erstinstanzliche Gericht Ermessen "mißbräuchlich” oder in anderer Weise fehlerhaft ausgeübt hat, sondern hat
nach den von ihm für maßgeblich gehaltenen Maßstäben den angefochtenen Beschluss in vollem Umfang zu
überprüfen (vgl. hierzu: HLSG, Beschluss vom 30. Januar 1996 – L-4/B-24/95 – m.w.N.)
Nach einhelliger Auffassung kann die in § 202 SGG ausgesprochene Verweisung auf die Vorschriften der
Zivilprozeßordnung (ZPO) wegen der vielfältigen Unterschiede zwischen den Verfahrensarten auch grundsätzlich nicht
bezüglich der Kostenregelung gelten (Bley, in: RVO-Gesamtkommentar, Stand: März 1995, § 193 SGG, Anm. 2 c,
Meyer-Ladewig, a.a.O., § 193 SGG Rdz. 1, 13; BSG, Beschluss vom 18. Januar 1957, SozR SGG § 193 Nr. 3).
Allgemein aber wird anerkannt, daß bei der Entscheidung über die Kostenerstattung nach § 193 SGG entsprechend
dem Rechtsgedanken des § 91 a ZPO der Sach- und Streitstand zum Zeitpunkt der Erledigung des Rechtsstreites zu
berücksichtigen ist, weshalb es in der Regel billig ist, demjenigen die Kosten aufzuerlegen, der im Rechtsstreit
unterlegen wäre (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 5. Auflage, § 193 Rdz. 12 und 13). Die Einschätzung der Erfolgsaussicht
der Klage ändert sich dabei auch nicht dadurch, daß im Laufe eines Verfahrens ein Bescheid erteilt wird, der nach §
96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens wird und der dem ursprünglichen Klagebegehren ganz oder teilweise – oder
aber zu einem späteren Zeitpunkt – Rechnung trägt.
Neben der Berücksichtigung der Erfolgsaussicht soll zum anderen aber auch darauf abgestellt werden, wer Anlaß zum
Rechtsstreit gegeben hat (zu diesem Gesichtspunkt vgl. § 93 ZPO und die Kommentierungen hierzu: Thomas/Putzo,
18. Auflage 1993, § 93 ZPO Rdz. 4 ff.; Zöller, 18. Auflage 1993, § 93 ZPO Rdz. 3; Baumbach/Lauterbach-Hartmann,
53. Auflage 1995, § 93 ZPO Rdz. 1; für die differenzierte Berücksichtigung im sozialgerichtlichen Verfahren vgl.
Meyer-Ladewig, a.a.O., § 193 SGG Rdz. 12, 13; Bley, in: RVO-Gesamtkommentar a.a.O., § 193 SGG Anm. 3 d;
Peters/Sautter/Wolff, SGG 4. Aufl., Stand: März 1993, § 193 Anm. 1 a m.w.N.; Beschlüsse des HLSG vom 30. März
1994, Breithaupt 1995, 166 ff., 168 und vom 30. Januar 1996 – L-4/B-24/95 –). Danach kann es für die zu fällende
Kostenentscheidung von entscheidender Bedeutung sein, wen die Verantwortung dafür trifft, daß ein von vornherein
vermeidbarer und daher überflüssiger Prozeß überhaupt geführt werden mußte.
Nach bisheriger Rechtsprechung des Senates hatte der Verwaltungsträger immer dann keine Kosten zu tragen, wenn
die materiell-rechtlichen Voraussetzungen während des Rechtsstreites durch eine Änderung der Verhältnisse erfüllt
wurden und der Verwaltungsträger unverzüglich (ohne schuldhaftes Zögern) ein Anerkenntnis abgegeben, einen
sachgerechten Vergleich angeboten oder einen Neufeststellungsbescheid erlassen hatte. Das gleiche sollte gelten,
wenn der Verwaltungsträger aufgrund eines Verschlimmerungsantrages der geänderten Sachlage durch einen
Neufeststellungsbescheid Rechnung getragen hatte. In diesen Fällen ging der Senat bislang davon aus, daß der
Rechtsstreit nicht erforderlich gewesen sei (Beschlüsse des 5. Senates des HLSG vom 10. Februar 1992 – L-5/B-
117/91, vom 3. August 1992 – L-5/B-50/92 – und vom 28. April 1993 – L-5/Vb-1189/90 –).
Die Rechtsprechung, wonach es in diesen Fällen generell billigem Ermessen entsprechen sollte, daß keine
außergerichtlichen Kosten erstattet werden, gibt der Senat hiermit ausdrücklich auf. Der Senat geht vielmehr unter
Berücksichtigung der beiden für die Ermessensausübung maßgeblichen Gesichtspunkte: der Erfolgsaussicht der
Klage (zum Zeitpunkt der Beendigung des Rechtsstreits) und der Veranlassung zur Klageerhebung (d.h. der Antwort
auf die Frage, ob zum Erreichen dieses Verfahrensergebnisses der Rechtsstreit erforderlich war und wer folglich
Anlaß zur Klageerhebung gegeben hat) nunmehr davon aus, daß bei der kombinierten Anfechtungs- und
Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG), bei der ein Rechtsstreit mit einem Ergebnis endet, das dem Antrags- und
Klagebegehren der Kläger weitgehend Rechnung trägt, die Erstattung der außergerichtlichen Kosten zugunsten der
Kläger – ganz oder teilweise – die Regel zu sein hat.
Der Senat legt – auch weiterhin unter ergänzender Berücksichtigung von Umständen des Einzelfalles – seiner
Rechtsprechung dabei die folgenden Leitlinien zugrunde:
1.) Werden die materiell-rechtlichen Voraussetzungen eines geltend gemachten Anspruchs während des
sozialgerichtlichen Verfahrens durch eine Änderung der Verhältnisse erfüllt, so ist dem Verwaltungsträger nur dann
keine Verpflichtung zur Übernahme der notwendigen außergerichtlichen Kosten d. Kl. aufzuerlegen, wenn der
Verwaltungsträger unverzüglich ein Teil-Anerkenntnis abgibt oder einen sachgerechten Vergleichsvorschlag ab
Änderung der Verhältnisse unterbreitet und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß die Änderung der tatsächlichen
Verhältnisse schon früher eingetreten sein könnte sowie auch keine Hinweise dafür gegeben sind, daß durch eine
sorgfältige, eigenständige und umfassende Sachaufklärung im Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren ein
Rechtsstreit hätte vermieden werden können.
2.) Ergeben sich nach Lage der Akten Hinweise dafür, daß die Änderung der Verhältnisse bereits vor dem Zeitpunkt
eingetreten ist, ab dem der Verwaltungsträger den Anspruch anerkannt hat, und stellt sich deshalb die Erledigung des
Rechtsstreits durch Teil-Anerkenntnis des Beklagten oder Erteilung eines neuen Bescheides und Klägerücknahme im
übrigen im Ergebnis wie eine vergleichsweise Beendigung dar, so entspricht es billigem Ermessen, wenn der
Verwaltungsträger d. Kl. dessen außergerichtliche Kosten des Widerspruchs- und Gerichtsverfahrens jedenfalls zum
Teil erstattet.
3.) Bei der Festlegung der Kostenerstattungsquote ist sowohl angemessen zu berücksichtigen, wer Anlaß für die
Durchführung eines Klageverfahrens gegeben hat – insbesondere, ob Hinweise auf weitergehende Pflichten zur
Beratung und Sachaufklärung vorgelegen haben – als auch der Umfang, in dem das Klageverfahren für d. Kl. sich im
Ergebnis als erfolgreich erwiesen hat.
4.) In begründeten Einzelfällen kann auch eine Übernahme der vollen außergerichtlichen Kosten d. Kl. durch den
Verwaltungsträger angemessen sein.
Für die am häufigsten umstrittenen Fälle, daß eine geänderte Sachlage sich erst im Laufe des Klageverfahrens ergibt
oder aufgeklärt werden kann, begründet der Senat die nunmehr formulierten Leitlinien für seine Rechtsprechung mit
folgenden Überlegungen:
Die Antragstellung löst eine gesteigerte Auskunfts-, Beratungs- und Sachaufklärungspflicht der Verwaltungsträger aus
(vgl. §§ 13 ff. des Sozialgesetzbuches 1. Buch – SGB I – und § 20 des Sozialgesetzbuches 10. Buch – SGB X –
sowie die heute aus diesen Vorschriften abgeleitete Rechtsprechung zum sog. Herstellungsanspruch). Ein
Verwaltungsträger kann sich deshalb beispielsweise nicht mehr generell darauf berufen, er habe bei den von
Antragstellern benannten Ärzten Befundberichte angefordert, aus denen sich keine Funktionseinbußen (bzw. keine
Verschlechterung) in bezug auf bereits bekannte Behinderungen/Gesundheitsstörungen (oder z.B. keine Hinweise auf
ein weiter eingeschränktes Leistungsvermögen) ergeben hätten. Genügt die von der Verwaltung selbst eingeleitete
Sachaufklärung noch nicht einmal ihren eigenen Ansprüchen, so wäre sie nach § 20 SGB X, insbesondere auch unter
Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und bei entsprechender Mitwirkung der Antragsteller, durchaus
verpflichtet, im wohlverstandenen Interesse der Antragsteller weitere Sachaufklärung zu betreiben und z.B. ein
medizinisches Sachverständigengutachten oder die Untersuchung und Begutachtung in der eigenen
Untersuchungsstelle bzw. bei dem eigenen ärztlichen Dienst zu veranlassen. Tut sie dies nicht – gegebenenfalls unter
Berücksichtigung von Kostenersparnisgründen – so ist es jedenfalls billig und entspricht den Anforderungen an ein
rechtsstaatliches Verfahren, das Kostenrisiko eines Gerichtsverfahrens überwiegend auf den Verwaltungsträger zu
überwälzen, wenn sich nach Lage der Akten Hinweise dafür ergeben, eine Gesundheitsstörung/Behinderung oder
deren Verschlimmerung habe bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides vorgelegen und hätte
auch für diesen Zeitpunkt bereits objektiviert werden können (a.A. Roos, SGb 1995, 333 ff., 334). Auch wenn erst ein
vom Gericht eingeholtes Sachverständigengutachten ergibt, daß nach Klageerhebung weitere Behinderungen
aufgetreten oder eine Verschlimmerung bereits bekannter Leiden objektiviert werden konnte, hält der Senat die
Erstattung außergerichtlicher Kosten für gerechtfertigt, wenn die Verwaltungsträger üblicherweise keine Gutachten
erstellen lassen und deshalb auch nicht sicher ist, daß ein Neufeststellungsantrag und die daraufhin erfolgte
routinemäßige Sachaufklärung durch Anforderung von Befundberichten schon zur Feststellung und Anerkennung
neuer Behinderungen oder ihrer Verschlimmerung (bzw. eines weiter eingeschränkten Leistungsvermögens) geführt
hätte. Führt erst der Prozeß und die Inanspruchnahme des Gerichts dann zum materiell-rechtlich richtigen Ergebnis,
so entspricht es der Billigkeit, dem Verwaltungsträger jedenfalls anteilig die Erstattung der notwendigen
außergerichtlichen Kosten des Klägers aufzuerlegen.
Unter Berücksichtigung dieser nunmehr vom Senat entwickelten Leitlinien erweist sich der Beschluss des
Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 20. Juli 1994 als rechtlich zutreffend. Die wesentlichen Veränderungen, die
Grundlage des Neufeststellungsbescheides vom 3. August 1993 wurden, sind zwar erst im Klageverfahren durch das
Gutachten von Dr. A. objektiviert und im Hinblick auf die daraus resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen
zutreffend bewertet worden. Entscheidend sind dabei zur Überzeugung des Senats auch nicht die subjektiven
Einschätzungen der Beschwerdegegnerin, sondern allein die objektiv vorliegenden Befunde. Diese Befunde führten zu
der Beurteilung des Sachverständigen Dr. A. (10. Mai 1993), die sich ihm wie folgt darstellten:
"Seit Erteilung des Bescheides vom 28. Juni 1984 hat die schwere Arthrose der Daumensattelgelenke zugenommen
und zu einer Versteifung geführt. Außerdem findet sich jetzt eine Polyarthrose der Fingergelenke.”
Diese Gesundheitsstörungen bewertete Dr. A. mit einem Einzel-GdB von 20.
"Auch die degenerativen Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule seien wesentlich stärker geworden und werden
ebenfalls mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet.
Ferner ist als neue Funktionsbeeinträchtigung eine Arthrose beider Kniegelenke mit Beugebehinderung
hinzugekommen, die einen Einzel-GdB von 10 bedingen.
Unter Berücksichtigung der Behinderungen der Klägerin auf anderen Fachgebieten ergibt sich ein Gesamt-GdB von
80.”
Wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, sind diese Behinderungen der Klägerin bereits im
Neufeststellungsantrag angegeben worden. Es finden sich auch in den ärztlichen Unterlagen, die zum Zeitpunkt des
Widerspruchsverfahrens vorgelegen haben, genügend Anhaltspunkte, die auf die Verschlechterung der bei der
Klägerin festgestellten Behinderungen hindeuten. Insoweit hätte es dem Beklagten oblegen, bereits im
Widerspruchsverfahren – eventuell durch ein orthopädisches Gutachten oder eine Untersuchung in der
versorgungsärztlichen Untersuchungsstelle – das Ausmaß der durch die auf orthopädischem Fachgebiet
festgestellten Leiden bedingten Funktionsbeeinträchtigungen weiter aufzuklären. Demgegenüber ist es nicht
ausreichend, daß der Beschwerdeführer dem Gutachten von Dr. A. und der dort objektivierten und vom
Sachverständigen neubewerteten Verschlimmerung der Behinderungen durch Neufeststellungsbescheid vom 3.
August 1993 Rechnung getragen hat. Es kommt nicht darauf an, daß dies ohne schuldhafte Verzögerung nach der
vom Gericht durchgeführten Sachaufklärung erfolgte. Insoweit geht der häufig geäußerte Hinweis (vgl. z.B. Roos, SGb
1995, 333 ff.) auf § 93 ZPO ins Leere. Die Erteilung eines Neufeststellungsbescheides im Laufe des Klageverfahrens
ist nicht vergleichbar mit dem sofortigen Anerkenntnis im Zivilprozeß. Ein solches wird nach der für die ZPO
maßgeblichen Kommentarliteratur nur dann gesehen, wenn der Beklagte unmittelbar nach Klageerhebung und vor
Beginn der Sachaufklärung durch das Gericht – eventuell in einem frühen Termin zur mündlichen Verhandlung – den
Klageanspruch in vollem Umfang anerkennt (Thomas/Putzo a.a.O., § 93 ZPO Rdz. 9; Zöller, a.a.O., § 93 ZPO Rdz.
4; vgl. auch Bayer. LSG, Beschluss vom 9. August 1985 – L 13/B-0026/85 – An – in: Breithaupt 1986, 365 ff., 368).
Charakteristisch für die Klagebeendigung im sozialgerichtlichen Verfahren – und so auch hier bei der Klägerin – ist es
vielmehr, daß zunächst eine detaillierte Sachaufklärung durch das Gericht stattfindet, bevor es zu einer
vergleichsweisen (oder aufgrund von Anerkenntnis bzw. Teilanerkenntnis) Beendigung des Rechtsstreits kommt.
Im vorliegenden Fall kommt hinzu, daß der Beschwerdeführer nicht – wozu es, wie das Sozialgericht zutreffend
ausgeführt hat, genügend Hinweise gegeben hat – aufgrund der bereits vorher vorliegenden Arztbriefe der Dres. Z.,
W., P. und A. Anhaltspunkte aufgegriffen hat, um den Behinderungszustand von Amts wegen weiter zu erforschen.
Gerade weil die in den entsprechenden Diagnosen aufgezeigten Gesundheitsstörungen für sich alleine noch keinerlei
Aussagekraft für das Ausmaß der durch sie ausgelösten Funktionsbeeinträchtigungen haben, besteht im Hinblick auf
§ 20 SGB X die Verpflichtung des Beklagten, den Sachverhalt von Amts wegen weiter aufzuklären. Wird hingegen zur
ausschlaggebenden Grundlage für die Bewertung von Funktionseinbußen im orthopädischen Bereich bei der Klägerin
erst die Untersuchung von Dr. A. anläßlich der Begutachtung nach der Neutral-0-Methode, wie sie am 28. April 1993
erfolgte, und kann dabei für frühere Zeiten ein höheres Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung noch nicht hinreichend
deutlich festgestellt werden, so kann der Streit über den Zeitpunkt der Objektivierung der Funktionsbeeinträchtigungen
nicht zu Lasten der Klägerin gehen.
Anlaß für den Rechtsstreit hat dann der Beklagte insoweit gegeben, als er den sich aufdrängenden Hinweisen zur
weiteren Sachaufklärung nicht selbst nachgegangen ist. Daneben erscheint auch im Hinblick auf die Erfolgsaussicht
der Klage eine Übernahme der außergerichtlichen Kosten der Klägerin durch den Beklagten angemessen.
Nach alledem ist der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 20. Juni 1994 rechtlich nicht zu
beanstanden, weshalb die Beschwerde zurückzuweisen war.
Dieser Beschluss kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden – § 177 SGG –.