Urteil des LSG Hessen vom 15.03.2017

LSG Hes: versorgung, krebs, wissenschaft, russland, kov, eventualbegehren, form, tod, offenkundig, rechtmässigkeit

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 21.07.1970 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel
Hessisches Landessozialgericht L 8 V 894/68
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 30. Juli 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Der 1898 geborene Ehemann der Klägerin wurde am 26. August 1939 zum Kriegsdienst eingezogen und überwiegend
in der Etappe (Nachschub, Besatzung) eingesetzt. Im August 1941 erkrankte er an Ruhr und am 2. Dezember 1941
an einem Magenleiden. Am 18. Mai 1942 verstarb er schließlich an einem Magenkrebs. Die Sektion ergab ausserdem
bestehende Lebermetastasen. Eine Wehrdienstbeschädigung nahmen die Ärzte des Reservelazarettes K. nicht an.
Das Wehrmacht-Fürsorge- und Versorgungsamt K. lehnte deshalb auch einen Hinterbliebenen-Rentenantrag der
Klägerin mit Bescheid vom 7. Juli 1943 ab. Dieser Bescheid wurde bindend.
Ebenso lehnte der Beklagte den von der Klägerin nach dem Inkrafttreten des Bundesversorgungsgesetzes (BVG)
erneut gestellten Witwenrentenantrag durch Bescheid vom 5. Januar 1953 mit der Begründung ab, das Krebsleiden sei
nicht durch Kriegseinfluss entstanden. Die dagegen eingelegten Rechtsmittel blieben erfolglos.
Am 23. August 1960 beantragte die Klägerin, ihr Versorgung nach dem Härteausgleich, wie er nach dem
Neuordnungsgesetz auch für nicht kriegsdienstbedingte Leiden möglich sei, zu gewähren. Mit Bescheid vom 29.
September 1961 lehnte der Beklagte daraufhin den Antrag ab, unter Berufung darauf, dass bereits durch Bescheid
vom 5. Januar 1953 der frühere Antrag abgelehnt worden sei, weil der Tod des Ehemannes nicht Folge einer
Schädigung im Sinne des § 1 BVG sei.
Im Widerspruchsverfahren, das die Klägerin hiergegen eingeleitet hatte, hörte der Beklagte den Internisten Dr. K. der
sich im September 1964 dahin äusserte, dass auch unter Berücksichtigung des "Grundsatzgutachtens” von Prof. B.
keinerlei Gründe vorlägen, die eine Kannversorgung rechtfertigten. Der hierzu gehörte Hessische Minister für Arbeit,
Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen lehnte am 17. Dezember 1964 ebenfalls die Gewährung einer Kannleistung ab,
worauf der Beklagte mit Ergänzungsbescheid vom 19. Januar 1965 eine Kannversorgung ablehnte und mit Bescheid
vom 1. Februar 1965 auch dem Widerspruch nicht abhalf. Er berief sich erneut auf die Bindung durch den Bescheid
vom 5. Januar 1953, erklärte, neue Tatsachen oder Beweise seien nicht erbracht und durch den Ergänzungsbescheid
vom 19. Januar 1965 seien zutreffend die Gründe für die Ablehnung auch eines Härteausgleichs gekennzeichnet.
In ihrem hiergegen vor dem Sozialgericht Kassel von der Klägerin eingeleiteten Klageverfahren führte sie aus, dass
der Tod auf Grund der Wehrdiensteinflüsse mindestens ein Jahr früher eingetreten sei. Sie stützte ihr Vorbringen mit
eidesstattlichen Erklärungen von zwei Kameraden ihres Ehemannes, wonach dieser einem harten Arbeitsdienst in
Russland bei grosser Kälte und schlechtem Essen ausgesetzt war.
Das Sozialgericht hörte den Krebsforscher Prof. Dr. B. – H. – als Sachverständigen. Dieser nahm am 6. Juni 1968
unter Bezugnahme auf sein "1963 für die Bundesregierung abgegebenes Gutachten” dahin Stellung, dass die
Anwendung eines Härteausgleichs aus zwei Gründen versorgungsmedizinisch nicht in Betracht komme: Einmal sei
übereinstimmend mit den bisher gehörten Gutachtern ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem zum Tode
führenden Magenkrebs und schädigenden Einflüssen des Wehrdienstes in einem ausgesprochenen Maße
unwahrscheinlich; nach den neuen Forschungsergebnissen sei nach dem Kriege auch bei Männern der Magenkrebs in
gleichem Maße zurückgegangen wie in nicht kriegsführenden Staaten; eine Ruhrerkrankung als spezielle
krebsbegünstigende Ursache scheide aus, weil der Verstorbene offenbar nur an einer einfachen Durchfallerkrankung
gelitten habe. Zum anderen sei eine Härteausgleichs-Versorgung nur für Fälle der Ungewißheit in der medizinischen
Wissenschaft reserviert, was für einen Krebs der hier vorliegenden Form nicht zutreffe. Auch der gegebenenfalls zu
fordernde zeitliche und örtliche Zusammenhang fehle, zumal die ersten Anfänge der Erkrankung angesichts der
bekannten Latenzzeit als weit zurückliegend bezeichnet werden müsste und Überbrückungssymptome nicht
nachweisbar seien. Die im vorliegenden Falle als exogene Einwirkung angegebenen Faktoren könnten weder als
krebsauslösend noch krebsbegünstigend angesehen werden.
Die übrigen Angaben aus den Akten ergaben, dass der Verstorbene erst Ende Juni 1940 zur Eisenbahn-
Pionierkompanie 405 kommandiert und hier zunächst als Materialverwalter eingesetzt worden war. Nachdem er im
August 1941 nach Russland verlegt worden war, wurde er einer Schirmeisterei zugeteilt, wo sein Dienst im Be- und
Entladen von Bauzügen bestand. Der frühere Unteroffizier T. F. hatte hierzu im August 1943 angegeben, dass der
Verstorbene als Vorgesetzter seine Soldaten "anzufeuern” verstanden hätte. Am 3.8.1941 erkrankte der Ehemann der
Klägerin an Ruhr und kam in mehrere Lazarette, am 19.11.1941 wegen Magen-Darmbeschwerden ins Lazarett G., aus
dem er am 6. Januar 1942 entlassen wurde, um bereits am 12.2.1942 nach einem Genesungsurlaub erneut ins
Lazarett K. eingewiesen zu werden.
Mit Urteil vom 30.7.1968 wies das Sozialgericht Kassel die Klage ab, weil der angefochtene Bescheid des Beklagten
keinen Ermessensmißbrauch enthalte. Aus dem Gutachten des Krebsspezialisten Prof. Dr. B. ergebe sich die
Unwahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges des Krebsleidens mit Kriegseinflüssen. Bei der Ruhr habe
es sich nur um häufig vorkommende Durchfallserscheinungen gehandelt. Eine bazilläre oder amöboide Ruhr scheide
aus. Die Anfänge der Krebserkrankung reichten weit über die Zeit zurück, in der der Ehemann der Klägerin erstmals
bei den Pionieren im rückwärtigen Operationsgebiet in Russland verwandt worden sei. Wegen der mangelnden
Ungewißheit im vorliegenden Falle käme ein Härteausgleich nicht in Betracht.
Gegen das der Klägerin am 6. August 1968 zugestellte Urteil legte diese schriftlich am 4. September 1968 Berufung
beim Hessischen Landessozialgericht ein, ohne diese zu begründen oder Anträge zu stellen. Zum Termin vom
21.7.1970 war sie mit dem Hinweis darauf geladen geworden, dass auch ohne ihr Erscheinen verhandelt und
entschieden werden könne.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Im übrigen wird auf die Akten und Beiakten, deren Inhalt zum Vortrag gelangte, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung war statthaft, form- und fristgerecht eingelegt und deshalb zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet
gewesen.
I.
Mangels eines von der Klägerin formulierten Klag- oder Berufungsantrags war zunächst festzustellen, welches
sachliche Klagbegehren der Beurteilung durch den Senat zu Grunde zu legen war. Der im Tatbestand des
angefochtenen Urteils als sinngemäß wiedergegebene Antrag kann einem Antrag entsprechen, wie er im Ermessens-
Überprüfungsverfahren üblich ist; er kann aber auch dem Begehren einer bloßen Anfechtungsklage entsprechen, den
angefochtenen Bescheid aufzuheben, ohne ihn mit einem Leistungsbegehren zu verbinden. Trotz der Wiedergabe des
Gesetzestextes, wie er für einen Leistungsanspruch formuliert ist, im angefochtenen Urteil beschäftigt sich dieses
indessen offenbar nur mit der Überprüfung, ob eine Härteversorgung zu gewähren ist. Wenn aber von der Klägerin vor
dem Sozialgericht (Protokoll Bl. 15 der Gerichtsakten) Ausführungen über "wesentliche Bedingungen” gemacht wurden
und sie zur Begründung weiter darauf Bezug nahm, dass Kriegseinflüsse das Ableben um mindestens 1 Jahr verkürzt
hätten, damit also einen Unterfall des Ursachenzusammenhangs behauptet, und die angefochtenen Bescheide
zunächst auf die Bindung der Ablehnung einer Versorgung und dann im "Ergänzungsbescheid” vom 19.1.1965 bei der
Ablehnung einer Versorgung im Härtewege darauf verwiesen, dass das in Rede stehende Krebsleiden auf vom
Kriegsdienst unabhängige Leiden zurückzuführen sei, dann kann als sinngemäß nur angesehen werden, dass die
Klägerin weiterhin ihren Versorgungsanspruch als Rechtsanspruch und hilfsweise als Begehren im Härtewege, das nur
auf richtige Ausübung des Ermessens zu überprüfen war, geltend gemacht hat. Davon ist umso eher auszugehen, als
auf die Beweisaufnahme hin Prof. Dr. B. unter Bezugnahme auf sein Grundsatzgutachten für die Bundesregierung –
gemeint ist das Gutachten "Krebs und Härteausgleich nach § 89 Abs. 2 BVG” in Heft 2 der Schriftenreihe des
Bundesversorgungsblattes, Bonn 1964 – die Krebserkrankung nicht schlechthin unter Erkrankungen einreiht, bei
denen ein ursächlicher Zusammenhang im Sinne des § 1 Abs. 3 BVG(NF) nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die
Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, vielmehr für bestimmte
Fälle einen solchen für gegeben oder für ausgeschlossen erachtet. Damit waren Rechtsanspruch und Kannversorgung
geltend gemacht und zu prüfen. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Zweigleisigkeit im angefochtenen Urteil
erkannt war oder nicht, weil, wie weiter unten darzustellen sein wird, unter beiden Gesichtspunkten nur eine
Ermessensüberprüfung erfolgen konnte. Dieser Sachlage hat der Beklagte Rechnung getragen, wenn er seinen
Bescheid vom 29.9.1961 nicht aufgehoben, sondern unter Bezugnahme auf § 86 Abs. 1 SGG mit dem "Ergänzungs”-
Bescheid vom 19.1.1965 ausdrücklich aufrechterhalten hatte und damit tatsächlich über beide Arten von
Klagebegehren entschied, die zueinander im Verhältnis von Eventualbegehren stehen. Er hat damit auch der
Tatsache Rechnung getragen, dass – offenbar auf den Inhalt des Grundsatzgutachtens Prof. B. hin – der
Bundesarbeitsminister in seinem Rundschreiben zu § 1 Abs. 3 Satz 2 vom 16.6.1969 (Schieckel-Gurgel BVG S. 1998
(157) unter Nr. 10 "Malignome” nicht schlechthin als Leiden im Sinne des Satz 2 a.a.O. bezeichnete, sondern diese
Ziffer mit den Worten beginnt: "Soweit nicht über die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs nach §
1 Abs. 3 Satz 1 BVG entschieden werden kann ”
II.
a) Zunächst hat der Beklagte sich zu Recht auf die Bindung an die Ablehnung einer Versorgung im Rechtsanspruch
durch den Bescheid vom 5.1.1953 berufen. Zwar hätte er zugunsten der Klägerin nach § 40 VfG (KOV) hiervon
abgehen können, doch lag dies in seinem – pflichtgemässen – Ermessen. Nach der hierzu entwickelten
Rechtsprechung überschritt er dessen Grenzen nicht bzw. übte er es nicht fehlerhaft aus, wenn er nicht zu der
Überzeugung gelangte oder gelangen musste, die frühere ablehnende Entscheidung sei rechtlich oder tatsächlich
unrichtig (BSG Bd. 26, S. 146 f).
Der Senat hatte daher zunächst festzustellen, dass der Rechtsanspruch auf Versorgung tatsächlich bindend
abgelehnt wurde. Damit besteht nur noch die Möglichkeit, dass die Klägerin nach § 40 VfG (KOV) den Beklagten im
Ermessensweg zur Rentengewährung veranlassen könnte. Der Senat hatte nach dem oben Gesagten also zu prüfen,
ob sich die frühere Entscheidung rechtlich und tatsächlich offenkundig als rechtswidrig darstellt und der Beklagte
deshalb zur Aufhebung zwecks Herstellung einer Übereinstimmung der formellen und materiellen Lage gezwungen
wäre. Es kann dahingestellt bleiben, ob, wie streitig geworden ist, eine Beweisaufnahme vor dem Gericht stattfinden
kann, wenn es sich um die Überprüfung von Ermessensfragen handelt (vgl. Stoll "KOV” 1969 S. 49 f), weil der Senat
auf dem Standpunkt steht, dass die Frage der Rechtmässigkeit der Vorentscheidung eine Frage tatbestandsmässiger
Überprüfung ist und damit dem Gericht obliegt (vgl. BSG im Urteil vom 24.6.1969 – 10 RV 282/66). Deshalb
bestanden keine Bedenken, den Inhalt des Gutachtens von Prof. B. vom 6.6.1968 zu verwenden. Hiernach aber ist,
soweit die Überprüfung des Rechtsanspruchs in Frage steht, kein Anlass gegeben, die frühere rechtsverbindliche
Verneinung des Ursachenzusammenhangs auch nur anzuzweifeln. Wie Prof. B. überzeugend darlegt, sind die im
konkreten Falle vorliegenden exogenen Beeinflussungen wie Durchfallerkrankung ohne nachgewiesenen
Ruhrcharakter, Kälteeinwirkung und kurzer Kriegsdienst nicht geeignet, das konkret vorliegende Magenkrebsleiden zu
verursachen oder auch nur so zu beeinflussen, dass man an ein Ableben denken kann, das ein Jahr eher erfolgte, als
es ohne den Kriegsdienst der Fall gewesen wäre. Damit bestand für den Beklagten keinen Anlass, seine frühere
Entscheidung zu revidieren und von der Rechtsverbindlichkeit abzuweichen.
b) Nach dem Inhalt des gleichen Gutachtens von Prof. B. liegen aber für einen Krebs der hier erwiesenen Art auch die
Voraussetzungen für eine Kannversorgung nach Abs. 3 Satz 2 (früher § 89) der hier in Frage stehenden
Bestimmungen des BVG nicht vor. Es besteht über die Aetiologie in der medizinischen Wissenschaft keine
Ungewissheit. Das konkret vorliegende Leiden gehört deshalb zu den Erkrankungen, für die Nr. 10 des
Rundschreibens des BAM vom 16.6.1969 nicht gilt, weil über die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs
nach § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG entschieden werden kann. Auch hierzu ist auf die Ausführungen Prof. B. zu verweisen,
wonach diese Art von Krebs durch die nach dem Akteninhalt bekannt gewordenen möglichen kriegsbedingten
Ereignisse nicht exogen beeinflussbar ist.
Aber selbst wenn man unterstellen wollte, dass die Voraussetzungen unbekannter Aetiologie deswegen gegeben
seien, weil eine Reihe von ärztlichen Wissenschaftlern (vgl. Fischer-Molineus, Das ärztliche Gutachten im
Versicherungswesen, 1955, Bd. I. S. 191 f; Randerath in VIII/8 der "Gutachten-Sammlung” von Hirt, insb. S. 7 f; vgl.
hierzu auch Wende-Peters, Soz.-rechtl. Entscheidungssammlung IX/3 Nr. 83 zu § 1 (bs) BVG) sich der Auffassung
Prof. B. nicht allenthalben anschliessen konnten, dann ist der Senat – und wiederum auf die diesbezüglichen
Darlegungen Prof. B. hin – mit den Ärzten des Beklagten der Auffassung, dass auch die für Malignome in der Nr. 10
a.a.O. zu fordernden zeitlichen oder örtlichen Zusammenhänge nicht gegeben sind. Prof. B. hebt den frühen
Krebsbeginn hervor und verweist damit auf eine Zeit vor Einziehung des Verstorbenen und legt dann überzeugend dar,
dass die behaupteten Einwirkungen (also abgesehen von der Frage, ob sie auch erwiesen sind) keinen Einfluss der
vom Rundschreiben geforderten Art gehabt hätte. Ebenso ist ein örtlicher Zusammenhang ersichtlich, so dass auch
unter diesen Gesichtspunkten keine Versorgung gewährt werden konnte.
Unter diesen Voraussetzungen waren beide Eventualbegehren der Klägerin als nicht begründet anzusehen und dem
Beklagten bei Ablehnung dieser Begehren weder ein Ermessensfehlgebrauch noch ein Ermessensmissbrauch
unterlaufen.
Die Berufung war dementsprechend zurückzuweisen mit der sich aus § 193 SGG ergebenden Kostenentscheidung.