Urteil des LSG Hessen vom 15.03.2017

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Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 19.10.1978 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel
Hessisches Landessozialgericht L 6 An 1091/77
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 9. September 1977 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die wieder aufgelebte Witwenrente nach § 68 Abs. 2 Angestelltenversicherungsgesetz
(AVG).
Die im Jahre 1930 geborene Klägerin war in erster Ehe mit dem 1923 geborenen und 1957 verstorbenen Versicherten
H. S. (Versicherter) verheiratet. Bis zu ihrer Wiederverheiratung am 5. Mai 1965 erhielt die Klägerin aus dieser
Versicherung Witwenrente.
Die zweite Ehe der Klägerin wurde durch rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Kassel – 8 (6) R 410/73 – vom 6.
März 1974 aus dem Verschulden des Ehemannes geschieden. Im Scheidungsverfahren wurde ein Unterhaltsvergleich
dahin geschlossen, daß der Ehemann ab 1. März 1974 auf die Dauer von zwei Jahren einen monatlichen
Unterhaltsbetrag von 1.000,– DM netto zu zahlen habe. Für die Folgezeit verzichtete die Klägerin auf jeglichen
Unterhaltsanspruch einschließlich des Notbedarfs. Sein Grundvermögen hat der Ehemann seinerzeit mit 400.000,– bis
500.000,– DM, sein laufendes Einkommen als freier Architekt mit monatlich ca. 3.500,– DM angegeben.
Auf den Antrag der Klägerin vom 3. Januar 1975 erkannte die Beklagte durch Bescheid vom 29. Januar 1976 das
Wiederaufleben der Witwenrente nach dem Versicherten H. S. dem Grunde nach an. Eine Rentenzahlung wurde aber
abgelehnt mit der Begründung, die Klägerin habe einen Unterhaltsanspruch gegen den geschiedenen Ehemann in
Höhe von 1.000,– DM monatlich erworben. Dieser Betrag übersteige die Höhe der wieder aufgelebten Witwenrente.
Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 1976 zurückgewiesen mit der
Begründung, es sei zutreffend von einem fiktiven Unterhalt von 1.000,– DM monatlich ausgegangen worden. Der
Verzicht sei nicht geeignet, einen bestehenden Unterhaltsanspruch zu beseitigen.
Mit ihrer Klage machte die Klägerin geltend, Unterhalt in Höhe von 1.000,– DM monatlich sei nur für die ersten zwei
Jahre zu leisten gewesen. Ein (fiktiver) Unterhaltsanspruch für die Folgezeit hätte nicht in dieser Höhe bestehen
können.
Es könne ihr nicht zum Nachteil gereichen, wenn sie durch einen Unterhaltsverzicht eine Versorgungslücke
geschaffen habe.
Die Beklagte berief sich demgegenüber auf die Anrechnungsvorschrift des § 80 Abs. 2 AVG, die in dieser Form
bereits seit 1. Januar 1957 bestehe und weder durch das Rentenreformgesetz von 1972 noch durch die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berührt worden sei.
Durch Urteil vom 9. September 1977 hat das Sozialgericht Kassel die Klage abgewiesen mit der Begründung,
zutreffend habe die Beklagte einen fiktiven Unterhaltsanspruch von 1.000,– DM zugrunde gelegt mit der Folge, daß
hierdurch eine Rentenzahlung entfalle.
Gegen dieses der Klägerin am 26. September 1977 zugestellte Urteil richtet sich ihre am 18. Oktober 1977 beim
Sozialgericht Kassel eingegangene Berufung, mit der sie ihren Rentenanspruch weiterverfolgt. Sie trägt vor, ihr
geschiedener Ehemann betreibe sein Architekturbüro nicht mehr und beziehe nunmehr eine Rente von monatlich
600,– DM. Ein Unterhaltsanspruch in Höhe von monatlich 1.000,– DM habe ohnehin nur bis 1. März 1976 bestanden.
Sie selbst habe z. Zt. ein monatliches Bruttoeinkommen von ca. 1.000,– DM.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 9. September 1977 aufzuheben und die Beklagte
unter Aufhebung ihres Bescheids vom 29. Januar 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juni
1976 zu verurteilen, ihr Witwenrente aus der Versicherung des am 27. Oktober 1928 geborenen und am 5. März 1957
verstorbenen, Versicherten H. S., in voller Höhe ab 1. März 1976 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und macht geltend, die wirtschaftliche Lage des früheren Ehemannes
der Klägerin sei nach Aufgabe seines Architekturbüros nicht bewiesen.
Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichts- und Rentenakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren,
verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig; sie ist an sich statthaft und in rechter Form und Frist eingelegt (§§ 143, 151
Sozialgerichtsgesetz –SGG–).
In der Sache selbst erweist sich jedoch die Berufung als unbegründet.
Das angefochtene, Urteil ist zu Recht ergangen. Nach § 68 Abs. 2 AVG hat die Klägerin keinen Anspruch auf die volle
oder teilweise Zahlung der wieder aufgelebten Witwenrente, weil ein aus der zweiten Ehe erworbener
Unterhaltsanspruch anzurechnen ist.
Hierbei kann dahinstehen, ob die Klägerin ohne den Unterhaltsverzicht auch vom 1. März 1976 an einen monatlichen
Unterhalt in Höhe von 1.000,– DM von ihrem früheren Ehemann hätte weiter beanspruchen können. In jedem Falle
hätte die Klägerin unter Berücksichtigung ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage und des ihres geschiedenen Ehemannes
einen Unterhaltsanspruch in einer Höhe verwirklichen können, der die wieder aufgelebte Witwenrente (monatlich
492,30 DM im Zeitpunkt der Bescheiderteilung) mindestens erreicht hätte. Dies ergibt sich schon aus den
Einkommensverhältnissen des geschiedenen Ehemannes im Zeitpunkt der Scheidung sowie aus seinem
Grundvermögen. Demgegenüber waren die wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin nicht so gestaltet, daß sie einem
Unterhaltsanspruch entgegengestanden hätten. Hieraus ergibt sich, daß auch ohne den Unterhaltsverzicht ein
Anspruch auf Rentenzahlung nicht entstanden wäre.
Ein Unterhaltsverzicht muß im Rahmen des § 68 Abs. 2 AVG nicht notwendig zur Anrechnung eines fiktiven
Unterhaltsanspruches führen. Es sind durchaus Fälle denkbar, in denen der Unterhaltsverzicht einen Anspruch auf
ganze oder teilweise Zahlung der wieder aufgelebten Witwenrente auslöst (vgl. BSG-Urteil vom 24. Mai 1978 – 4 RJ
79/77 – mit weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum). Ein solcher Ausnahmefall liegt indessen hier
nicht vor.
Beachtlich ist der objektiv verständige bzw. anerkennenswerte Verzicht. Für diese Eingrenzung kann es eine Rolle
spielen, ob der Zweck des Verzichts mehr auf eherechtlichem Gebiet oder auf nachehelichem wirtschaftlichem Gebiet
beruht (BSG a.a.O.).
Ein Verzicht kann jedoch nur als objektiv verständig bzw. anerkennenswert behandelt werden, wenn Motive und
Begleitumstände, die zu dem Verzicht geführt haben, rückschauend erkennbar und nachvollziehbar sind. Der
Unterhaltsverzicht muß aus der Zeit seiner Entstehung heraus beurteilt werden. Dabei können verständige bzw.
anerkennenswerte Motive grundsätzlich nicht vermutet werden. Einen solchen Grundsatz hat die Rechtsprechung
(vgl. BSG a.a.O.) auch erkennbar nicht aufgestellt. Eine Beweislastverteilung dahin, daß der Versicherungsträger den
nichtverständigen Verzicht darzutun hätte, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Dies gilt umso mehr, als die
anspruchsberechtigte Witwe am ehesten im Gegensatz zum Versicherungsträger in der Lage sein wird, Motive und
Umstände des Unterhaltsverzichts darzutun.
Im vorliegenden Fall sind Motive und Begleitumstände des Unterhaltsverzichtes nicht mehr deutlich zu erkennen und
damit nachzuvollziehen. Der geschiedene Ehemann der Klägerin wäre auch nach dem 1. März 1976 noch in der Lage
gewesen, Unterhalt zu leisten, wenn auch möglicherweise nicht mehr im früheren Umfang von 1.000,– DM monatlich.
Hierdurch entfällt das bei Unterhaltsverzichten vielfach zu beobachtende Motiv, daß die Berechtigte verzichtet, die sie
ohnehin nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten verwirklichen könnte. Weiterhin steht nicht fest, daß die
Scheidung nur aufgrund des Unterhaltsverzichtes möglich war. In Einzelfallen kann eine Ehefrau ein besonderes,
billigenswertes Interesse an einer möglich raschen Scheidung haben. Um dieses Ziel zu erreichen, wird sie
möglicherweise auf Unterhaltsansprüche verzichten.
In solchen Fällen kann es unter Umständen eine besondere Härte bedeuten, wenn danach ein fiktiver
Unterhaltsanspruch angerechnet würde. Indessen ergibt sich im vorliegenden Fall nicht, daß die Klägerin wegen der
besonderen Situation ihrer Ehe auf eine rasche Durchführung der Scheidung angewiesen war und dieses Ziel durch
einen Unterhaltsverzicht erreichen mußte. Andere triftige Gründe für den Unterhaltsverzicht sind weder vorgetragen
noch sonst ersichtlich.
Unter diesen Umständen kann nicht da von ausgegangen werden, daß der Unterhaltsverzicht objektiv verständig bzw.
anerkennenswert im Sinne der Rechtsprechung des BSG (a.a.O.) war. Einen dahingehenden Beweis hat die Klägerin
nicht geführt. Die Klägerin ist somit so zu behandeln, als wenn sie aus freien Stücken auf einen ihr an sich
zustehenden Anspruch verzichtet hätte.
Der Unterhaltsverzicht kann nicht dazu führen, daß im Rahmen des § 68 Abs. 2 AVG kein fiktiver Unterhaltsanspruch
angerechnet werden darf. Durch das Wiederaufleben der Witwenrente soll eine infolge einer Scheidung eingetretene
Versorgungslücke geschlossen werden. Dies gilt indessen nicht in den Fällen, in denen die Versorgungslücke von der
Witwe durch einen Unterhaltsverzicht erst geschaffen worden ist (BSG-Urteil vom 26. September 1975 – 12 RJ 248/74
–SozR 2200 § 1291 Nr. 8 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung). Der aus freien Stücken erklärte
Unterhaltsverzicht ist grundlegend verschieden vom Ausschluß eines Unterhaltsanspruches wegen des Verschuldens
an der Scheidung. Bei der Klägerin wird ein fiktiver Unterhaltsanspruch deswegen angerechnet, weil sie freiwillig auf
einen bestehenden und realisierbaren Anspruch verzichtet hat. Sie konnte über ihren Unterhaltsanspruch verfügen und
hat dies getan. Dies wäre nicht möglich gewesen, wenn dieser Anspruch kraft Gesetzes entweder nicht bestanden
hätte oder nicht realisierbar gewesen wäre.
Ob infolge der Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse des geschiedenen Ehemannes der Klägerin nunmehr
möglicherweise ein Anspruch auf Rentenzahlung entstanden ist, war in diesem Verfahren nicht zu prüfen. Die
Änderung der Verhältnisse ist von der Klägerin nicht genügend substantiiert vorgetragen und bewiesen worden. Es
steht der Klägerin frei, einen entsprechenden Überprüfungsantrag mit den erforderlichen Beweismitteln bei der
Beklagten zu stellen, die dann eine Neuprüfung in die Wege leiten wird (vgl. BSG 34, 221).
Bei der derzeitigen Sach- und Rechtslage erweist sich die Berufung der Klägerin als unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, weil Motivation und Auswirkungen des Unterhaltsverzichtes von grundsätzlicher
Bedeutung sind.