Urteil des LSG Hessen vom 22.12.2008

LSG Hes: diabetes mellitus, hauptsache, aufschiebende wirkung, erlass, rechtsschutz, notlage, ernährung, gefährdung, menschenwürde, existenzminimum

Hessisches Landessozialgericht
Beschluss vom 22.12.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 53 SO 410/07 ER
Hessisches Landessozialgericht L 7 SO 7/08 B ER
I. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 12.
Dezember 2007 aufgehoben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
II. Kosten des Rechtsstreits beider Rechtszüge sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Hintergrund des Rechtsstreits bildet in der Hauptsache die Frage, ob die Antragsgegnerin einen gesundheitsbedingten
Bedarf des Antragstellers für kostenaufwändigere Ernährung wegen eines Diabetes mellitus Typ II A zu decken hat
(Mehrbedarf).
Der 1945 geborene Antragsteller erhält von der Antragsgegnerin Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel
des SGB XII.
Mit Bescheid vom 16. November 2006 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller die vorbezeichneten
Leistungen für den Zeitraum vom 1. Dezember 2006 bis 30. November 2007 weiter, ohne den streitigen Mehrbedarf zu
berücksichtigen. Hiergegen legte der Antragsteller mit Schreiben vom 11. Dezember 2006 am selben Tage
Widerspruch ein. Der Senat ordnete im Beschwerdeverfahren - Az.: L 7 SO 40/07 ER - mit Beschluss vom 3. Juli
2007 an, den Mehrbedarf des Antragstellers vorläufig für den Zeitraum vom 12. Januar 2007 bis zum 30. November
2007 zu decken. Mit Ausführungsbescheid vom 20. Juli 2007 änderte die Antragsgegnerin ihre Leistungsbewilligung
entsprechend für den Zeitraum vom 1. Januar 2007 bis 30. November 2007 ab und bewilligte aus den Gründen
ersichtlich vorläufig bis zu einer Entscheidung im Hauptverfahren Leistungen für den Mehrbedarf. Mit
Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 2007, dem Antragsteller zugestellt am 30. Oktober 2007, wies die
Antragsgegnerin den Widerspruch des Antragstellers nur für den Kalendermonat Dezember 2006 als unbegründet
zurück.
Hiergegen hat der Antragsteller sich am 23. November 2007 an das Hessische Landessozialgericht per Fax gewandt
und sinngemäß beantragt,
auf seine weitere Beschwerde eine weitere einstweilige Anordnung zu erlassen.
Das Schreiben hat das Hessische Landessozialgericht zuständigkeitshalber an das SG weitergeleitet, welches es als
Antrag im hiesigen einstweiligen Rechtsschutzverfahren aufgenommen hat.
Mit weiterem Bescheid vom 23. November 2007 hat die Antragsgegnerin dem Antragsteller
Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII für den Zeitraum vom 1. Dezember 2007 bis 30.
November 2008 unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs bewilligt. In den Gründen hat es dazu ausgeführt, der
Mehrbedarf werde vorläufig aufgrund des Beschlusses des Hessischen Landessozialgerichts vom 3. Juli 2007 bis zur
Entscheidung im Hauptverfahren weiter gezahlt. Daraufhin hat der Antragsteller das Ruhen des Verfahrens beantragt.
Die Antragsgegnerin hat hingegen darauf hingewiesen, der Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 2007 sei zum 30.
November 2007 bestandskräftig geworden und das Hauptverfahren abgeschlossen. Die vorläufige Leistungspflicht aus
dem Bescheid vom 23. November 2007 sei daher ab dem 1. Dezember 2007 entfallen. Das SG hat mit Beschluss
vom 12. Dezember 2007 die Antragsgegnerin vorläufig verpflichtet, über Dezember 2007 hinaus bis zum 30.
November 2008 den Mehrbedarf des Antragstellers vorläufig zu decken. Nicht entscheidungserheblich sei, ob der
Widerspruchsbescheid der Antragsgegnerin vom 25. Oktober 2007 bestandskräftig geworden sei, weil Gegenstand der
einstweiligen Anordnung allein der Leistungszeitraum über Dezember 2007 hinaus sei. Gegenstand in der Hauptsache
bilde allein der Bescheid der Antragsgegnerin vom 23. November 2007 für den Zeitraum vom 1. Dezember 2007 bis
30. November 2008. Insoweit sei aus den Gründen des Hessischen Landessozialgerichts vom 3. Juli 2007 eine
vorläufige Leistungsverpflichtung weiterhin anzunehmen.
Gegen den ihr am 18. Dezember 2007 zugestellten Beschluss hat die Antragsgegnerin am 10. Januar 2008 bei dem
SG Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat (14. Januar 2008).
Die Antragsgegnerin meint, der Antragsteller habe gegen den Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 2007 keine
Klage erhoben. Vielmehr habe sich sein Rechtsschutzersuchen ausschließlich gegen den Bescheid vom 23.
November 2007 für den Leistungszeitraum vom 1. Dezember 2007 bis 30. November 2008 gerichtet. Damit sei der
Widerspruchsbescheid in Bestandskraft erwachsen und das Hauptverfahren abgeschlossen. Weder aus der
einstweiligen Anordnung vom 3. Juli 2007 noch dem Bescheid vom 23. November 2007 könne daher der Antragsteller
eine weitere vorläufige Leistungsverpflichtung herleiten.
Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß, den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 12. Dezember
2007 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Der Antragsteller äußert sich nicht im Beschwerdeverfahren.
II.
Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig und hat in der Sache Erfolg.
Der Beschluss des SG ist aufzuheben und der allenfalls sinngemäße Antrag des Antragstellers,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, auch für den Zeitraum ab dem 1.
Dezember 2007 Leistungen zur Deckung eines Mehrbedarfs in Höhe von 81,30 EUR monatlich auszuzahlen,
ist abzulehnen.
Fraglich ist allerdings von vornherein, ob der Antragsteller nach Bekanntgabe des Bescheides der Antragsgegnerin
vom 23. November 2007 überhaupt noch einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt hat.
Ausdrücklich hat er nur das Ruhen des Verfahrens beantragt, weil er zu Recht davon ausgegangen ist, dass sich die
Antragsgegnerin aus diesem Bescheid zur vorläufigen Zahlung ab dem 1. Dezember 2007 selber verpflichtet hat. Auf
die weitere Erwiderung der Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 5. Dezember 2007 trotz dieses Bescheides ab dem 1.
Dezember 2007 keine vorläufigen Zahlungen mehr zu erbringen, hat sich der Antragsteller im Ausgangsverfahren nicht
mehr äußern können und im Beschwerdeverfahren tatsächlich nicht mehr geäußert. Ob das für eine sinngemäße
Antragstellung ausreicht, kann allerdings dahingestellt bleiben, weil der Antrag ohnehin abzulehnen ist.
Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen entgegen der Auffassung des SG aufgrund
der aktualisierten Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe 3.
Aufl., 1. Oktober 2008 (Empfehlungen 2008), die dem SG allerdings noch nicht zur Verfügung gestanden haben
können, nicht vor.
Ist einstweiliger Rechtsschutz weder durch die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen
Verwaltungsakt noch die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes (§ 86b Abs. 1 SGG) zu gewährleisten, kann
nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf
den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die
Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte
(Sicherungsanordnung - vorläufige Sicherung eines bestehenden Zustandes -). Nach Satz 2 der Vorschrift sind
einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint
(Regelungsanordnung - vorläufige Regelung zur Nachteilsabwehr -). Bildet ein Leistungsbegehren des Antragstellers
den Hintergrund für den begehrten einstweiligen Rechtsschutz, ist dieser grundsätzlich im Wege der
Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG zu gewähren. Danach muss die einstweilige Anordnung
erforderlich sein, um einen wesentlichen Nachteil für den Antragsteller abzuwenden. Ein solcher Nachteil ist nur
anzunehmen, wenn einerseits dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher
Leistungsanspruch in der Hauptsache - möglicherweise - zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm andererseits nicht
zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Das Abwarten
einer Entscheidung in der Hauptsache darf nicht mit wesentlichen Nachteilen verbunden sein; d.h. es muss eine
dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (Konradis in LPK–SGB II, 2. Aufl., Anhang
Verfahren Rn. 117). Eine solche Notlage ist vor allem bei einer Gefährdung der Existenz oder erheblichen
wirtschaftlichen Nachteilen zu bejahen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl., § 86b Rn. 28).
Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander. Vielmehr stehen beide in einer
Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender
Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt.
Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein
bewegliches System (Senat, 29.6.2005 - L 7 AS 1/05 ER - info also 2005, 169; Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl., § 86b
Rn. 27 und 29 mwN.). Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der
Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein
schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so
vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen
Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine
vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer
Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher
zuzumuten ist. Dabei sind grundrechtliche Belange des Antragstellers umfassend in der Abwägung zu
berücksichtigen. Insbesondere bei Ansprüchen, die darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten
Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip)
ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch, vor allem wenn er eine für die soziokulturelle Teilhabe
unverzichtbare Leistungshöhe erreicht und für einen nicht nur kurzfristigen Zeitraum zu gewähren ist, in der Regel
vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig klären lässt (BVerfG,
3. Kammer des Ersten Senats, 12.5.2005 - 1 BvR 569/05 - info also 2005, 166 unter Hinweis auf BVerfGE 82, 60
(80)). Denn im Rahmen der gebotenen Folgeabwägung hat dann regelmäßig das Interesse des Leistungsträgers
ungerechtfertigte Leistungen zu vermeiden gegenüber der Sicherstellung des ausschließlich gegenwärtig für den
Antragsteller verwirklichbaren soziokulturellen Existenzminimums zurückzutreten (Senat, 27.7.2005 – L 7 AS 18/05
ER).
Zwar ist entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin davon auszugehen, dass sie allein aufgrund ihres insoweit
bestandskräftigen Bescheides vom 23. November 2007 bezüglich des Widerspruchs des Antragstellers gegen den
Bescheid vom 16. November 2006 verpflichtet bleibt, ab dem 1. Dezember 2007 bis zum Abschluss des
Hauptverfahrens, längstens bis zum 30. November 2008, den Mehrbedarf vorläufig zu decken.
Insoweit hat sie durch ihren Verfügungssatz im Bescheid vom 23. November 2007, vorläufige Leistungen bis zur
Entscheidung im Hauptverfahren zu erbringen, eine eigenständige vorläufige Zahlungsverpflichtung begründet, welche
nicht durch den Beschluss des Senats vom 3. Juli 2007 angeordnet ist, weil er ausdrücklich eine zeitliche
Begrenzung bis zum 30. November 2007 vorsieht.
Dem steht auch nicht eine – bestandskräftige – Entscheidung im Hauptverfahren durch den Widerspruchsbescheid
vom 25. Oktober 2007 entgegen. Die Antragsgegnerin übersieht, dass im vorbenannten Bescheid ausschließlich über
den Widerspruch für den Leistungsmonat Dezember 2006 entschieden ist. Eine Bescheidung des Widerspruchs für
den Leistungszeitraum vom 1. Januar 2007 bis 30. November 2007 steht daher noch aus. Insbesondere ist auch dem
Ausführungsbescheid der Antragsgegnerin vom 20. Juli 2007 eine Entscheidung über den Widerspruch nicht zu
entnehmen, weil er ausschließlich eine vorläufige Leistung verfügt hat.
Steht daher dem Antragsteller bereits aufgrund des Bescheides der Antragsgegnerin vom 23. November 2007 ein
Anspruch auf vorläufige Leistungen jedenfalls bis zum 30. November 2008 zu, ist gleichwohl der Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung mangels Anordnungsgrundes abzulehnen, weil aufgrund der geänderten Empfehlungen
es ausgeschlossen ist, dass der Antragsteller in der Hauptsache obsiegen wird und daher in jedem Fall die vorläufigen
Leistungen erstatten müsste.
Die Empfehlungen 2008 sehen nunmehr ausdrücklich vor, dass regelmäßig ein Mehrbedarf wegen Erkrankungen,
welche mit einer diätischen Vollkost zu behandeln sind, zu denen Diabetes-mellitus Typ I und II, konventionell und
intensiviert konventionell behandelt zählt, nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht anzunehmen ist
(Empfehlungen 2008, S. 11 f.). Begründet ist das damit, ein ernährungswissenschaftliches Gutachten, April 2008,
habe ergeben, dass eine solche Vollkost aus dem Ansatz auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
2003, der bei der Bemessung des Regelsatzes für die Ernährung bestimmt ist, zu finanzieren sei. (Empfehlungen
2008, S. 17 ff.).
Zwar hat das BSG zur Vorauflage der Empfehlungen entschieden, es handele sich jedenfalls nicht mehr um ein
antizipiertes Sachverständigengutachten, obwohl in der Gesetzesbegründung auf sie verwiesen werde und sie auf
verschiedenen Sachgebieten eingeholten medizinischen, ernährungswissenschaftlichen und statistischen Gutachten
beruhten und allgemeine Anerkennung genössen (BSG, 27.2.2008 – B 14/7b AS 64/06 R; zu den Voraussetzungen
eines antizipierten Sachverständigengutachten: BSG SozR 3-2200 § 581 Nr. 8). Gestützt hat es das aber allein auf
die veralteten Datenerhebungen der Vorauflage. Dementsprechend kommt der aktualisierten 3. Auflage, gestützt auf
neuere Datenerhebungen (Empfehlungen 2008, S. 10), wohl wieder die Qualität eines antizipierten
Sachverständigengutachtens zu. Jedenfalls sind sie ohnehin ungeachtet dessen als Orientierungshilfe zu verwenden,
von der nur bei konkreten Anhaltspunkten im Einzelfall abzuweichen ist (BSG, 27.2.2008, a.a.O.).
Auf Grundlage der Empfehlungen 2008 gibt der Senat daher seine gegenteilige im Beschluss vom 3. Juli 2007
zugrunde gelegte Auffassung auf.
Die Kostenentscheidung beruht entsprechend § 193 Abs. 1 S. 1 SGG auf dem Ausgang des Rechtsstreits.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.