Urteil des LSG Hessen vom 15.03.2017

LSG Hes: unterbrechung der verjährung, negative feststellungsklage, ärztliche behandlung, krankenpflege, heilbehandlung, behandlungsbedürftigkeit, krankenversicherung, aufrechnung, rückforderung

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 15.01.1975 (rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt
Hessisches Landessozialgericht L 5 V 1180/71
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 5. November 1971 wird
zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Rückerstattung von nach Auffassung des Beklagten zu Unrecht erstatteten
Heilbehandlungskosten nach § 20 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).
Die kriegsbeschädigte Frau M. M. (MM) bezieht von dem Beklagten nach dem rechtskräftigen Urteil des
Sozialgerichts Darmstadt vom 9. Februar 1956 eine Rente nach dem BVG nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit
(MdE) um 50 v.H. wegen "Zustand nach Gehirnschädigung mit neurologischen Ausfallerscheinungen”. Sie war ab 3.
Mai 1960 freiwilliges Mitglied der Klägerin.
Mit Schreiben vom 7. Mai 1968 an die Klägerin forderte der Beklagte nach seiner Auffassung zu Unrecht erstattete
Kosten nach § 20 BVG betr. die Heilbehandlung der MM für die Quartale III/66 bis III/67 von DM 50,54 zurück. Die
Klägerin habe zu Unrecht Ersatzansprüche wegen Behandlung von Schädigungsfolgen für solche Beschädigte geltend
gemacht, die – wie MM – freiwillige Kassenmitglieder nach der Reichsversicherungsordnung (RVO) und deshalb nach
der Kassensatzung ohne Leistungsanspruch bei Behandlung von Schädigungsfolgen seien.
Die Klägerin hat hierauf mit Schreiben vom 10. Mai 1968 die Rückerstattung des obigen Betrages abgelehnt. Der
Leistungsausschluß beruhe vorliegend auf der Gesetzesvorschrift des § 310 Abs. 2 RVO, der sich nach der
Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29.7.1965 – 3 RK 56/60 – auf die zur Zeit des freiwilligen Beitritts
bestehenden behandlungsbedürftigen Erkrankungen beziehe und auch für Schädigungsfolgen gelte. Der Ausschluß
bestehe solange, wie die Erkrankung behandlungsbedürftig sei und deshalb einen einheitlichen Versicherungsfall
bilde. Dies sei hier nach der Aktenlage und den anerkannten Schädigungsfolgen seit Beginn der freiwilligen
Mitgliedschaft der Fall.
Mit Schreiben vom 25. November 1968 wandte der Beklagte demgegenüber ein, der Ausschluß nach § 310 Abs. 2
RVO bestehe nur solange wie die Erkrankung eine laufende Krankenpflege erforderlich mache oder deshalb
Arbeitsunfähigkeit bestehe. Dies sei auch offenbar die Auffassung von Peters (Handbuch der Krankenversicherung
Teil II, Erläuterung 4 b zu § 310 RVO), wonach hier nicht nur Krankheiten in medizinischem Sinne gemeint seien.
Vorliegend habe jedoch wegen der Schädigungsfolgen keine Notwendigkeit zu laufender Krankenpflege bestanden. Im
übrigen reduzierte der Beklagte die Rückforderung auf DM 29,54.
In dem weiteren Schriftwechsel blieb die Klägerin bei ihrer Auffassung, daß eine Notwendigkeit zu laufender
Krankenpflege vorliegend bestanden habe; auch nach Auskunft des behandelnden Neurologen Dr. H. sei MM wegen
der Schädigungsfolgen ab 3. Mai 1960 laufend behandlungsbedürftig gewesen. Darauf, ob sie tatsächlich laufend
ärztliche Hilfe in Anspruch genommen habe, komme es nach dem Gesetzeswortlaut und der in der gesetzlichen
Krankenversicherung herrschenden Meinung nicht an.
Demgegenüber hielt der Beklagte an seiner gegenteiligen Auffassung fest, zumal MM nach den vorliegenden Belegen
keine laufende Heilbehandlung in Anspruch genommen habe.
Hierauf erhob die Klägerin eine Feststellungsklage gegen den Beklagten. Außer ihrem bisherigen Vorbringen trug sie
vor, MM sei vom 3. Mai 1960 bis 31. Dezember 1967 freiwilliges Kassenmitglied nach § 176 RVO gewesen; solange
sei ihr für Schädigungsfolgen Heilbehandlung gemäß § 10 Abs. 1 BVG gewährt worden. Ferner machte sie geltend,
auch nach der zum Krankheitsbegriff nach dem 2. Buch der RVO ergangenen Rechtsprechung werde nur auf die
Behandlungsbedürftigkeit und nicht auf die tatsächlich erfolgte Behandlung abgestellt.
Demgegenüber machte der Beklagte weiterhin geltend, daß keine laufende ärztliche Behandlung erfolgt sei, was
daraus hervorgehe, daß in den Quartalen I bis III/61 und IV/62 bis I/63 keine Bundesbehandlungsscheine für MM
ausgestellt worden seien. An einer Rückforderung für die Zeit vor dem Quartal III/66 sei er nur durch § 21 Abs. 2 BVG
gehindert.
Mit Urteil vom 5. November 1971 stellte das Sozialgericht Darmstadt antragsgemäß fest, daß der Beklagte keinen
Anspruch auf Rückforderung der bereits gezahlten Kosten gemäß § 20 BVG für die Beschädigte MM habe; zugleich
wurde die Berufung gegen das Urteil zugelassen. Die negative Feststellungsklage sei begründet, da dem Beklagten
infolge Verjährung nach § 21 Abs. 2 BVG kein Rückerstattungsanspruch zustehe. Die einschlägige zweijährige
Verjährungsfrist sei vorliegend vom 1. Januar 1969 bis 31. Dezember 1970 gelaufen. Die Verjährung sei nicht
unterbrochen worden, insbesondere auch nicht durch das vorliegende Klageverfahren. Dies sei nicht nach § 209 Abs.
1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) der Fall gewesen, da nicht der Anspruchsberechtigte (also das Land Hessen)
geklagt habe, aber auch nicht durch die Verteidigung des Beklagten, zumal dieser keine Widerklage erhoben habe.
Schließlich sei auch keine Unterbrechung der Verjährung durch die Geltendmachung des Rückerstattungsanspruchs
mit dem Schreiben des Beklagten vom 7. Mai 1968 eingetreten, da auch insoweit nur die Klageerhebung ausreichend
gewesen wäre. Im übrigen sei die eingetretene Verjährung nach herrschender Meinung von Amts wegen zu beachten.
Gegen dieses ihm am 19. November 1971 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 3. Dezember 1971 Berufung
eingelegt. Nach seiner Auffassung ist die streitige Forderung deshalb nicht verjährt, weil sie infolge Aufrechnung nach
§ 389 BGB bereits seit langem erloschen sei. Das Versorgungsamt habe nämlich bereits am 15. September 1969 in
dem Kostennachweis II/69 der Klägerin den streitigen Betrag von DM 29,54 DM abgesetzt.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 5. November 1971 aufzuheben und die Klage
abzuweisen, hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der Beklagte habe § 390 BGB übersehen, wonach eine Forderung
nicht aufrechenbar sei, wenn ihr eine Einrede entgegenstehe. Diese Einrede sei hier in der sachlich begründeten
Ablehnung der gegnerischen Forderung mit Schreiben vom 10. Mai 1968 zu erblicken. Im übrigen betrage ihre
Forderung DM 38,05. Die Klägerin legte ferner den ärztlichen Bericht des Neurologen Dr. H. vom 20. Dezember 1968
vor.
Demgegenüber wendet der Beklagte ein, die Klägerin verkenne offenbar den Begriff der Einrede im Sinne des BGB.
Die Ablehnung einer Forderung sei jedenfalls keine Einrede.
Auf den weiteren Inhalt der Gerichts- und Versorgungsakten sowie der beigezogenen Abrechnungsunterlagen der
Beteiligten, welcher zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde, wird im einzelnen verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Beklagten ist zulässig. Insbesondere ist die an sich nach § 149 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)
ausgeschlossene Berufung wegen Zulassung durch das Sozialgericht nach § 150 Nr. 1 SGG statthaft. An diese
Zulassung ist das Landessozialgericht nach herrschender Meinung gebunden (Hofmann-Schroeter, 2. Aufl., Anm. 2 zu
§ 150 SGG). Die Berufung ist jedoch unbegründet. Der Entscheidung des Sozialgerichts ist jedenfalls im Ergebnis
beizupflichten. Wie die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat, ist der vom Beklagten geltend gemachte
Rückerstattungsanspruch verjährt. Nach § 21 Abs. 2 BVG verjähren solche Ansprüche in zwei Jahren die Verjährung
beginnt mit Ablauf des Jahres, in dem der Kostennachweis der Verwaltungsbehörde vorgelegt worden ist. Da letzteres
nach der Erklärung des Beklagtenvertreters im Verhandlungstermin im Frühjahr 1968 der Fall war, lief die
Verjährungsfrist vom 1. Januar 1969 bis 31. Dezember 1970. Eine Unterbrechung dieser Verjährung ist nicht
eingetreten, wie schon das Sozialgericht zutreffend im einzelnen und insoweit auch vom Beklagten unwidersprochen
ausgeführt hat.
Der Beklagte kann auch nicht geltend machen, zu einer Verjährung seiner streitigen Forderung habe es deshalb nicht
kommen können, weil sie durch eine innerhalb der Verjährungsfrist erfolgte Aufrechnung nach §§ 387, 389 BGB schon
seit langem erloschen sei. Der vom Beklagten geltend gemachte Rückerstattungsanspruch bestand nämlich
überhaupt nicht. Vielmehr war der ihm gegenüber schon seinerzeit von der Klägerin erhobene rechtshindernde
Einwand aus § 310 Abs. 2 RVO begründet und stand deshalb eine Aufrechnung entgegen. MM war nämlich nach
dieser Vorschrift mit ihren seit Beginn der freiwilligen Mitgliedschaft bei der Klägerin als "Erkrankung” bzw. "Krankheit”
bezeichneten Schädigungsfolgen von den Kassenleistungen ausgeschlossen. Nach Peters (Handbuch der
Krankenversicherung Teil II, Anm. 4 b zu § 310 RVO) wurde das Wort "Erkrankung” gewählt, um klarzustellen, daß
bloße Krankheitsanlage nicht genügt, die Krankheit vielmehr beim Beitritt bereits eingetreten sein muß. Dabei ist
Krankheit nicht in medizinischem Sinne, sondern als ein Zustand zu verstehen, der die Notwendigkeit der
Krankenpflege oder Arbeitsunfähigkeit begründet; es muß sich also ma.W. um eine behandlungsbedürftige
Erkrankung handeln. Ähnlich ist auch die Rechtsprechung des BSG von der Voraussetzung der
Behandlungebedürftigkeit ausgegangen.
Behandlungsbedürftigkeit ist aber keineswegs gleichbedeutend mit tatsächlich erfolgter Behandlung, was der Beklagte
offensichtlich verkennt. Nach der Lebenserfahrung werden behandlungsbedürftige Krankheiten häufig aus den
verschiedensten Gründen tatsächlich nicht behandelt. Insoweit sagt auch Peters an anderer Stelle (Anm. 3 c aa. zu §
182 RVO) klar und eindeutig sowie ganz allgemein zum Begriff der Krankheit als Versicherungsfall im Sinne der
gesetzlichen Krankenversicherung: "Im übrigen kommt es auf die Notwendigkeit der Heilbehandlung an, nicht auch
darauf, ob diese Behandlung in Anspruch genommen wird”. Dem hat sich der Senat angeschlossen. Peters fordert
a.a.O. nur, daß die Krankheit nach außen wahrnehmbar sein muß. Diese Forderung ist sowohl sinngemäß nach dem
von der Klägerin zitierten und vorgelegten fachärztlichen Bericht des Neurologen Dr. H. erfüllt, weil danach
fortlaufende Behandlungsbedürftigkeit seit 1960 bestanden hat. Ferner folgt das daraus, daß bei MM ein "Zustand
nach Gehirnschädigung mit neurologischen Ausfallerscheinungen” rechtskräftig als Schädigungsfolge mit
Schwerbeschädigteneigenschaft anerkannt war und ist. Insoweit ist ferner auffällig, daß in den drei
Bundesbehandlungsscheinen des Jahres 1967 der zuständige Versorgungsarzt jedes Mal den ursächlichen
Zusammenhang der behandelten Beschwerden mit der anerkannten Schädigungsfolge bejaht und damit auch die
Behandlungsbedürftigkeit anerkannt hat.
Somit war, wie geschehen, zu erkennen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision gegen das Urteil nicht zugelassen, weil kein gesetzlicher Grund hierfür ersichtlich war.