Urteil des LSG Hessen vom 21.03.1997

LSG Hes: anhörung, verwaltungsakt, sozialleistung, behörde, aufhebungsvertrag, beendigung, belastung, beteiligter, erwerbsunfähigkeit, berufsunfähigkeit

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 21.03.1997 (rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt S 15 Ar 131/95
Hessisches Landessozialgericht L 10 Ar 151/96
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 24. Oktober 1995 wird
zurückgewiesen.
II. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 24. Oktober 1995 wird
zurückgewiesen.
III. Die Beteiligten haben einander keine Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
IV. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen Erstattungsbescheide, die die Beklagte auf der Grundlage des § 128 des
Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) erlassen hat.
Die Klägerin ist ein Unternehmen der Pharma-Industrie. Bei ihr war seit dem 31. Mai 1954 bis zum 31. März 1994 der
am 1932 geborene J. H. (H.) zuletzt als Meister beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis wurde im Rahmen einer
Vorruhestandsregelung durch Aufhebungsvertrag vom 30. September 1993 gegen Zahlung einer Abfindung in Höhe
von 31.790,– DM zugunsten des Arbeitnehmers beendet. Im Rahmen eines Telefongesprächs am 15. April 1994 teilte
die Klägerin der Beklagten insoweit mit, dem H. wäre ohne Zustimmung zum Aufhebungsvertrag zum gleichen Termin
gekündigt worden. Am 1. April 1994 meldete sich H. arbeitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosengeld.
Diese Leistung bewilligte ihm die Beklagte aufgrund Leistungsverfügung vom 15. April 1994 ab 1. April 1994 in Höhe
von wöchentlich 549,60 DM. Am 8. April 1994 nahm H. die Möglichkeit des erleichterten Arbeitslosengeldbezugs
gemäß § 105 c AFG in Anspruch. Seit dem 1. Februar 1995 bezieht er eine Altersrente.
Nachdem die Beklagte der Klägerin Gelegenheit gegeben hatte, zu der beabsichtigten Geltendmachung eines
Erstattungsanspruches gemäß § 128 AFG Stellung zu nehmen, teilte sie ihr durch Bescheid vom 12. September 1994
mit, die Klägerin sei dazu verpflichtet, der Bundesanstalt für Arbeit das an ihren ehemaligen Arbeitnehmer gezahlte
Arbeitslosengeld sowie die hierauf entfallenden Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung ab 1.
April 1994 für längstens 624 Tage zu erstatten. Umstände für den Nichtantritt der Erstattungspflicht gemäß § 128
Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 7 bzw. Abs. 2 Nr. 2 a AFG seien nicht ersichtlich. Trete hinsichtlich der festgestellten
Erstattungspflicht eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen ein, werde darüber in
einem besonderen Bescheid entschieden. Die fällig werdenden Erstattungsbeträge würden jeweils in gesonderten
Abrechnungsentscheidungen – bezogen auf den kalendermäßig abgelaufenen Zeitraum von 3 Monaten seit der
Entstehung des Erstattungsanspruches – mitgeteilt. Hiergegen legte die Klägerin am 20. Oktober 1994 Widerspruch
ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30. Dezember 1994 als unbegründet zurückwies.
Die Klägerin erhob daraufhin am 27. Januar 1995 Klage zum Sozialgericht Darmstadt. Sie machte geltend, die
Erstattungspflicht komme nicht zum Tragen, da der Befreiungstatbestand des § 128 Abs. 1 Ziff. 4 AFG gegeben sei.
Im übrigen berief sie sich auch auf den Befreiungstatbestand des § 128 Abs. 1 Ziff. 7 AFG.
Im Verlaufe des Klageverfahrens teilte die Beklagte der Klägerin dann mit, die Klägerin habe für den
Abrechnungszeitraum vom 1. April 1994 bis zum 31. Dezember 1994 insgesamt 35.108,09 DM (Arbeitslosengeld
24.142,80 DM, Beiträge zur Krankenversicherung 6.329,87 DM und Beiträge zur Rentenversicherung 4.635,42 DM) zu
erstatten (Bescheid vom 15. Februar 1995). Mit weiterem Bescheid vom 26. April 1995 machte die Beklagte auch die
Erstattung für die Zeit vom 2. Januar 1995 bis zum 31. Januar 1995 in Höhe von insgesamt 4.091,97 DM geltend.
Durch Urteil vom 24. Oktober 1995 hat das Sozialgericht die Abrechnungsbescheide vom 15. Februar 1995 und vom
26. April 1995 aufgehoben und die Klage im übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt,
die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide folge aus § 24 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch – (SGB
X).
Gegen dieses der Klägerin und der Beklagten jeweils am 23. Januar 1996 zugestellte Urteil richtet sich die von der
Beklagten am 9. Februar 1996 und von der Klägerin am 16. Februar 1996 bei dem Hessischen Landessozialgericht
eingelegte Berufung.
Die Beklagte vertritt die Auffassung, daß es sich bei den Abrechnungsbescheiden lediglich um die gesetzliche
Umsetzung des nach Anhörung ergangenen Grundbescheides handele. Eine wiederholte Anhörung sei deshalb nicht
erforderlich. Eine vorherige Mitteilung der für den Erstattungsbetrag maßgeblichen Berechnungskriterien im Rahmen
eines erneuten Anhörungsverfahrens könne auf den Abrechnungsbescheid auch keinen Einfluß haben, da die Klägerin
nicht dazu in der Lage sei, zu diesen Angaben fundiert Stellung zu nehmen.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 24. Oktober 1995 abzuändern, die Klage in
vollem Umfang abzuweisen sowie die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 24. Oktober 1995 abzuändern, den Bescheid der
Beklagten vom 12. September 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Dezember 1994 aufzuheben
sowie die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Sie macht geltend, aus dem Gesetzeswortlaut des § 128 AFG lasse sich herleiten, daß Aufhebungsverträge einer
sozial gerechtfertigten Kündigung gleichstünden. Es bestehe die dringende Notwendigkeit, eine ausgewogene
Altersstruktur bei der Belegschaft zu gewährleisten. Zu Unrecht gehe das Sozialgericht lediglich von einer
Amtsermittlungspflicht bei der Erstellung des Grundlagenbescheides aus.
Wegen des weiteren Sachvortrages der Beteiligten und des Sachverhalts im einzelnen wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der Verwaltungsakte Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung beider Beteiligter ist zulässig, denn sie ist jeweils form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft
(§§ 143, 151, 146 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung beider Beteiligter ist jedoch unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 24. Oktober 1995
ist im Ergebnis zu bestätigen, weil sich der Bescheid der Beklagten vom 12. September 1994 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 30. Dezember 1994 als rechtmäßig erweist. Der Abrechnungsbescheid vom 15.
Februar 1995 sowie der Abrechnungsbescheid vom 26. April 1995 sind demgegenüber rechtswidrig.
Vorab ist darauf hinzuweisen, daß die Abrechnungsbescheide vom 15. Februar 1995 und vom 26. April 1995 gemäß §
96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden sind. Nach der genannten Vorschrift wird, wenn nach
Klageerhebung der Verwaltungsakt durch einen neuen abgeändert oder ersetzt wird, auch der neue Verwaltungsakt
Gegenstand des Verfahrens. Entsprechendes gilt für das Berufungsverfahren (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 96 Abs. 1 SGG).
Daß die Abrechnungsbescheide vom 15. Februar 1995 und vom 26. April 1995 den früheren Bescheid (vom 12.
September 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Dezember 1994) abändern, ist angesichts der
weiten Auslegung des § 96 Abs. 1 SGG (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, § 96 Rdnrn. 4 und 5) nicht zu bezweifeln. Die
Vorschrift erfaßt auch Verwaltungsakte, die – ohne daß sie sich auf den Streitgegenstand im engeren Sinne beziehen
– im Rahmen eines Dauerschuldverhältnisses ergehen und das streitige Rechtsverhältnis für weitere Zeiträume
konkret regeln (vgl. BSGE 34, 255).
Der Bescheid vom 12. September 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Dezember 1994 beruht
auf der seit dem 1. Januar 1993 geltenden Neufassung des § 128 AFG. Danach ist der Arbeitgeber der Bundesanstalt
für Arbeit gegenüber zur Erstattung des Arbeitslosengeldes verpflichtet, wenn der Arbeitslose, der Arbeitslosengeld
erhält, bei ihm mindestens 720 Kalendertage beitragspflichtig beschäftigt war, diese Beschäftigung innerhalb einer
Frist von vier Jahren vor dem Tag der Arbeitslosigkeit lag und der arbeitslose frühere Arbeitnehmer zwischen 58 und
65 Jahren alt ist. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Regelung sind nicht ersichtlich. Das
Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 23. Januar 1990; BVerfGE, 81, 156) hält es für zulässig, daß bei einem
einvernehmlichen Ausscheiden von Arbeitnehmern ab Vollendung des 56. Lebensjahres der Arbeitgeber die
Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit zu erstatten hat. Der damit verfolgte gesetzgeberische Zweck, die sog.
Frühverrentung, zu verhindern, sei legitim, um eine vermehrte Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld und
Rentenleistung zu verhindern. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung hält das Bundesverfassungsgericht die
Erstattungszahlungen für zumutbar, weil der Arbeitgeber für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses allein
verantwortlich sei. Dies bedeutet, daß die Verantwortungsgemeinschaft, die mit dem Arbeitsverhältnis entstanden ist,
diese Belastung des Arbeitgebers rechtfertigt. Der Arbeitgeber hat durch den Abschluß der Ausscheidensvereinbarung
die wesentliche Ursache dafür gesetzt, daß Arbeitslosengeld beansprucht und damit das Sozialversicherungssystem
belastet wird. Zu den vom Gesetzgeber beachteten verfassungsrechtlichen Vorgaben zählt insbesondere nunmehr
auch, daß zu den Tatbestandsvoraussetzungen der Erstattungspflicht nach § 128 AFG das Fehlen eines Anspruchs
des Arbeitslosen auf eine anderweitige Sozialleistung gehört (§ 128 Abs. 1 Satz 2 AFG).
Das Fehlen der Voraussetzungen für den Bezug einer anderen Sozialleistung, bei deren Zuerkennung ein Anspruch
auf Auszahlung von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe bestehen würde, hat die Beklagte in bezug auf den
Bescheid vom 29. September 1994 in ausreichender Weise festgestellt und damit der ihr obliegenden
Amtsermittlungspflicht (§ 20 SGB X) genügt. Die Bundesanstalt für Arbeit hat – ausgehend von den Angaben des H.
im Antrag auf Arbeitslosengeld – keine Anhaltspunkte für das Bestehen eines Anspruchs auf eine anderweitige
Sozialleistung gefunden. Auch die Angaben des ehemaligen Arbeitnehmers der Klägerin lassen nicht den Schluß zu,
er erfülle die Voraussetzungen für eine der in § 118 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2–4 AFG genannten Leistungen oder für eine
Rente wegen Berufsunfähigkeit. Nur bei insoweit bestehenden Zweifeln wäre aber die Beklagte zu weitergehenden
Ermittlungen verpflichtet gewesen. Insbesondere ist sie nicht in jedem Falle dazu verpflichtet, sowohl den
Arbeitslosen, den Arbeitgeber und die Sozialversicherungsträger zu befragen. Dies wäre angesichts der der Beklagten
obliegenden Massenverwaltung kaum praktikabel und entspräche auch nicht den Intentionen des Gesetzgebers. Denn
im Regierungsentwurf der Neuregelung des § 128 AFG ist ausdrücklich festgelegt, daß die Bundesanstalt für Arbeit
eine weitergehende Feststellungspflicht nur dann treffe, wenn begründete Anhaltspunkte für einen anderen
Sozialleistungsanspruch sprächen. Die Voraussetzungen, etwa für die Erwerbsunfähigkeit des Arbeitslosen, seien
deshalb nicht in jedem Falle zu prüfen; es genüge, wenn sie im Zusammenhang mit der Prüfung des
Arbeitslosengeldes getroffen würden (BT-Drucks. 12/3211, S. 25). Für gesundheitliche Einschränkungen in der Person
des ehemaligen Arbeitnehmers hat schließlich auch das Bundesverfassungsgericht eine besondere Ermittlungspflicht
nur dann für geboten erachtet, wenn diesbezügliche Anhaltspunkte gegeben sind (BVerfGE a.a.O., 203).
Die Klägerin ist auch nicht aufgrund eines der übrigen in § 128 Abs. 1 Satz 2 AFG genannten Tatbestandes von der
Erstattungspflicht ausgenommen. Weder ist das Arbeitsverhältnis vor Vollendung des 56. Lebensjahres des H.
beendet worden noch hat die Klägerin nachgewiesen, daß einer der Fälle des Absatzes 1 Satz 2 Nrn. 1–7 von § 128
AFG gegeben ist. Die Klägerin beruft sich zwar auf § 128 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AFG, wonach die Erstattungspflicht
entfällt, wenn der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis durch sozial gerechtfertigte Kündigung beendet hat. Außerdem
beruft sie sich auf § 128 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 AFG, der die Erstattungspflicht ausschließt, wenn der Arbeitgeber bei
Beendigung des Arbeitsverhältnisses berechtigt war, das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund unter Einhaltung
einer Kündigungsfrist oder mit sozialer Auslauffrist zu kündigen. Diese Voraussetzungen sind aber nicht erfüllt. Das
zu H. bestehende Arbeitsverhältnis wurde nicht durch sozial gerechtfertigte Kündigung beendet, sondern durch einen
Aufhebungsvertrag. Außerdem ist nicht ersichtlich, daß die Klägerin zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses aus
wichtigem Grund berechtigt gewesen sein soll. Ihr Interesse an der Schaffung einer ausgewogenen Altersstruktur
jedenfalls rechtfertigt eine außerordentliche Kündigung nicht. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der vorliegenden
gebotenen verfassungskonformen Auslegung des Begriffs des wichtigen Grundes. Auch wenn Arbeitnehmer im
Rahmen eines Sozialplans "freigesetzt” werden, so beseitigt dies nicht die die Erstattungspflicht begründende
Verantwortung des Arbeitgebers für die Freisetzung des Arbeitnehmers und damit für die Aufwendungen der
Arbeitslosenversicherung. Dies gilt in jedem Fall dann, wenn der Arbeitnehmer – wie vorliegend – aus
gesundheitlichen Gründen nicht daran gehindert ist, die von ihm vertraglich übernommene Arbeit auf Dauer zu
verrichten.
Die Erstattungspflicht ist auch nicht nach § 128 Abs. 2 Nr. 2 AFG entfallen. Es ist nämlich nicht nachgewiesen, daß
die Erstattung für die Klägerin eine unzumutbare Belastung bedeuten würde, weil durch die Erstattung der Fortbestand
des Unternehmens oder die nach Durchführung des Personalabbaus verbleibenden Arbeitsplätze gefährdet werden.
Wenn die Klägerin, wie vorliegend, in der Lage gewesen ist, Abfindungen zu zahlen, kann auch erwartet werden, daß
sie ihrer Erstattungspflicht nach § 128 AFG nachkommt. Die "Freisetzung” älterer Arbeitnehmer mag zwar geeignet
sein, die Arbeitsplätze der jüngeren Arbeitnehmer der Klägerin zu sichern. Dies rechtfertigt die Anwendung der 2.
Alternative des Absatzes 2 von § 128 AFG jedoch nicht. Erst wenn die nach Durchführung des Personalabbaus
verbleibenden Arbeitsplätze durch die Erstattung des Arbeitslosengeldes gefährdet wären, könnte die die Klägerin
grundsätzlich treffende Erstattungspflicht entfallen. Dieser Ursachenzusammenhang zwischen Erstattung einerseits
und Arbeitsplatzgefährdung andererseits ist aber nicht nachgewiesen.
Die Bescheide vom 15. Februar 1995 und vom 26. April 1995 erweisen sich demgegenüber als rechtswidrig.
Gemäß § 42 Satz 2 i.V.m. Satz 1 SGB X kann derjenige, gegen den ein Verwaltungsakt erlassen worden ist, der in
seine Rechte eingreift, dessen Aufhebung – allein deshalb – beanspruchen, wenn und weil die nach § 24 SGB X
erforderliche Anhörung unterblieben ist und bis zum Abschluß des Vorverfahrens (§ 78 ff. SGG) oder, falls ein solches
nicht stattfindet, bis zur Erhebung der Klage nicht nachgeholt werden (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 SGB X). Diese –
in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfenden – Aufhebungsvoraussetzungen liegen vor, weil die
Beklagte die Klägerin entgegen ihrer gesetzlichen Obliegenheiten weder vor Erlaß des Bescheides vom 15. Februar
1995 noch vor Erlaß des Bescheides vom 26. April 1995 angehört hat. Die Beklagte hätte der Klägerin bereits vor
Erlaß der beiden streitigen Bescheide gemäß § 24 Abs. 1 SGB X Gelegenheit geben müssen, sich zu den für diese
Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Keiner Darlegung bedarf, daß die Bescheide vom 15. Februar 1995
und vom 26. April 1995 Verwaltungsakte sind, die in die Rechte der Klägerin eingreifen; insoweit liegt ein Eingriff in die
Berufsausübungsfreiheit der Klägerin (Artikel 12 Abs. 1 Grundgesetz) vor (Hessisches Landessozialgericht,
Beschluss vom 26. September 1995, L-10/Ar-1093/94 (A)). Demgemäß war die vorherige Anhörung "erforderlich” (§ 42
Satz 2 SGB X), hätte die Beklagte die Klägerin also mit der Erstattungsforderung nicht überraschen dürfen.
Entgegen ihrer im Berufungsverfahren vorgetragenen Auffassung war die Beklagte nicht befugt, die streitigen
Bescheide vom 15. Februar 1995 und vom 26. April 1995 ohne vorherige Anhörung zu erlassen.
Denn die vorherige Anhörung soll und muß dem Adressaten der Verwaltungsentscheidung ausreichende Gelegenheit
geben, durch sein Vorbringen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt jedenfalls das letzte Wort der Verwaltung
zur Sache zu beeinflussen. Hierzu ist es notwendig, daß der Verwaltungsträger die entscheidungserheblichen
Tatsachen dem Betroffenen in einer Weise unterbreitet, daß er sie als solche erkennen und sich zu ihnen – ggf. nach
ergänzenden Antragen bei der Behörde – sachgerecht äußern kann.
Die Beklagte hat jedoch der Klägerin bis zum Beginn des Rechtsstreits vor dem Sozialgericht nicht mitgeteilt, auf
welche Tatsachen sie die Entscheidung, sie müsse für den Gesamtzeitraum vom 1. April 1994 bis zum 31. Januar
1995 einen Erstattungsbetrag von insgesamt 39.200,06 DM entrichten, gestützt hat. Sie hat sich darauf beschränkt,
ihr ihre Rechtsauffassung mitzuteilen, aus § 128 AFG ergebe sich die Erstattungspflicht (Schreiben vom 4. Juli 1994).
Erforderlich wäre hingegen gewesen, der Klägerin alle entscheidungserheblichen Tatsachen mitzuteilen, also alle
Tatsachen, aus denen sie auf der Grundlage ihrer Rechtsansicht vom Inhalt der Regelung des § 128 AFG die in den
streitigen Bescheiden vom 15. Februar 1995 und vom 26. April 1995 verlautbarte Rechtsfolge ableiten wollte bzw.
hergeleitet hat.
"Entscheidungserheblich” im Sinne von § 24 Abs. 1 SGB X sind nämlich alle Tatsachen, die zum Ergebnis der
Verwaltungsentscheidung beigetragen haben, d.h. auf die sich die Verwaltung zumindest auch gestützt hat. Ist jedoch
– wie vorliegend – den der Klägerin aufgrund ihrer Akteneinsicht vom 9. November 1994 bekannten
Verwaltungsvorgängen überhaupt nicht zu entnehmen, von welchen Tatsachen die Behörde, die diese selbst erst am
14. Februar 1995 in vollem Umfang ermittelt hat, ausgegangen ist, beurteilt sich die Entscheidungserheblichkeit von
Tatsachen grundsätzlich nach Art und Inhalt des Verwaltungsaktes, d.h. die Rechtsauffassung der Behörde über den
Inhalt des anzuwendenden materiellen Rechts ist Verurteilungsmaßstab dafür, welche Tatsachen für den
Verwaltungsakt erheblich sind. Dementsprechend liegt eine Verletzung der Anhörungspflicht (§ 41 Abs. 1 Nr. 3, § 42
Satz 1 SGB X) immer dann vor, wenn der Verwaltungsträger auf der Grundlage seiner eigenen materiell-rechtlichen
Rechtsauffassung seiner Anhörungspflicht nicht folgerichtig nachkommt, in dem er etwa eine Tatsache, auf die es
nach seiner eigenen Rechtsansicht für die Entscheidung objektiv ankommt, für nicht entscheidungserheblich hält. So
verhält es sich im vorliegenden Fall: Die Beklagte war und ist der Rechtauffassung, sie müsse von der Klägerin den
geltend gemachten Erstattungsbetrag von insgesamt 39.200,06 DM auf der Grundlage des § 128 AFG fordern. Auf der
Grundlage dieser Rechtsauffassung ist nicht zweifelhaft, daß es für die Entscheidung der Beklagten, den oben
genannten Erstattungsbetrag in zwei getrennten Abrechnungsbescheiden geltend zu machen, objektiv erheblich war,
ob sowohl ab 1. April 1994 als auch ab dem Zeitpunkt des Erlasses der Abrechnungsbescheide vom 15. Februar 1995
und vom 26. April 1995 die Tatsachen vorlagen, von denen nach § 128 AFG eine Erstattungspflicht in der geltend
gemachten Höhe abhängt. Gleichwohl hat sie keine dieser Tatsachen als "entscheidungserheblich” im Sinne von § 24
Abs. 1 SGB X angesehen, jedenfalls der Klägerin keine Gelegenheit gegeben, sich hierzu zu äußern.
Abschließend sei darauf hingewiesen, daß die Beklagte selbst in anderen Verfahren zur gleichen Problematik unter
Beifügung der Berechnung der Höhe des Arbeitslosengeldes inklusive Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge vor
Erlaß der jeweiligen Abrechnungsentscheidung dem betreffenden Arbeitgeber Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben
hat. Mithin kann sie sich vorliegend nicht darauf berufen, die Anhörung bleibe eine "bloße Förmelei”.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG vorliegen; die Rechtssache hat
grundsätzliche Bedeutung.