Urteil des LSG Hessen vom 27.12.2010

LSG Hes: aufschiebende wirkung, rücknahme, vollziehung, beamtenverhältnis, entlassung, widerruf, eingliederung, verwaltungsakt, name, anfechtungsklage

Hessisches Landessozialgericht
Beschluss vom 27.12.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht Wiesbaden S 20 AS 750/10 ER
Hessisches Landessozialgericht L 9 AS 612/10 B ER
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 12. Oktober 2010 wird
zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten auch des
Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin mit dem sinngemäßen Antrag,
den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 12. Oktober 2010 hinsichtlich der Nr. 1 abzuändern und den Antrag
auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 2. September 2010 gegen den
Bescheid vom 20. August 2010 zurückzuweisen sowie als Folge dessen die unter Nr. 2 des Beschlusses
ausgesprochene Aufhebung der Vollziehung des Bescheides vom 20. August 2010 rückgängig zu machen,
ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat mit zutreffender Begründung festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers vom 2.
September 2010 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. August 2010, mit welchem diese dem
Antragsteller und den übrigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft die durch Bescheid vom 21. Juni 2010 für den
Zeitraum vom 7. Juni bis 31. Dezember 2010 bewilligte Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II) auf der Grundlage von § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) ab 1. September 2010
versagt hat, aufschiebende Wirkung hat und daher die Vollziehung des Bescheides vom 20. August 2010 aufzuheben
war. Der angefochtene Beschluss legt die gegebene Sach- und Rechtslage zutreffend dar, weshalb zur Vermeidung
von Wiederholungen insoweit auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Beschlusses gemäß § 142 Abs. 2 S. 3
Sozialgerichtsgesetz - SGG - Bezug genommen wird.
Die entgegenstehende, von der Antragsgegnerin in der Beschwerdebegründung vertretene Rechtsauffassung, wonach
Entscheidungen des Leistungsträgers im Rahmen des § 66 SGB I in entsprechender Anwendung des § 39
Sozialgesetzbuch II sofort vollziehbar seien, teilt der Senat nicht. Gemäß § 39 SGB II in der ab 1. Januar 2009
geltenden Fassung des Gesetzes zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 21. Dezember
2008 (BGBl. I, S. 2917) haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, 1. der Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitssuchende aufhebt, zurücknimmt, widerruft oder herabsetzt oder Leistungen zur
Eingliederung in Arbeit oder Pflichten des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen bei der Eingliederung in Arbeit regelt, 2. der
den Übergang eines Anspruchs bewirkt, 3. mit dem zur Beantragung einer vorrangigen Leistung oder 4. mit dem nach
§ 59 in Verbindung mit § 309 des Dritten Buches zur persönlichen Meldung bei der Agentur für Arbeit aufgefordert
wird, keine aufschiebende Wirkung. Die Versagung von Leistungen gemäß § 66 SGB I als Folge mangelnder
Mitwirkung wird von der Regelung schon dem Wortlaut nach nicht erfasst; die für die Rechtsfolge des Ausschlusses
der aufschiebenden Wirkung vorgesehenen Fallvarianten sind enumerativ und abschließend – nicht etwa exemplarisch
– aufgezählt (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 8. April 2010, L 7 AS 304/10 ER-B – juris -; a. A.: LSG
Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 8. März 2010, L 13 AS 34/10 B ER – juris -). Hieraus ist – wie auch das
Sozialgericht zutreffend angenommen hat - der Schluss zu ziehen, dass es sich bei der Leistungsversagung nicht um
einen Tatbestand handelt, der den für den Ausnahmefall vorgesehenen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung eines
eingelegten Rechtsmittels rechtfertigt. Eine entsprechende und damit den Geltungsbereich ausdehnende Anwendung
der Regelung auf den Tatbestand von Widerspruch und Klage gegen die vollständige Versagung von Leistungen
wegen Verletzung von Mitwirkungspflichten begegnet schon angesichts des Ausnahmecharakters der Regelung und
der gleichzeitig durch den Regelungsgehalt bewirkten Beschneidung von Rechten der eingangs (zumindest formal)
berechtigten Leistungsempfänger gravierenden Bedenken. Zudem ist die Versagung nach § 66 SGB I nicht auf die
Beseitigung des Anspruchs dem Grunde nach durch Entscheidung über die zugrundeliegenden
Anspruchsvoraussetzungen gerichtet (vgl. BSG vom 17. April 1986 – 7 RAr 91/84 – juris; BSG SozR 1200 § 66 Nr.
13). Der Leistungsanspruch bleibt in seinen begründenden Elementen – im Gegensatz zu Aufhebung, Rücknahme,
Widerruf oder Herabsetzung - unberührt, was schon daraus ersichtlich ist, dass die Versagung einer Leistung nicht in
Betracht kommt, wenn deren Voraussetzungen trotz fehlender Mitwirkung oder sogar absichtlicher Erschwerung der
Aufklärung nachgewiesen sind (vgl. Seewald: Kasseler Kommentar Band 1, § 66 SGB I, Rdnr. 23) und die versagten
Leistungen gemäß § 67 SGB I bei Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise nachträglich erbracht werden
können. Dass die bis 31. Dezember 2008 geltende frühere Fassung des § 39 Nr. 1 SGB II, wonach Widerspruch und
Klage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine
aufschiebende Wirkung haben, (vgl. für den Fall eines Sanktionsbescheides: Beschluss des erkennenden Senats
vom 12. März 2008, L 9 AS 335/07 ER) durch die Neufassung des Gesetzes eine Präzisierung und Erweiterung
dergestalt erhalten hat, dass nun - neben den in Korrespondenz zu den ausdrücklich in den §§ 44 ff. SGB X
verwendeten Begrifflichkeiten von Rücknahme und Widerruf - auch der Tatbestand der Versagung gemäß § 66 SGB I
in den Regelungsgehalt des § 39 Nr. 1 SGB II n. F. einbezogen ist, ist unter Beachtung des Gesetzesvorbehaltes und
des bereits dargelegten Ausnahmecharakters der Regelung gerade nicht anzunehmen. Die damit zu bestätigende
Feststellung des Sozialgerichts zum Bestehen der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 2. September
2010 bedingt gleichzeitig die Rückgängigmachung der Vollziehung des Bescheides.
Im Übrigen ist der Vollständigkeit halber darauf hinzuweisen, dass auch bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung der
Antragsgegnerin zu einer sofortigen Vollziehbarkeit des Versagungsbescheides kraft Gesetzes die Beschwerde ohne
Erfolg bliebe, da in diesem Fall die aufschiebende Wirkung des eingelegten Widerspruchs wegen offensichtlicher
Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 20. August 2010 anzuordnen gewesen wäre. Der Antragsteller war nämlich zu
der im Schreiben vom 16. Juli 2010 aufgeforderten Mitwirkung nicht im Sinne der §§ 60 ff. SGB I verpflichtet. Soweit
die Antragsgegnerin den Antragsteller mit Mitwirkungsaufforderung vom 16. Juli 2010 dazu aufgefordert hat, "eine
Kopie Ihrer Erklärung, mit der Sie die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis beantragt haben und Nachweise über
Ihre Bemühungen, die erfolgte Entlassung aus dem Beamtenverhältnis rechtlich überprüfen zu lassen (Name und
Anschrift des für Sie tätigen Anwalts und Vorlage des gesamten Schriftverkehrs in dieser Angelegenheit" vorzulegen
unter Androhung vollständiger Leistungsversagung, entbehrt dies jeder Rechtsgrundlage. Bei den von dem
Antragsteller geforderten Handlungen handelt es sich nämlich weder um die Angabe von für die Leistung erheblichen
Tatsachen im Sinne § 60 SGB I noch um die Aufforderung zu persönlichem Erscheinen (§ 61 SGB I), Unterziehung
erforderlicher ärztlicher Untersuchung, Heilbehandlung oder Teilhabemaßnahmen (§§ 62 bis 64 SGB I), mithin um
keine der gesetzlich zur Leistungsversagung legitimierenden Tatbestände.
Für den Fall der Annahme bestehender Nachrangigkeit der begehrten Leistung wegen anderweitiger Möglichkeiten der
Bedarfsdeckung (§ 2 SGB II) steht der Antragsgegnerin (lediglich) die bescheidmäßige Ablehnung des
Leistungsantrages zur Verfügung bzw. die Rücknahme des Bewilligungsbescheides nach den Regeln der §§ 45 ff.
SGB X, nicht dagegen die vollständige Versagung bereits bewilligter Leistungen gemäß § 66 SGB I.
Die Kostenentscheidung folgt dem Ausgang der Rechtssache in entsprechender Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.