Urteil des LSG Hessen vom 12.03.1980
LSG Hes: hotel, hinterbliebenenrente, ingenieur, kapitän, unfallversicherung, gespräch, unternehmen, abend, vertreter, versicherungsschutz
Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 12.03.1980 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel S 3 U 86/76
Hessisches Landessozialgericht L 3 U 1372/79
I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 18. Oktober 1979 aufgehoben und
die Bescheide vom 20. April 1976 und 24. Juni 1976 abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die
Hinterbliebenenrente in gesetzlichem Umfange zu gewähren.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin ist die Witwe des 1975 tödlich verunglückten Ehemannes E. K. H. (H.). Mit der Beklagten streitet sie um
die Gewährung der Hinterbliebenenrente.
Am 10. Juli 1975 zeigte die Firma A. B. (W. M., Nachfolger, Schiffsmakler, Reederei, H.) der Beklagten an, daß der
als 2. Ingenieur auf dem Motorschiff – MS – B. eingesetzte H. am 2. Juli 1975 in R. (B.) gegen 22.00 h tödlich
verunglückt sei. Der förmlichen Unfallanzeige war ein von dem Reiniger A. (A.), dem 1. Ingenieur M. (M.) und dem
Kapitän K. unterschriebener Bericht beigefügt. Danach hatte sich H. am Unfalltag gegen 18.00 h auf dem MS Baucis
bei M. zum Landgang abgemeldet, um in einem etwa 2 km entfernt gelegenen Hotel mit der Klägerin und einem
Vertreter der Reederei B. in Deutschland zu telefonieren. A. traf den H. in dem Hotel an diesem Abend an. Beide
verließen es zusammen gegen 21.55 h. Auf dem Wege zum MS Baucis wurden sie kurz danach von einem
Personenkraftwagen – Pkw – angefahren. H. verstarb an den Folgen der Unfallverletzung noch am Unfallort.
Mit formlosen Schreiben vom 20. April 1976 lehnte die Beklagte die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen ab, da
H. einem Unfall bei einem privaten Landgang, also auf einem versicherungsrechtlich ungeschützten Weg erlitten habe.
Gegen dieses Schreiben hat die Klägerin bei dem Sozialgericht Kassel – SG – am 27. April 1976 Klage erhoben und
geltend gemacht, daß ihr Ehemann H. bei einer gegen Arbeitsunfall versicherten Tätigkeit verunglückt sei. Die
Beklagte hat hierauf den förmlichen Ablehnungsbescheid vom 24. Juni 1976 erlassen und ausgeführt: Nach § 839
Reichsversicherungsordnung – RVO – seien Unfälle, die der Versicherte während pflichtwidriger Entfernung von Bord
oder außerhalb des Hafengebietes beim Landgang erleide, keine Arbeitsunfälle. Ein solcher privater Landgang habe
hier aber vorgelegen.
Das SG hat zunächst im Wege der Rechtshilfe durch die ersuchten Sozialgerichte H. und L. M. und dem Kapitän J.
M. (J. M.) als Zeugen gehört. Außerdem hat es die Auskünfte der Reederei L. vom 19. Januar 1977 und 17. April 1979
mit den schriftlichen Angaben das L. vor dem Kapitän L., dem 1. Offizier W. und dem leitenden Ingenieur W., K. auf
der MS W. vom 10. April 1979 beigezogen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme und der erteilten Auskünfte
wird auf diese sowie die Vornehmungsniederschriften der ersuchten Gerichte verwiesen. Sodann hat das SG die
Klage aus den Gründen der angefochtenen Bescheide am 18. Oktober 1979 abgewiesen.
Gegen dieses an sie mit Einschreiben am 24. Oktober 1979 abgesandte Urteil hat die Klägerin bei dem Hessischen
Landessozialgericht schriftlich am 23. November 1979 Berufung eingelegt. Sie bringt zu ihrer Begründung vor: Nach
dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, daß L. nicht nur aus privaten Gründen am Unfalltag an Land gegangen
sei. Er habe vielmehr im Auftrag des Zeugen H. wegen notwendiger Ersatzteile mit dem Zeugen J. M. in Deutschland
telefoniert. Der Landgang sei daher auch betrieblich bedingt gewesen und stelle sich daher als versichert dar. Daß H.
während der Zeit des Urteils auf das Telefonat in dem Hotel auch gegessen habe, sei für die Aufrechterhaltung des
Versicherungsschutzes rechtlich ohne Belehrung.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 18. Oktober 1979 aufzuheben sowie die Bescheide
der Beklagten vom 29. April 1976 und 24. Juni 1976 abzuändern und diese zu verurteilen, der Klägerin die gesetzliche
Hinterbliebenenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und macht nach wie vor geltend, daß H. auf dem Rückweg von einem
unversicherten privaten Landgang verunglückt sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Unfall- und Streitakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt (§ 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Gegenstand des Rechtsstreites sind das als Verwaltungsakt zu qualifizierende formlose Schreiben der Beklagten vom
20. April 1976 und der bereits im ersten Rechtszug nach § 96 SGG als mit der Klage angefochten geltende förmliche
Bescheid vom 24. Juni 1976. Mit diesen Bescheiden hat die Beklagte sämtliche Hinterbliebenenansprüche der
Klägerin abgelehnt, also neben der laufenden Hinterbliebenenrente (§§ 589 Abs. 1 Nr. 3, 590 RVO) auch die an sich
der Berufung nicht fähigen Ansprüche auf das Sterbegeld, evtl. entstandene Kosten der Überführung des
Verstorbenen an den Ort der Bestattung und die dreimonatige Überbrückungshilfe (§§ 589 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4, 591
RVO i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 SGG). Da die Klägerin jedoch nur die laufende Hinterbliebenenrente begehrt, ist die
Berufung mangels eines Berufungsausschließungsgrundes insoweit statthaft und daher insgesamt zulässig.
Sie ist auch begründet. Das auf die zulässige Klage ergangene sozialgerichtliche Urteil mußte aufgehoben werden, da
das SG diese zu Unrecht abgewiesen hat. Insoweit sind die Bescheide rechtswidrig. Die Klägerin hat Anspruch auf
die Gewährung der Hinterbliebenenrente, da H. am 2. Juli 1979 den Folgen eines Arbeitsunfalles erlegen ist (§ 548
RVO). Entgegen der Auffassung der Beklagten hatte er sich zur Unfallzeit weder von Bord pflichtwidrig entfernt noch
auf dem Rückweg von einem privaten Landgang befunden (§ 839 RVO).
Hierzu stellt der Senat nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens fest: H. war als 2. Ingenieur auf dem MS Baucis
am 2. Juli 1975 in R. angekommen. Er beabsichtigte, wegen seines Jahresurlaubs mit der Klägerin sowie wegen
seiner Heuer mit einem Vertreter der Reederei B. nach Deutschland zu telefonieren. Dies war von Bord aus nicht
möglich. Vielmehr bestand dazu die erste Gelegenheit in einem längstens zwei Kilometer vom Schiff entfernt
gelegenen Hotel. Deswegen meldete er sich bei dem 1. Ingenieur des MS Baucis, dem Zeugen N. abends gegen
18.00 h zum Landgang ab. Dieser trug ihm auf, bei der Reederei anzurufen und Ersatzteile für die Brennstoffpumpe
des Schiffs zu bestellen. H. bekam mit der Klägerin sofort telefonische Verbindung, aber nicht mit der Reederei. Er
verblieb im Hotel und erreichte von dort aus schließlich gegen 20.00 h den Zeugen J. M., an dem er seinen Auftrag
weitergab. Danach nahm er noch zusammen mit A. eine Mahlzeit ein. Gegen 21.55 h trat er mit diesem den Rückweg
an, auf dem er sodann etwa um 22.00 h bei einem Unfall mit einem Pkw tödlich verunglückte. Dieser Sachverhalt ist
aufgrund der glaubhaften Angaben der Klägerin, der Auskünfte der Firma B. und des A. sowie der Bekundungen der
Zeugen N. und J. M. erwiesen. Es steht fest, daß H. den dienstlichen Auftrag hatte, fernmündlich Ersatzteile zu
bestellen, und daß diese Bestellung von ihm auch gegen 20.00 h aufgegeben worden ist. Der Zeuge J. N. hat
bekundet, am Unfalltag erst nach 19.00 h erreichbar gewesen zu sein. A. erklärte am 10. April 1979 auf dem MS W.
vor dem Kapitän L. sowie des leitenden Ingenieur H. und dem 1. Offizier M. als Zeugen, daß H. gegen 20.00 h
telefoniert habe. Da er bereits zuvor mit der Klägerin ein Telefonat geführt hatte, kann es sich bei diesem Gespräch
entsprechend der Bekundungen des Zeugen J. M. nur um das mit diesem geführte Telefonat gehandelt haben. A. hat
ausdrücklich erklärt, daß H. auf ein Gespräch mit dem Schiffseigentümer gewartet habe. Der Senat hat keine Zweifel
an der Richtigkeit der Angaben des A. und verwertet diese im Wege des Urkundenbeweises (§ 118 Abs. 2 SGG i.V.m.
§ 415 ff. Zivilprozeßordnung), zumal sie mit den Bekundungen der Zeugen M. und J. M. sowie den Erstangaben in der
Unfallanzeige übereinstimmen. Die Beteiligten ziehen diesen festgestellten Sachverhalt nicht in Zweifel.
Danach stellt sich der Landgang des H. am Unfalltag als sogenannte gemischte Tätigkeit dar. Er diente einmal der
Absicht, ein Gespräch mit der Klägerin zu führen. Dieser Teil der Verrichtung ist, wie die Beklagte zutreffend meint,
der privaten Sphäre des H. zuzurechnen. Zum anderen hatte H. für die MS B. Ersatzteile zu beschaffen, so daß der
deswegen notwendigerweise zur Führung des erforderlichen Telefonats angetretene Weg in das längstens zwei
Kilometer von Bord entfernt gelegene Hotel ein Betriebsweg im Sinne von § 548 RVO war. M. bekundete
ausdrücklich, daß er die Ersatzteilbestellung bei J. M. am gleichen Abend selbst hätte vornehmen müssen, wenn
diese H. nicht hätte besorgen können. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – BSG – (vgl. BSG, Urt.
v. 21. August 1956 – 2 RU 129/54 – in E 3, 240; 30. Juli 1975 – 2 RU 3/73 – in E 40, 113), der sich der Senat stets
angeschlossen hat (vgl. Hess. LSG, Urt. v. 19. Dezember 1973 – L-3/U – 833/71 –), ist bei einer solchen
Untrennbarkeit des versicherten von dem unversicherten Teil der Tätigkeit der Versicherungsschutz zu bejahen, wenn
die Tätigkeit dem versicherten Zweig wesentlich dient; sie braucht ihm aber nicht überwiegend zu dienen. Ob das der
Fall ist, hängt davon ab, ob vorgesehene dienstliche Verrichtungen nicht nur gelegentlich eines nicht versicherten
Tätigwerdens stattfinden sollen, sondern nach ihrer Art und Weise sowie Dauer für das Unternehmen bedeutsam und
wichtig sind (vgl. auch Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 65 zu § 548 RVO sowie Anm. 6 zu § 550 RVO).
Nach den oben getroffenen Feststellungen war der Weg des H. von der MS B. wesentlich auch aus betrieblichen
Gründen angetreten worden, so daß er unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand. Da der Hin- und
Rückweg das gleiche rechtliche Schicksal teilen, war der Rückweg des H. von dem Hotel in R. zur MS B. am
Unfalltag ein geschützter Betriebsweg.
Hieran ändert nichts, daß er nach Beendigung des Telefonats mit dem Zeugen J. M. noch zusammen mit A. im Hotel
verblieb und eine Abendmahlzeit einnahm und es sich insoweit um eine unversicherte Tätigkeit handelte (vgl.
Lauterbach a.a.O., Anm. 47 zu § 548 RVO mit weiteren Nachweisen). Hierdurch ist für die Dauer der Einnahme der
Mahlzeit der Versicherungsschutz allenfalls unterbrochen gewesen. Auch stellt sich der danach gegen 21.55 h
angetretene Rückweg zur MS B. nicht als der unversicherte Weg von einer privaten Veranstaltung dar, da der
Zusammenhang mit dem Betrieb noch nicht gelöst war. Nach der Rechtsprechung des BSG (BSG, Urt. v. 25. Mai
1972 – 2 RU 1/71 – in SGB 1972, 439; 26. April 1976 – 2 RU 147/75 – in SozR 2200 § 550 Nr. 12 – Breith. 1976, 918
sowie 24. Februar 1977 – 8 RU 42/76 – in SozR 2200 § 550 RVO Nr. 27 – Breith. 1977, 883; 18. Dezember 1979 – 2
RU 53/78 –) tritt keine Lösung vom Unternehmen ein, wenn die Unterbrechung der versicherten Tätigkeit nicht mehr
als zwei Stunden andauert. Ein solcher Lösungstatbestand liegt hier nicht vor. Wie oben dargelegt, sieht der Senat als
erwiesen an, daß H. gegen 20.00 h für die MS B. fernmündlich Ersatzteile bestellt hatte und zusammen mit A. nach
Einnahme der Abendmahlzeit um 21.55 h den Rückweg antrat.
Stand H. mithin zur Unfallzeit unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, so hat die Beklagte der Klägerin
auch die gesetzlichen Hinterbliebenenleistungen zu gewähren. Da diese aber lediglich die Hinterbliebenenrente
begehrte, kann der Senat auch nur diese Leistungen zusprechen. Über die übrigen Hinterbliebenenansprüche wird die
Beklagte nach § 627 RVO zu entscheiden haben.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.