Urteil des LSG Hessen vom 09.03.2011

LSG Hes: flucht, verschlechterung des gesundheitszustandes, bedrohung, behandlung, trauma, serbien, minderung, angriff, erwerbsfähigkeit, anschluss

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 09.03.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 11 VG 26/07
Hessisches Landessozialgericht L 4 VE 14/10
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 18. März 2010 sowie der
Bescheid des Beklagten vom 29. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. August 2007
abgeändert. Der Beklagte wird verurteilt, bei der Klägerin ab 1. November 2005 eine protrahierte posttraumatische
Belastungsstörung mit schwerer ängstlich-depressiver Symptomatik als Schädigungsfolge anzuerkennen und
Versorgung nach einer MdE von 40 vom Hundert zu gewähren.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Die 1964 geborene Klägerin beantragte am 12. Februar 2005 Leistungen nach dem OEG wegen der gesundheitlichen
Folgen eines tätlichen Angriffs durch ihren geschiedenen Ehemann am 30. Dezember 2004. Infolge des Angriffs leide
sie an psychischen Störungen, Traumen, Angstattacken und Schmerzen im Nackenbereich.
Nach den hierzu getroffenen Feststellungen des Amtsgerichts – Schöffengericht – B Stadt war der geschiedene
Ehemann der Klägerin, nachdem er von einer neuen Partnerschaft der Klägerin erfahren hatte, am 30. Dezember 2004
gegen 22.00 Uhr gewaltsam in die Wohnung der Klägerin eingedrungen, in der sich zu diesem Zeitpunkt neben der
Klägerin eine Verwandte und der jüngere Sohn der Klägerin aufhielten. Der Täter trat und schlug die Klägerin
wiederholt, wodurch es zu multiplen Verletzungen im nahezu gesamten Körperbereich kam. Die anwesende
Verwandte der Klägerin wurde bei dem Versuch, der Klägerin zu Hilfe zu kommen, bewusstlos geschlagen.
Anschließend näherte sich der Täter der Klägerin, schrie, er werde jetzt ihr Blut fließen lassen, und stach mehrfach
mit einem Messer neben den Kopf der Klägerin in die Wand und in eine Tischplatte. Weitere Schläge folgten,
außerdem würgte der Täter die Klägerin auf dem Bett des älteren Sohnes liegend mit erheblicher Kraft, wodurch es zu
einem massiven Hämatom am Kehlkopf kam. Der Angriff konnte erst durch das Einschreiten der herbeigerufenen
Polizei beendet werden. Die Klägerin erlebte Todesangst und ihr Leben war konkret gefährdet. Wegen dieser Tat
wurde der geschiedene Ehemann der Klägerin im Urteil des Amtsgerichts vom 15. Juni 2005 wegen Bedrohung in
zwei Fällen, gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen und der gefährlichen Körperverletzung sowie des Widerstands
gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und sechs
Monaten verurteilt. Die Berufung des Täters verwarf das Landgericht Darmstadt mit Urteil vom 31. Oktober 2005.
In einem von dem Beklagten angeforderten Befundbericht teilte der Neurologe und Psychiater Dr. X. am 13. März
2006 mit, bei der Klägerin bestehe ein Angst- und Panikstörung sowie eine depressive Belastungsstörung nach
Tötungsversuch mit schwerer Körperverletzung. Der behandelnde Dipl.-Psych. QC. berichtete am 3. Juli 2006, die
Klägerin stehe bereits seit 10. Juni 2002 mit Unterbrechungen in seiner psychotherapeutischen Behandlung.
Ursprünglich sei die Behandlung bis Juni 2003 im Kontext des kurz vorangegangenen Todes beider Elternteile und
einer konflikthaften Ehesituation erfolgt. Der Behandlungsverlauf sei sehr positiv gewesen, die differenziert-
krankheitseinsichtige und engagierte Klägerin habe sich selbst um notwendige Veränderungen und Neuorientierungen
bemüht, innere Autonomie ausgebaut und alltagspraktisch realisiert (u. a. Berufsabschluss als Industriekauffrau im
Juli 2004 mit der Note "sehr gut"; danach Beginn des Aufbaus einer selbständigen beruflichen Tätigkeit trotz
Doppelbelastung als zweifache Mutter). Nach der Gewalttat sei die Klägerin Anfang 2005 wieder in seine Behandlung
getreten und habe sich zunächst relativ erfolgreich bemüht, die depressiven Reaktionen auf das erlittene Trauma zu
kompensieren; so sei es ihr ab April/Mai 2005 möglich gewesen, ihre Aktivitäten zur Entwicklung einer selbständigen
beruflichen Tätigkeit wieder aufzunehmen und durch Auslandsreisen den Grundstock für geeignete
Handelspartnerschaften zu legen. Kurz nachdem am 31. Oktober 2005 das Landgericht Darmstadt die Berufung des
geschiedenen Ehemanns der Klägerin verworfen habe, sei dieser nach Serbien geflüchtet. Hierauf sei die Klägerin
ausgeprägt depressiv dekompensiert mit Gewichtsverlust, Infektanfälligkeit, Energie- und Aktivitätseinbußen,
Erschöpfungszuständen, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen sowie einer pessimistisch-negativen
Grundstimmung bei tendenzieller emotionaler Vertaubung; begleitend seien auch wieder vermehrt Intrusionen des
erlebten Traumageschehens aufgetaucht. Dies verunmögliche es ihr, die schon weit fortgeschrittenen beruflichen
Projekte weiter zu verfolgen. Eine vollschichtige Berufstätigkeit sei derzeit nicht vorstellbar. Es liege eine protrahierte
posttraumatische Belastungsstörung mit schwerer ängstlich-depressiver Symptomatik, Erschöpfungszuständen und
Aktivitätsverlust vor.
Der Beklagte holte ein fachchirurgisches Gutachten von Dr. Y. ein, der im Gutachten vom 15. Januar 2007 ausführte,
seitens seines Fachgebietes seien keine Schädigungsfolgen verblieben. Der weitere von dem Beklagten beauftragte
neurologisch-psychiatrische Sachverständige Dr. S. kam in seinem Gutachten vom 12. Februar 2007 zu dem
Ergebnis, bei der Klägerin liege auf seinem Fachgebiet als Schädigungsfolge eine Anpassungsstörung vor, die mit
einer Einzel-MdE von 20 zu bewerten sei. Zwar habe auf psychiatrischem Gebiet ein Vorschaden im Sinne einer
bereits erfolgreich therapeutisch angegangenen ängstlich-phobischen Störung bestanden, deren Symptomatik jedoch
nicht der jetzigen Anpassungsstörung gleichgekommen sei.
Mit Bescheid vom 29. März 2007 erkannte der Beklagte als gesundheitliche Folge der Gewalttat vom 30. Dezember
2004 eine Anpassungsstörung an. Weitere Folgen einer schädigenden Einwirkung lägen nicht vor. Die Gewährung
einer Beschädigtenrente scheide aus, weil eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 25 v. H. nicht
vorliege. Den Widerspruch der Klägerin vom 11. April 2007 wies der Beklagte nach Einholung einer ergänzenden
Stellungnahme von Dr. S. vom 6. August 2007 mit Widerspruchsbescheid vom 27. August 2007 zurück.
Die Klägerin hat am 12. September 2007 Klage zum Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und unter Hinweis auf
den Befundbericht des behandelnden Dipl.-Psych. QC. die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach einem Grad
der Schädigung (GdS) von 40 begehrt.
Das Sozialgericht hat ein Gutachten bei dem Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. Dipl.-
Psych. C. in Auftrag gegeben, welches dieser am 6. März 2008 erstattet hat. Er kommt zu dem Ergebnis, entgegen
dem Gutachten von Dr. S. sei nicht von einer (bloßen) Anpassungsstörung auszugehen. Vielmehr sei eine protrahierte
posttraumatische Belastungsstörung mit schwerer ängstlich-depressiver Symptomatik nachweisbar. Nach der
Gewalttat werde zwar in der Folgezeit im Rahmen der Therapie zunächst eine Besserung mit Wiederaufnahme der
beruflichen Aktivitäten etwa ab Mai 2005 beschrieben, infolge der Flucht des geschiedenen Ehemannes und der damit
erneut implizierten Bedrohung sei es jedoch zu einem Rezidiv der für die posttraumatische Belastungsstörung
typischen Verhaltensmerkmale gekommen. Die MdE betrage 40 v. H. ab November 2005, dem Zeitpunkt der Flucht
des geschiedenen Ehemannes mit der Folge einer deutlich progredienten psychiatrischen Dekompensation der
Klägerin.
Der Beklagte ist dem unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. V. vom 9. Mai 2008
entgegengetreten, der u. a. vorgebracht hat, die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsreaktion seien nur
schwerlich nachvollziehbar begründet und die dargestellten, der psychischen Erkrankung zugeordneten körperlichen
Symptome könnten Folgen einer Anämie sein.
Das Sozialgericht hat hierauf eine ergänzende Stellungnahme bei Dr. C. vom 8. September 2008 eingeholt und ein
fachinternistisches Gutachten bei Dr. DS. veranlasst, welches dieser am 30. Mai 2009 erstattet hat. Dr. DS. führt aus,
aufgrund seiner ausführlichen internistischen Befunderhebung sei eine organische Ursache der beklagten
Beschwerden, insbesondere eine Eisenmangelanämie, auszuschließen. In Übereinstimmung mit Dr. C. sei für die Zeit
vom 30. Dezember 2004 bis 31. Oktober 2005 von einer Anpassungsstörung im Rahmen einer noch kompensierten
Phase auszugehen. Das zweite und für die Etablierung des posttraumatischen Belastungssyndroms entscheidende
Ereignis sei die Flucht des Täters gewesen, welche die Bedrohung für die Klägerin unberechenbar und ständig präsent
gemacht habe und zu einem Zusammenbruch der noch wenig gefestigten Bewältigungsstrategien geführt habe. Der
Gesamt-GdS sei in der Zeit vom 30. Dezember 2004 bis 31. Oktober 2005 mit 20 v. H. und ab dem 31. Oktober 2005
mit 40 v. H. einzustufen.
Mit Urteil vom 18. März 2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Selbst wenn man der Einschätzung des
Sachverständigen Dr. C. folge und von einem GdS von 40 ausgehe, fehle es an der erforderlichen Kausalität. Denn
nach den übereinstimmenden Gutachten sei nur ein Teil der psychischen Beschwerden auf die Gewalttat vom 30.
Dezember 2004 zurückzuführen. Eine MdE von 40 bestehe erst seit der Flucht des geschiedenen Ehemannes im
November 2005 und beruhe auf der Angst der Klägerin, dieser könne ihr erneut Gewalt antun. Die Flucht des
Ehemannes und nicht die Gewalttat vom 30. Dezember 2004 sei somit die entscheidende Ursache für die Ausweitung
der psychischen Störung der Klägerin. Zudem sei die Klägerin bereits seit Juni 2002 in ambulanter
psychotherapeutischer Behandlung bei dem Dipl.-Psych. QC. gewesen, so dass von einem entsprechenden
Vorschaden auszugehen sei, der nicht auf die Gewalttat zurückgeführt werden könne.
Gegen das am 14. April 2010 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 14. Mai 2010 Berufung eingelegt.
Die Klägerin meint, die Kausalitätsbetrachtung des Sozialgerichts sei unzutreffend. Vor der Tat habe kein relevanter
psychischer Schaden bestanden. Die Flucht des Ehemannes und die Ungewissheit über eine mögliche
Wiederbegegnung seien Folgen der Straftat, die damit die wesentliche Ursache für die jetzt noch bestehenden
gesundheitlichen Beeinträchtigungen sei.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 18. März 2010 sowie den Bescheid des
Beklagten vom 29. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. August 2007 abzuändern und den
Beklagten zu verurteilen, bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung mit schwerer ängstlich-
depressiver Symptomatik als Schädigungsfolge anzuerkennen und ihr ab 1.November 2005 Beschädigtenversorgung
nach dem Opferentschädigungsgesetz nach einer MdE von 40 vom Hundert zu gewähren.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend.
Der Senat hat ein Ergänzungsgutachten bei Dr. C. eingeholt, welches dieser nach erneuter ambulanter Untersuchung
der Klägerin am 14. November 2010 erstattet hat. Er führt aus, eine relevante Vorschädigung sei zu verneinen. Die
Klägerin habe bis zu der Gewalttat Anpassungsfähigkeit und psychische Stärke ohne Hinweis auf eine eigenständige
psychische Erkrankung gezeigt. Erst durch den brutalen körperlichen Übergriff im Dezember 2004 mit demonstrativem
Einsatz eines Messers mit Tötungsabsicht sei es zu einer psychotraumatologischen Störung gekommen, die von
einer ganz anderen Qualität gewesen sei als die früheren psychischen Belastungen durch Eheprobleme oder den
Verlust naher Angehöriger. Eine spezielle Prüfungsphobie, wie sie die Klägerin aus der Vorgeschichte erwähnt habe,
sei nur eine sehr spezielle Tatsache und stehe in keinem Vergleich mit dem maßgeblichen Trauma. Insgesamt sei der
Vorschaden mit weniger als 10 von 100 einzustufen. Der Auffassung, dass Auslöser der (erneuten) psychischen
Symptomatik im Oktober 2005 nicht die Gewalttat selbst, sondern die Befürchtung einer weiteren Gewalttat sei,
müsse angesichts der tatbegründenden Entwicklung unter Berücksichtigung der Handlungsweisen schwerstkrimineller
Täter widersprochen werden. Letztlich sei eine Fortsetzung der Gewalthandlungen nicht auszuschließen, weshalb die
begründete Erwartungsangst im vorliegenden Fall nicht von der ursprünglichen Tathandlung getrennt betrachtet
werden dürfe. Neuropsychologisch seien die Auswirkungen einer vitalen Bedrohung auf die Amygdalaregion des
Gehirns zu beachten. Dieser Hirnregion werde nach einer Traumatisierung eine wesentliche Auswirkung auf das
Erleben zugeschrieben. Ein massives Ansprechen der Amygdala könne auch durch ein antizipiertes Trauma (sehr
wahrscheinliche Wiederbegegnung mit dem Täter) zu vergleichbaren psychischen Reaktionen führen. Die aktuelle
psychiatrische Überprüfung belege anhand der Berichterstattung und der Verhaltensbeobachtung eine Reaktivierung
der psychotraumatologischen Folgen allerdings geringeren Ausmaßes, wobei durchaus Bewältigungsmechanismen
bestünden, die aber nicht die zentrale traumatische Erlebnisweise verhinderten. Es sei weiterhin von einer stärker
behindernden Störung mit einem GdB von 40 auszugehen.
Der Beklagte ist dem Gutachten unter Vorlage einer weiteren Stellungnahme von Dr. CV. vom 19. Januar 2011
entgegengetreten, der ausführt, dem Gutachten von Dr. C. sei klar zu entnehmen, dass die PTBS ohne die mögliche
Bedrohung durch den geflohenen Ehemann nicht mehr in relevantem Ausmaß bestehen würde. Die anerkannte
Schädigung nach dem Gewaltereignis vom 30. Dezember 2004 werde nun in ihrer Intensität durch eine mögliche
Bedrohung verstärkt, die nicht Schädigungsfolge sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der
Verwaltungsakte des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin hat auch in der Sache Erfolg. Das Urteil des Sozialgerichts kann nicht
aufrechterhalten bleiben. Die angegriffenen Bescheide des Beklagten sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in
ihren Rechten. Diese hat Anspruch auf Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung mit schwerer
ängstlich-depressiver Symptomatik als Schädigungsfolge und Gewährung einer Grundrente nach einer MdE von 40 ab
dem 1. November 2005.
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG hat Anspruch auf Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des
BVG, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen
seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Klägerin ist durch den vorsätzlichen, rechtswidrigen
tätlichen Angriff ihres geschiedenen Ehemannes am 30. Dezember 2004 gesundheitlich geschädigt worden, wie es
der Beklagte im Bescheid vom 29. März 2007 anerkannt hat. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts und des
Beklagten steht der Klägerin wegen der gesundheitlichen Folgen dieser Tat auch eine Grundrente zu.
Maßgeblich sind insoweit §§ 31 Abs. 1 und 2, 30 Abs. 1 BVG in der bis zum 21. Dezember 2007 geltenden Fassung,
da der Versorgungsanspruch der Klägerin vor diesem Datum eingetreten ist. Nach § 31 Abs. 1 BVG a. F. erhalten
Beschädigte bei einer MdE um mindestens 30 v. H. eine monatliche Grundrente. Die in Abs. 1 genannten
Vomhundertsätze stellen Durchschnittssätze dar; eine um fünf vom Hundert geringere Minderung der Erwerbsfähigkeit
wird von ihnen mit umfasst (Abs. 2). Gemäß § 30 Abs. 1 BVG ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit nach der
körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen; dabei sind seelische
Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen. Für die Beurteilung ist maßgebend, um wie viel die
Befähigung zur üblichen, auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben durch die als
Folgen einer Schädigung anerkannten Gesundheitsstörungen beeinträchtigt sind. Vorübergehende
Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen.
Durch das Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen
Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl. I S. 2904) ist der Begriff "Minderung der Erwerbsfähigkeit
(MdE)" durch die Bezeichnung "Grad der Schädigungsfolgen (GdS)" ersetzt worden. Mit der Änderung der
Begrifflichkeit hat der Gesetzgeber keine Änderung in der Sache beabsichtigt (vgl. Gesetzentwurf der
Bundesregierung, BR-Drucks. 541/07, S. 68, 80).
Als Grundlage für die Beurteilung der für die Bemessung der MdE erheblichen medizinischen Sachverhalte dienten in
der Vergangenheit die jeweils vom zuständigen Bundesministerium herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche
Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP), die nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als vorweggenommene Sachverständigengutachten eine normähnliche
Wirkung hatten (vgl. BSG v. 18. September 2003 - B 9 SB 3/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr. 3 m. w. N.). Diese sind auf
den vorliegenden Fall anzuwenden, da die auf der Grundlage von § 30 Abs. 17 BVG erlassene Versorgungsmedizin-
Verordnung (VersMedV), welche die AHP ersetzt hat, erst zum 1. Januar 2009 in Kraft getreten ist.
Nach Ziffer 26.3 AHP 2005 sind leichte psychovegetative oder psychische Störungen mit einer MdE von 0 bis 20 zu
bewerten. Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B.
ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit
Krankheitswert, somatoforme Störungen) werden mit einer MdE von 30 bis 40 bewertet.
Infolge des tätlichen Angriffs vom 30. Dezember 2004 bestand bei der Klägerin zunächst nur eine Anpassungsstörung
mit leichteren sozialen Schwierigkeiten, welche mit einer MdE von 20 zu bewerten war. Wie der Sachverständige Dr.
C. darlegt, war die Klägerin trotz der körperlichen und psychischen Folgen des brutalen Überfalls zunächst in der
Lage, mit psychotherapeutischer Hilfe das vorangegangene Trauma zu bewältigen, die Planung ihrer selbstständigen
Tätigkeit wieder aufzunehmen und hierzu Reisen vorzunehmen. Mit der Flucht ihres geschiedenen Ehemanns nach
Serbien im unmittelbaren Anschluss an das Berufungsurteil des Landgerichts Darmstadt vom 31. Oktober 2005 ist es
bei der Klägerin aber zu einer protrahierten posttraumatischen Belastungsstörung mit schwerer ängstlich-depressiver
Symptomatik gekommen, die als Folge der Gewalttat anzusehen und mit einer MdE von 40 v. H. zu bewerten ist.
Wie der Sachverständige Dr. C. in überzeugender Weise darlegt, zeigt die Entwicklung des Gesundheitszustands der
Klägerin nach der Flucht des geschiedenen Ehemannes einen schwerwiegenden Einbruch. Die Klägerin leidet, wie
sich aus der ausführlichen Schilderung des Dipl. Psych. QC. im seinem Befundbericht vom 3. Juli 2006 und den
Angaben der Klägerin bei ihrer Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. C. ergibt, seit dieser Zeit unter einer
ausgeprägten depressiven Dekompensation mit progredienten Gewichtsverlust und Infektanfälligkeit, Energie- und
Aktivitätseinbußen. Die Klägerin klagt glaubhaft über Erschöpfung mit Schlafstörungen, Verstärkung körperlicher
Krankheitssymptome, Magen-Darm-Probleme und Schlafstörungen, für die nach den Feststellungen des
internistischen Sachverständigen Dr. DS. körperliche Ursachen ausgeschlossen werden können; insbesondere hat
sich der Verdacht auf eine Eisenmangelanämie nicht bestätigt. Nach den Darlegungen des Sachverständigen Dr. C.
erfüllt diese Kombination von Schlafstörungen, Albträumen, hypochondrischer Angst und vermehrter Schreckhaftigkeit
bei wiederkehrenden Gefühlen der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung mit suizidalen Phantasien die Kriterien einer
posttraumatischen Belastungsstörung mit schwerer ängstlich-depressiver Symptomatik. Auch mehr als 6 Jahre nach
der Tat ist es dabei, wie sich aus den Nachuntersuchungsergebnissen von Dr. C. ergibt, bisher nicht zu einer
durchgreifenden Besserung gekommen. Zwar verfügt die Klägerin, wie die Befunderhebung des Sachverständigen
zeigt, mittlerweile über bessere Bewältigungsstrategien, es bestehen aber weiterhin Symptome einer
posttraumatischen Belastungsstörung mit klar abgrenzbarer Reaktivierung auf entsprechende Nachfragen. Die
Stimmung der Klägerin ist immer noch thematisch bezogen angespannt, affektlabil, ängstlich und sehr besorgt.
Körperliche Beschwerden wie Übelkeit, Magenbeschwerden und Kopfschmerzen schildert die Klägerin nach wie vor,
wobei Dr. C. die Berichterstattung als nachvollziehbar und plausibel bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist zu
berücksichtigen, dass es der Klägerin trotz ihrer beruflichen Qualifikation seit der Tat eine nachhaltige berufliche
Integration nicht mehr gelungen ist. Die Bemühungen um eine selbständige berufliche Existenz musste sie infolge der
Zunahme der gesundheitlichen Beschwerden nach der Flucht des Täters aufgeben. Derzeit arbeitet die Klägerin, wie
sie im Erörterungstermin am 18. August 2010 mitgeteilt hat, auf Minijob-Basis in einem Hotel als Rezeptionistin und
im Service und bezieht daneben Leistungen nach dem SGB II; ansonsten befindet sie sich in einem Projekt für
Kranke und Langzeitarbeitslose der ProArbeit B-Stadt. Insgesamt ist es daher überzeugend, wenn Dr. C. die MdE
weiterhin mit 40 v. H. bewertet. Auch der Beratungsarzt des Beklagten hat in seiner letzten Stellungnahme dagegen
keine Einwände mehr erhoben.
Dieser gesundheitliche Zustand ist kausal auf den tätlichen Angriff vom 30. Dezember 2004 zurückzuführen. Dabei
gilt im Bereich des OEG ebenso wie in der Kriegsopferversorgung die Ursachentheorie der "wesentlichen Bedingung".
Danach sind Ursachen die Bedingungen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt
wesentlich mitgewirkt haben. Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, sind sie versorgungsrechtlich
nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des
Erfolges annähernd gleichwertig sind. Kommt einem dieser Umstände gegenüber dem anderen eine überragende
Bedeutung zu, ist dieser Umstand Alleinursache im Sinne des BVG (Rohr/Sträßer/Dahm/Rauschelbach/Pohlmann,
BVG, § 1 Rdnr 9).
Zwar ist es zutreffend, wenn das Sozialgericht darauf hinweist, dass es durch die Flucht des geschiedenen
Ehemanns nach Serbien zu einer wesentlichen Verstärkung der psychischen Störung der Klägerin gekommen ist.
Hierdurch ist aber keine neue, eigenständige und von der ursprünglichen Tat getrennte Kausalkette in Gang gesetzt
worden, die unabhängig von dem tätlichen Angriff am 30. Dezember 2004 gesehen werden könnte. Das OEG
entschädigt die Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs wegen der gesundheitlichen und
wirtschaftlichen Folgen der Tat. Die auch von Seiten des Beklagten anerkannte gesundheitliche Schädigung, welche
die Klägerin durch die Tat erlitten hat, bestand in einer – wenngleich zunächst auch durch psychotherapeutische Hilfe
ausreichend kompensierten – ängstlich-depressiven Belastungsstörung. Der Klägerin gelang es jedoch im
unmittelbaren Anschluss an die Tat zunächst, das erlittene Trauma zu verdrängen, insbesondere durch die
Wiederaufnahme der Aktivitäten zur Entwicklung einer beruflichen Selbstständigkeit. Damit war die Tat jedoch
offensichtlich nicht bewältigt, sondern wurde in ihren gesundheitlichen Folgen lediglich beherrscht. Durch die Flucht
des geschiedenen Ehemannes Anfang November 2005 nach Serbien rückte dieses Geschehen für die Klägerin dann
wieder in den Vordergrund. Die Flucht des Täters war damit zwar der Auslöser für eine Verschlechterung des
Gesundheitszustands der Klägerin, nicht aber die Ursache einer neuen und von der Gewalttat unabhängigen
Gesundheitsstörung. Denn bei der Klägerin lag bereits vorher eine tatbedingte traumatische Störung vor. Sie litt, wie
Dipl. Psych. QC. eingehend beschrieben hat, schon vor der Flucht des Täters an (wenn auch leichteren)
Depressionen und Ängsten als Folge des lebensbedrohlichen Angriffs, die sich u.a. in häufigen spontanen Intrusionen
(also dem Wiedererleben der Tat) ausdrückten. Mit der Flucht des Täters aus Deutschland brachen dann die
Kompensationsmechanismen der Klägerin zusammen. Die Situation unterscheidet sich insoweit nicht von anderen
Fallgestaltungen, in denen für das Opfer die erneute Konfrontation mit der Tat und/oder dem Täter – etwa im Rahmen
einer Gerichtsverhandlung oder aus Anlass seiner Haftentlassung – zu einem Wiederaufleben oder einer Verstärkung
der durch die Tat verursachten psychischen Verletzung kommt, ohne dass hierin ein neues,
opferentschädigungsrechtlich relevantes Geschehen läge. Eine derartige Betrachtungsweise würde den Schutzzweck
des OEG verfehlen, welches auf einen Ausgleich der durch die Tat verursachten dauerhaften Gesundheitsstörungen
zielt und deshalb auch Verschlechterungen des durch die Tat bedingten Leidens entschädigt. Aus der
Kausalitätsbetrachtung scheiden daher nur solche von außen kommenden Ursachen aus, die mit der ursprünglichen
Schädigung in keinem Zusammenhang stehen (Kunz/Zellner/Gelhausen/Weiner, Kommentar zum OEG, 5. Aufl.,
Anhang I Rn. 28 m. w. N.). Die Flucht des Täters vor der Strafvollstreckung ist jedoch von der ursprünglichen Tat
nicht zu trennen und die hierdurch verursachte Zunahme von Angst und Depression bei der Klägerin eine ebenso
nachvollziehbare wie kausal auf die Tat zurückzuführende Folge.
Daher geht auch die Stellungnahme des Beratungsarztes Dr. CV. fehl, die posttraumatische Belastungsstörung würde
ohne die mögliche Bedrohung durch den geflohenen Ehemann nicht mehr in relevantem Ausmaß bestehen. Mit dieser
Auffassung verkennt Dr. CV. den Entschädigungsgedanken des OEG. Das Gesetz entschädigt für die
gesundheitlichen Folgen, wie sie bei dem Opfer aufgrund der Tat eingetreten sind. Dazu gehört aber auch eine durch
die Tat ausgelöste nachvollziehbare Angst vor möglichen Wiederholungen. Dass die psychischen Leiden der Klägerin
möglicherweise geringer wären, wenn es den Täter nicht mehr gäbe, ist hypothetisch und lässt den durch die Tat
entstandenen Versorgungsanspruch der Klägerin nicht entfallen. Für die Kausalitätsbetrachtung ist maßgeblich, dass
der heutige Gesundheitszustand der Klägerin ohne die Tat nicht denkbar wäre und durch das nachfolgende
Geschehen lediglich akzentuiert worden ist.
Der gesundheitliche Schaden der Klägerin ist nicht wegen eines Vorschadens niedriger zu bewerten. Der
dahingehende Hinweis des Sozialgerichts, dass die Klägerin bereits seit Juni 2002 in psychotherapeutischer
Behandlung bei Dipl. Psych. QC. gestanden hat, trägt diese Annahme nicht. Wie Dr. C. zu Recht ausführt, gibt es
keinen Anhaltspunkt für eine ernsthafte psychische Erkrankung der Klägerin vor dem schädigenden Ereignis. Die
verhaltenstherapeutische Behandlung bei Dipl. Psych. QC. erfolgte zwischen Juni 2002 und Juni 2003 wegen des
kurz vorangegangenen Todes beider Elternteile und einer konflikthaften Ehesituation, fern wegen einer seit 10 Jahren
bestehenden, spezifischen sozialen Phobie (Prüfungsangst), die zum damaligen Zeitpunkt allerdings subakut war. Der
Behandlungsverlauf war nach Mitteilung von Dipl. Psych. QC. sehr positiv, die differenziert- krankheitseinsichtige und
engagierte Klägerin hatte sich selbst um notwendige Veränderungen und Neuorientierungen bemüht, innere Autonomie
ausgebaut und alltagspraktisch realisiert (u. a. Berufsabschluss als Industriekauffrau im Juli 2004 mit der Note "sehr
gut"; danach Beginn des Aufbaus einer selbständigen beruflichen Tätigkeit trotz der zusätzlichen Belastung als
zweifache Mutter). Angesichts dessen ist Dr. C. zuzustimmen, dass die Klägerin vor der Gewalttat
Anpassungsfähigkeit und innere Stärke ohne Hinweis auf eine eigenständige psychische Erkrankung gezeigt hat.
Die Versorgung ist ab dem 1. November 2005 zu leisten. Nach § 60 Abs. 1 S. 1 BVG beginnt die
Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat.
Vorliegend waren die Anspruchsvoraussetzungen zugunsten der Klägerin im November 2005 erfüllt. Denn das für den
Eintritt der protrahierten posttraumatischen Belastungsstörung maßgebliche Ereignis war die Flucht des Ehemannes
nach Serbien im unmittelbaren Anschluss an das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 31. Oktober 2005. Hiervon
hat die Klägerin, wie sich aus ihren Angaben bei den Sachverständigen ergibt, kurz darauf erfahren, was Auslöser der
Verschlechterung des Gesundheitszustandes war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Gründe für die Zulassung der Revision lagen nicht vor.