Urteil des LSG Hessen vom 10.03.1999

LSG Hes: wiedereinsetzung in den vorigen stand, berufungsfrist, arbeitslosenhilfe, telefon, beurkundung, absicht, versicherung, verschulden, auflage, sorgfaltspflicht

Hessisches Landessozialgericht
Beschluss vom 10.03.1999 (rechtskräftig)
Sozialgericht Marburg S 5 AL 764/96
Hessisches Landessozialgericht L 6 AL 1593/98
Der Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist wird
zurückgewiesen.
Tatbestand:
I
Mit Urteil vom 29. September 1998 hat das Sozialgericht Marburg die Klage des Klägers gegen die Bescheide der
Beklagten vom 4. September 1996 und vom 24. September 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.
November 1996 abgewiesen. Mit den angefochtenen Bescheiden hatte die Beklagte die Bewilligung von
Arbeitslosenhilfe für die Zeit ab 1. Januar 1994 aufgehoben und den gewährten Betrag in Höhe von DM 30.856,70
sowie Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von DM 11.521,99 zurückgefordert, da der Kläger im Antrag auf
Arbeitslosenhilfe das Vorhandensein eines bebauten Grundstückes nicht als Vermögen angegeben habe, das der
Gewährung von Arbeitslosenhilfe entgegengestanden habe.
Das Urteil wurde dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 10. Oktober 1998 gegen Empfangsbekenntnis
zugestellt.
Mit am 16. November 1998 bei dem Sozialgericht Marburg zugegangenem Schreiben vom 14. November 1998 hat der
Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der versäumten Berufungsfrist beantragt, sowie mit Schreiben
vom 15. November 1998 Berufung eingelegt. Der Kläger trägt vor, er habe Mitte Oktober 1998 extra aus der Türkei bei
seinem Prozeßbevollmächtigten angerufen, damit dieser die Berufung einlege. Dieser habe ihn jedoch am Telefon
dahingehend falsch verstanden, daß keine Berufung eingelegt werden solle. Anläßlich einer Besprechung in einer
Strafsache am 14. November 1998 habe er von seinem Prozeßbevollmächtigten erfahren, daß dieser aufgrund des
Mißverständnisses am Telefon keine Berufung eingelegt habe. Eine Nachfrage seines Prozeßbevollmächtigten am
Telefon habe sich deshalb erübrigt, weil diesem zum damaligen Zeitpunkt nichts unklar gewesen sei. Es habe deshalb
auch keine Veranlassung zur vorsorglichen fristwahrenden Berufungseinlegung bestanden. Derartige Irrtümer könnten
im übrigen jedermann unterlaufen, unabhängig davon, ob es sich um eine rechtskundige oder weniger rechtskundige
Person handele. Da die für die Reparatur erforderliche Wochenfrist im Anschluß an die für die Einlegung der Berufung
maßgebliche Frist nicht verstrichen gewesen sei, solle dem Wiedereinsetzungsantrag stattgegeben werden.
Der Kläger hat eine eigene eidesstattliche Versicherung vom 14. November 1998 sowie eine dienstliche Erklärung
seines Prozeßbevollmächtigten vom selben Tag vorgelegt.
Der Kläger beantragt sinngemäß, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der versäumten Berufungsfrist zu
gewähren.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, den Antrag zurückzuweisen.
Die Beklagte trägt vor, es lägen keine Gründe für eine Wiedereinsetzung vor. Bei dem dargestellten
Verständigungsversehen sei die zumutbare Sorgfalt offensichtlich nicht in ausreichendem Maße angewendet worden.
Der Prozeßbevollmächtigte als rechtskundige Person habe bei der telefonischen Erörterung bei der Frage, ob ein
Rechtsmittel eingelegt werden solle oder nicht, bei dem Kläger nachfragen müssen, um eine eindeutige Antwort auf
diese Frage zu bekommen, zumal es bei diesem Telefongespräch, wie der Rechtsanwalt selbst darstelle, zu
Störungen und kurzzeitigen Unterbrechungen gekommen sei. Das Mandantengespräch oder die Beurkundung, in der
sich der Prozeßbevollmächtigte nach seiner Darstellung während des Ferngesprächs mit dem Kläger befunden habe,
hätte auch noch etwas länger unterbrochen werden können, um durch eine ggf. nochmalige Rückfrage eine eindeutige
und klar verständliche Aussage des Klägers, ob er den Rechtsstreit fortsetzen wolle oder nicht, zu erreichen. Bei allzu
schlechter Tonqualität hätte ggf. auch eine vorsorgliche Einlegung des Rechtsmittels zur Fristwahrung in Betracht
gezogen werden können.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
II
Der Kläger hat die einen Monat betragende Berufungsfrist, § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), versäumt. Durch
die Zustellung des Urteils am 10. Oktober 1998 war Fristbeginn der 11. Oktober 1998, § 187 Bürgerliches Gesetzbuch
(BGB), und Fristende der 10. November 1998, § 188 Abs. 2 BGB. Die am 16. November 1998 bei dem Sozialgericht
Marburg eingegangene Berufung war damit verspätet.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war zurückzuweisen, da der Kläger nicht ohne Verschulden
verhindert war, die Berufungsfrist einzuhalten, § 67 SGG. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat nicht diejenige
Sorgfalt angewendet, die einem gewissenhaften Prozeßführenden nach den gesamten Umständen nach allgemeiner
Verkehrsanschauung vernünftigerweise zuzumuten ist (BSG Urteil vom 31.3.1993 – 13 RJ 9/92 = BSGE 72, 158).
Dabei ist das Verschulden des Prozeßbevollmächtigten dem Kläger in vollem Umfang zuzurechnen (vgl. Meyer-
Ladewig, SGG, 6. Auflage, § 67, RdNr. 3b). Nach der eidesstattlichen Versicherung des Klägers vom 14. November
1998, mit der dieser auf den Schriftsatz seines Prozeßbevollmächtigten vom selben Tag Bezug nimmt, hat der Kläger
aus der Türkei bei seinem Prozeßbevollmächtigten extra angerufen, damit dieser die Berufung einlegt. Nach der
dienstlichen Erklärung des Prozeßbevollmächtigten des Klägers befand sich dieser gerade in einem
Mandantengespräch oder einer Beurkundung und hatte wenig Zeit für eine umfassende telefonische Erörterung.
Erschwerend kam hinzu, daß sich das Telefonat "von weit her” anhörte, weil es zu Störungen und kurzzeitigen
Unterbrechungen kam. Unter diesen Umständen genügte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers der ihm
zuzumutenden Sorgfaltspflicht nicht, wenn er am Ende des Gesprächs auf den Hinweis des Klägers, daß sicherlich
Berufung eingelegt werden solle, diesen dahin verstanden hat, daß wir sicher nicht Berufung einlegen, ohne sich durch
eine oder zwei Rückfragen von der tatsächlichen Absicht des Klägers zu vergewissern, ggf. auch durch die
wiederholte und vereinfachte Alternative: "Berufung – ja oder nein –”. Soweit der Prozeßbevollmächtigte vorträgt, daß
sich eine Nachfrage erübrigt habe, da ihm zum damaligen Zeitpunkt nichts unklar gewesen sei, verkennt dies den
Umfang der von ihm zu erwartenden Sorgfalt. Es gehört zu der von einem Rechtsanwalt zu erwartenden Sorgfalt,
wenn er bei einem technisch unvollkommenen Auslandstelefonat mit einem türkischen Mandanten, bei dem es um die
wichtige Frage der Berufungseinlegung bei laufender Berufungsfrist geht, besondere Vorkehrungen zu treffen, um
Mißverständnisse zu vermeiden (vgl. BGH 8.7.1981 – IVb ZB 654/80 = Juris Dokument BORE 932468152). Wenn der
Prozeßbevollmächtigte das Gefühl hatte, daß er für eine umfassende telefonische Erörterung zu wenig Zeit hatte, weil
er sich in einem Mandantengespräch oder einer Beurkundung befand, wie er selbst angibt, hätte er mit dem Kläger ein
zweites Telefonat zu einem günstigeren Zeitpunkt verabreden oder diesen fragen müssen, ob er noch vor Ablauf der
Berufungsfrist zu einer Besprechung in seine Praxis kommen könne. Zu einem sorgfältigeren Vorgehen hätte sich der
Prozeßbevollmächtigte des Klägers nicht nur wegen des hohen Streitwertes von ca. 42.000,– DM, sowie der nicht
einfach zu beurteilenden Sach- und Rechtslage und damit der Erfolgsaussicht der Berufung gedrängt fühlen müssen,
sondern auch von der Tatsache, daß der Kläger von sich aus die Initiative ergriffen und bei ihm angerufen hatte mit
der Absicht der Berufungseinlegung.
Soweit der Kläger darauf hinweist, daß die Fristüberschreitung noch nicht einmal eine Woche betrage, rechtfertigt dies
die Wiedereinsetzung nicht (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl., § 67 RdNr. 3).