Urteil des LSG Hessen vom 14.02.2003

LSG Hes: stationäre behandlung, witwenrente, berufskrankheit, minderung, drittwirkung, krankenkasse, einführungsgesetz, begriff, verfahrensablauf, entschädigung

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 14.02.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 8 U 4745/99
Hessisches Landessozialgericht L 11/3 U 1188/00
Bundessozialgericht B 2 U 15/03 R
I. Auf die Berufung der Klägerin wird die Beklagte unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts
Frankfurt am Main vom 26. Juli 2000 verurteilt, an die Klägerin 3.467,63 DM an Lebzeitenrente und 19.052,82 DM an
Witwenrente zu erstatten.
II. Die Beteiligten haben einander Kosten nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist eine Erstattungsforderung im Streit. Dabei geht es um die Frage der Anwendung der
Ausschlussfrist des § 111 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch: Verwaltungsverfahren (SGB X).
Die Klägerin gewährte dem 1929 geborenen ehemaligen Schmied und Werkzeugmacher H. R. mit Bescheid vom 11.
März 1988 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. November 1987 sowie mit Bescheid vom 30. Juni 1994
Regelaltersrente ab 1. September 1994. Nach dem Tod des Versicherten am 14. Juli 1997 gewährte sie dessen Witwe
U. R. auf deren Antrag vom 31. Juli 1997 hin mit Bescheid vom 22. August 1997 ab 1. August 1997 die große
Witwenrente.
Am 4. Juli 1997 war bei der Beklagten ein Antrag auf Anerkennung einer Berufskrankheit eingegangen, dem die
Beklagte nach Abschluss der Ermittlungen mit Bescheid vom 23. April 1999 stattgab; sie errechnete für die Zeit vom
16. April 1997 bis zum 31. Juli 1997 einen Gesamtbetrag von 11.214,39 DM an Lebzeitenrente und mit weiterem
Bescheid vom 23. April 1999 gewährte sie der Hinterbliebenen ab dem Todestag Hinterbliebenenrente. Am 30. April
1999 gingen Abschriften der Bescheide der Beklagten bei der Klägerin ein. Die Klägerin berechnete die von ihr
gezahlten Renten wegen Zusammentreffens mit den Renten der Beklagten neu und beantragte bei dieser am 11.
August 1999 die Erstattung von 36.794,46 DM an überzahlter Witwenrente. Mit Schreiben vom 12. August 1999 teilte
sie der Beklagten mit, die Berechnung der Versichertenrente für den Verstorbenen verzögere sich noch etwas, es
werde darum gebeten, den Nachzahlungsbetrag in Höhe von 11.214,39 DM noch nicht auszuzahlen, die Beklagte
werde unaufgefordert den Erstattungsanspruch erhalten. Mit Schreiben vom 9. September 1999 forderte die Beklagte
die Klägerin auf, den Erstattungsanspruch unter Berücksichtigung der Vorschrift des § 111 SGB X erneut zu beziffern.
Mit Schreiben vom 13. September 1999 übersandte die Klägerin der Beklagten daraufhin ihren Bescheid vom 23. Juli
1999 über die Neuberechnung der Rente und bat um Überweisung der Überzahlung in Höhe von 36.794,46 DM. Mit
Schreiben vom 29. September 1999 teilte die Beklagte der Hinterbliebenen die Erstattungsforderung der Klägerin
hinsichtlich der Witwenrente mit. Mit Schreiben vom 4. November 1999 machte die Klägerin die Erstattung von
3.467,63 DM an überzahlter Lebzeitenrente geltend. Mit Schreiben vom 12. November 1999 teilte die Beklagte der
Klägerin zu dem Erstattungsanspruch vom 23. Juli 1999 über 36.794,46 DM mit, dieser sei am 11. August 1999
eingegangen und im Hinblick auf § 111 SGB X sei der Anspruch der Klägerin auf Erstattung für die Zeit vor dem 11.
August 1998 somit gemäß § 111 SGB X grundsätzlich ausgeschlossen. Da am 11. August 1998 die Witwenrente für
den Monat August 1998 ausgezahlt gewesen sei, werde der Erstattungsanspruch für die Zeit vom 1. August 1998 bis
31. Mai 1999 in Höhe von 13.619,10 DM beglichen. Für die Zeit vom 1. Juni 1999 bis 31. August 1999 sei der
Hinterbliebenen bereits die ungekürzte Witwenrente gemäß § 65 Abs. 2 Nr. 3 SGB VII gezahlt worden, so dass für
diesen Zeitraum keine Erstattung erfolgen könne. Mit Schreiben vom 3. Dezember 1999 teilte die Beklagte der
Hinterbliebenen mit, dass die Klägerin bei ihr einen Erstattungsanspruch in Höhe von 3.467,63 DM auf den im
Bescheid über Rente als vorläufige Entschädigung einer Berufskrankheit vom 23. April 1999 genannten
Nachzahlungsbetrag in Höhe von 11.214,39 DM geltend gemacht habe; der Restbetrag von 7.746,76 DM werde auf
deren Konto überwiesen. Mit Schreiben vom 2. Dezember 1999 lehnte sie gegenüber der Klägerin die Erstattung
gestützt auf § 111 SGB X ab.
Am 31. Dezember 1999 erhob die Klägerin beim Sozialgericht Frankfurt am Main (SG) bezüglich des
Witwenrentenbetrages Klage (Az.: S 8 U 4745/99) und am 19. Januar 2000 erhob sie Klage im Hinblick auf die
Lebzeitenrente (Az.: S 8 U 214/00). Aufgrund eines zur Klagesache S 8 U 214/00 gehörenden Schriftsatzes wurde
seitens des SG darüber hinaus eine Klageakte zum Az.: S 8 U 1051/00 angelegt. Mit Beschluss vom 25. Juli 2000
hat das SG die Verfahren unter dem führenden Az.: S 8 U 4745/99 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung
verbunden. Mit Gerichtsbescheid vom 26. Juli 2000 wies das SG die Klage ab. Der Klägerin stehe kein
Erstattungsanspruch auf die geltend gemachte Forderung zu, da er nicht spätestens 12 Monate nach Ablauf des
letzten Tages, für den die Leistungen erbracht worden seien, geltend gemacht worden sei. Auf die
Entscheidungsgründe im Einzelnen wird Bezug genommen.
Gegen dieses ihr am 29. August 2000 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 18. September 2000 Berufung eingelegt.
Die Berufung sei zulässig, weil der Streitwert den Grenzbetrag von 10.000 DM übersteige. Zur materiellen Rechtslage
vertritt die Klägerin die Auffassung, dass Grundlage für den Erstattungsanspruch in Fällen wie dem vorliegenden
richtigerweise der § 103 SGB X sein müsse, wobei die anders lautende Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes
(BSG) widersprüchlich sei. Die Anwendung des § 103 SGB X sei auch deshalb geboten, weil der Erstattungsanspruch
dadurch zustande komme, dass sowohl die Leistung des Unfallversicherungsträgers als auch die des
Rentenversicherungsträgers auf derselben Bedarfssituation beruhten, nämlich der Minderung des Leistungsvermögens
im Rentenrecht bzw. der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Unfallrecht. Durch die Leistungsgewährung seitens des
Unfallversicherungsträgers und die Anrechnung nach § 93 SGB VI entfalle die Leistung des
Rentenversicherungsträgers teilweise nachträglich. Hierbei handele es sich nicht um eine Einkommensanrechnung,
sondern um die (teilweise) Verdrängung wegen gleichartiger Leistungen. § 104 SGB X hingegen sei dann anzuwenden,
wenn aufgrund verschiedener Bedarfssituationen verschiedene Leistungen von Sozialversicherungsträgern gewährt
würden, welche in einem Verhältnis von Vorrangigkeit und Nachrangigkeit stünden. Die nachrangigen Sozialleistungen
seien der Höhe nach dabei regelmäßig einkommensabhängig. Zudem gelte nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X dessen
Erstattungsregelung nur dann, wenn nicht die Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 SGB X vorlägen. Bei der
Entscheidung des 8. Senats im Urteil vom 29. April 1997 ( 8 RKn 29/95) handele es sich ohnehin nur um ein obiter
dictum und nicht um tragende Teile der Begründung. Wegen des anzuwendenden § 103 SGB X könne auch das Urteil
des 2. Senats des BSG vom 19. März 1996 (2 RU 22/95) nicht greifen, auf welches sich der Standpunkt der
Beklagten gründe. Zwar habe das BSG mit Urteil vom 23. September 1997 (2 RU 37/96) seine Auffassung zur
Rechtslage des Anspruchsbeginns erneuert, jedoch gingen diese Urteile für den Fall der Anwendung des § 103 SGB X
ins Leere. Widersprüchlich sei im Übrigen auch die Rechtsprechung des BSG zwischen dem 9., dem 7. und dem 2.
Senat, denn in den Urteilen vom 25. Juli 1997 (9/9 a RV 35/91) und vom 25. Januar 1994 (7 RAr 42/93) werde
ausgeführt, dass der Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X dem Grund und der Höhe nach von einem Bescheid des
erstattungspflichtigen Leistungsträgers abhängig sei, während der 2. Senat der Auffassung sei, dass
Erstattungsansprüche wie Sozialleistungen gemäß § 40 Abs. 1 SGB I entstünden. Auch die Voraussetzungen für das
Entstehen des Erstattungsanspruchs umfassten alle Tatbestandsmerkmale, wobei bei dem Begriff "Anspruch" der
materiell-rechtliche Anspruch erst durch den Leistungsbescheid des erstattungspflichtigen Leistungsträgers entstehe,
was sich aus der Tatbestands- bzw. Drittwirkung von Verwaltungsakten nach § 31 SGB X ergebe. Aus alldem folge,
dass nach der Rechtsprechung des 2. Senats des BSG der erstattungspflichtige Leistungsträger durch seinen
Verfahrensablauf seine Erstattungspflichten manipuliere. Zu Recht habe demgegenüber der 1. Senat des BSG im
Urteil vom 23. Februar 1999 die einjährige Ausschlussfrist des § 111 SGB X für einen Sfeträger, der anstelle der
vorrangig zuständigen Krankenkasse für die Kosten der stationäre Behandlung eines Versicherten aufkam, frühestens
mit der Erteilung der Kostenzusage des Sozialhilfeträgers an das Krankenhaus beginnen lassen.
Die Klägerin beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 26. Juli 2000 aufzuheben
und die Beklagte zur Zahlung von 3.467,63 DM an Lebzeitenrente und von 19.052,82 DM an Witwenrente zu
verurteilen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Im weiteren Verlauf haben die Beteiligten noch widerstreitend zu der Normänderung des § 111 Satz 2 sowie der
Übergangsregelung des § 120 Abs. 2 SGB X durch das 4. Euro-Einführungsgesetz vom 21. Dezember 2000 (BGBl. I
S. 1983) Stellung genommen.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der
Beteiligten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist gemäß § 144 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, da die Erstattungsforderung
vorliegend 10.000 DM übersteigt. Mehrere Ansprüche auf Geldleistungen sind dabei zusammenzurechnen (vgl. Meyer-
Ladewig, SGG - Kommentar, 7. Aufl., München 2002, § 144 Rdnr. 16 f - m.w.N.).
Die Berufung ist auch begründet, denn der Anspruch auf Erstattung war nicht gemäß § 111 SGB X ausgeschlossen,
weil vorliegend nach Überzeugung des Senats § 120 SGB X in der Fassung des 4. Euro-Einführungsgesetzes vom
21. Dezember 2000 in Verbindung mit § 111 Satz 2 SGB X zur Anwendung kommen. Gemäß § 111 Satz 2 beginnt
der Lauf der Ausschlussfrist frühestens mit dem Zeitpunkt, zu welchem der erstattungsberechtigte Leistungsträger
von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat.
Diese Vorschrift ist gemäß § 120 Abs. 2 SGB X auf die Erstattungsverfahren anzuwenden, die am 1. Juli 2000 noch
nicht abschließend entschieden waren. Damit hat der Gesetzgeber hinreichend deutlich gemacht, dass die Regelung
hinsichtlich des Vollzugs der Änderung des § 111 SGB X eine verwaltungsökonomische Abwicklung der
Erstattungsverfahren gewährleisten soll, indem alle noch nicht abgewickelten Fälle nach dem neuen Recht zu
beenden sind. Da vorliegend über genau diese Frage gestritten wird und dieser Streit noch nicht rechtskräftig
entschieden wurde, findet diese Norm nach Auffassung des Senats deshalb Anwendung mit der weiteren
Konsequenz, dass die Ausschlussfrist zum Zeitpunkt der Erstattungsforderung der Klägerin noch nicht abgelaufen
war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.