Urteil des LSG Hessen vom 09.06.1980

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Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 09.06.1980 (rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt S 3 Ar 181/76
Hessisches Landessozialgericht L 10/1 Ar 794/78
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 13. Juni 1978 dahingehend
abgeändert, daß das zu zahlende Arbeitslosengeld auf der Grundlage einer Wochenarbeitszeit von lediglich 20
Stunden zu bemessen ist und im übrigen die Klagen abgewiesen werden.
II. Die Berufung der Beklagten wird im übrigen zurückgewiesen.
III. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
IV. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt ist, dem Kläger das Arbeitslosengeld zu versagen, weil er
aus gesundheitlichen Gründen der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehe.
Der 1924 geborene Kläger leidet von Kindheit an an einer diffusen Hirnschädigung, die zu geistiger Behinderung und
einer schweren Sprachstörung führte. Er war seit 1968 jeweils während der Sommer- und Herbstmonate bei der
Gemeinde M. beschäftigt, die ihn für Mäh- und Wegearbeiten in ihrer Feldgemarkung einsetzte. Vor seiner
Arbeitslosmeldung am 2. Dezember 1975 war er zuletzt vom 21. Mai 1975 bis 26. November 1975 bei der Gemeinde
beschäftigt, wobei Beiträge zur Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung an die Allgemeine Ortskrankenkasse
D. abgeführt wurden. Den Antrag des Klägers auf Arbeitslosengeld lehnte das Arbeitsamt D. im Verwaltungs- und
Vorverfahren mit Bescheid vom 9. Januar 1976 (Bl. 8 der Leistungsakte) und Widerspruchsbescheid vom 3. August
1976 (Bl. 15–17 der Leistungsakte) mit der Begründung ab, der Kläger stehe der Arbeitsvermittlung im Sinne des §
103 Abs. 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) nicht zur Verfügung, da er aus gesundheitlichen Gründen nur an seinem
Wohnort arbeiten könne, wo jedoch Arbeitsplätze, die für ihn in Betracht kämen, nicht in nennenswertem Umfang
vorhanden seien.
Gegen diese Entscheidung erhob der Kläger vor dem Sozialgericht Darmstadt am 30. August 1976 Klage (S-3/Ar –
181/76).
In der Zeit vom 1. Juni 1976 bis 15. Dezember 1976 war der Kläger erneut als Gemeindearbeiter bei der Gemeinde M.
beschäftigt. Seinen am 7. Januar 1977 gestellten Antrag auf Arbeitslosengeld lehnte die Beklagte durch Bescheid
vom 29. August 1977 (Bl. 25 der Leistungsakte) und Widerspruchsbescheid vom 26. Oktober 1977 (Bl. 27–29 der
Leistungsakte) gleichfalls unter Hinweis auf die fehlende Verfügbarkeit des Klägers ab. Auch hiergegen hat der Kläger
am 21. November 1977 beim Sozialgericht Darmstadt Klage erhoben (S-3/Ar – 252/77), die das Sozialgericht mit
Beschluss vom 18. April 1978 mit der Streitsache S-3/Ar – 181/76 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung
verbunden hat.
Mit seinen Klagen machte der Kläger geltend, er sei bereit, jede ihm zumutbare Arbeit anzunehmen. Er stehe auch
außerhalb seiner saisonbedingten Beschäftigung bei der Gemeinde M. von Dezember bis April dem Arbeitsmarkt zur
Verfügung. Bis zum Tode seines Vaters im November 1974 sei er in den Monaten, in denen er nicht bei der Gemeinde
beschäftigt gewesen sei, im elterlichen landwirtschaftlichen Nebenerwerbsbetrieb tätig gewesen.
Die Beklagte bezog sich auf ein Gutachten des leitenden Arztes des Landesarbeitsamtes Hessen, nach dem der
Kläger auf Grund anlagebedingten Schwachsinns nicht in der Lage sei, ohne Begleitung öffentliche Verkehrsmittel zu
benutzen, bzw. sich außerhalb seines Wohnortes zu Recht zu finden. Wegen seiner geistigen Behinderung sei der
Kläger nur in der Lage, unter Anleitung einfache Arbeiten in ihm vertrauter örtlicher Umgebung zu verrichten, wenn
dabei auf seine intellektuelle Leistungsminderung Rücksicht genommen werde. An seinem Wohnort seien aber
Arbeitsplätze, die seiner eingeschränkten Leistungsfähigkeit entsprächen, nicht in nennenswertem Umfange
vorhanden. Er stehe daher der Arbeitsvermittlung im Sinne des § 103 AFG nicht zur Verfügung, so daß der Anspruch
auf Arbeitslosengeld nicht gegeben sei.
Das Sozialgericht hat Auskünfte der in M. ansässigen Firmen L., G. und G. hinsichtlich der Anforderungen eingeholt,
die an ungelernte Arbeitskräfte zu stellen seien. Wegen des Inhalts der Auskünfte wird auf Bl. 21–23 der Gerichtsakte
verwiesen. Das Sozialgericht hat ferner Beweis erhoben über das gesundheitliche Leistungsvermögen des Klägers
durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens durch die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie
Dr. med. W. S ... Die untersuchende Ärztin kam in ihrem Gutachten vom 3. März 1978 zu dem Ergebnis, der Kläger
sei nur in der Lage, einfachste körperliche Arbeiten unter ständiger Anleitung und Beaufsichtigung auszuführen. Er sei
nicht wettbewerbsfähig und sei im freien Arbeitsleben nicht einsatzfähig. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf
das Gutachten Bl. 32–43 der Gerichtsakte Bezug genommen.
Mit Urteil vom 13. Juni 1978 hob das Sozialgericht Darmstadt den Bescheid der Beklagten vom 9. Januar 1976 in
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 1976 sowie den Bescheid vom 29. August 1977 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 26. Oktober 1977 auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger gemäß seinen Anträgen
vom 2. Dezember 1975 und 7. Januar 1977 Arbeitslosengeld in gesetzlichem Umfang auf der Grundlage einer
Wochenarbeitszeit von 40 Stunden zu zahlen. In den Entscheidungsgründen führte das Gericht aus, dem Kläger
stehe Arbeitslosengeld in Anwendung der sogenannten Nahtlosigkeitsregelung des § 103 Abs. 1 S. 1 – 2. Halbs.,
Abs. 2 S. 1 und S. 2 AFG zu. Nach dieser Regelung gelte auch ein Antragsteller, dessen Leistungsvermögen, wie das
des Klägers gänzlich aufgehoben erscheine, bis zur Entscheidung des zuständigen Rentenversicherungsträgers über
die Frage der Berufsunfähigkeit als verfügbar. Auch in Fällen, in denen das Leistungsvermögen nicht im Sinne des §
1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) herabgesunken sei, sondern niemals vorhanden gewesen sei,
könne auf die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers nicht verzichtet werden. Das Sozialgericht ließ die
Berufung zu.
Gegen dieses ihr am 21. Juni 1978 zugestellte Urteil richtet sich die am 20. Juli 1978 beim Hessischen
Landessozialgericht eingegangene Berufung der Beklagten. Sie vertritt die Auffassung, der Kläger könne der
sogenannten Nahtlosigkeitsregelung im Sinne des § 103 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 a in Verbindung mit Abs. 2 AFG n.F.
entgegen der vom Sozialgericht vertretenen Rechtsauffassung nicht untergeordnet werden. Sein Leistungsvermögen
sei zwar durch eine seit frühester Kindheit bestehende psychische Beeinträchtigung auf einfachste Arbeiten
beschränkt, jedoch könnten diese Tätigkeiten vollschichtig ausgeführt werden. Die Erwerbsfähigkeit des Klägers sei
nicht, wie es § 1246 Abs. 2 RVO voraussetze, herabgesunken, sondern sei niemals vorhanden gewesen. Derartige
Fälle würden jedoch von der sogenannten Nahtlosigkeitsregelung nicht erfaßt. Zwar besitze der Kläger durchaus
Leistungsvermögen – er könne sogar ganztägig arbeiten – auf dem für ihn erreichbaren Arbeitsmarkt seien jedoch
nicht genügend Arbeitsplätze vorhanden, die er auf Grund seiner Behinderung ausfüllen könne. Deshalb stehe er für
eine Vermittlung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht zur Verfügung, so daß keine
Voraussetzung für den Bezug von Arbeitslosengeld gemäß § 100 Abs. 1 AFG nicht erfüllt sei. Da die geistige
Behinderung des Klägers keine Herabsetzung seines Leistungsvermögens ergebe, sondern von vornherein eine
Einschränkung auf bestimmte Tätigkeiten bestanden habe, könne die Fiktion des § 103 Abs. 2 AFG zu seinen
Gunsten nicht eingreifen. Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld sei darüber hinaus auch deshalb nicht gegeben, weil der
Kläger die Anwartschaftszeit im Sinne des § 104 Abs. 1 AFG nicht erfüllt habe. Die Beschäftigungsverhältnisse bei
der Gemeinde M. hätten nämlich gemäß § 169 Nr. 4 AFG nicht der Beitragspflicht zur Bundesanstalt für Arbeit
unterlegen, weil der Kläger wegen einer Minderung seiner Leistungsfähigkeit dauernd der Arbeitsvermittlung nicht zur
Verfügung gestanden habe.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 13. Juni 1978 aufzuheben und die Klagen
abzuweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß) die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger verweist auf die Mäh- und Grabenreinigungsarbeiten, die er in den zurückliegenden 11 Jahren ohne
Beanstandungen ausgeführt habe. Er sei arbeitswillig und habe ein Recht entsprechend seinen körperlichen
Fähigkeiten zu arbeiten.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im übrigen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie
auf den gesamten Inhalt der Gerichtsakten und der Leistungsakte der Beklagten – Stamm-Nr. xxxxx – Bezug
genommen, die beigezogen war.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist durch Zulassung in jedem Fall statthaft.
Die Berufung ist im wesentlichen unbegründet. Sie kann nur insoweit Erfolg haben, als das Sozialgericht die Beklagte
verurteilt hat, das Arbeitslosengeld nach einer Zahl von 40 Wochenstunden zu bemessen. Zu Recht ging das
Sozialgericht davon aus, daß die Anspruchsvoraussetzungen des § 100 AFG für den Anspruch auf Arbeitslosengeld
zugunsten des Klägers vorliegen, wobei die Verfügbarkeit nach § 103 Abs. 2 AFG bis zur Entscheidung des
Rentenversicherungsträgers über das Vorliegen von Berufsunfähigkeit beim Kläger zu fingieren ist. Der Ansicht der
Beklagten, der Kläger besitze noch ein für eine vollschichtige Tätigkeit ausreichendes Leistungsvermögen und stehe
nur deshalb der Arbeitsvermittlung nach § 103 Abs. 1 AFG in der Fassung des Gesetzes vom 25. Juni 1969 (BGBl. I
582); (vom 1. Januar 1976 an i.d.F. des Haushaltsstruktur-Gesetzes vom 18. Dezember 1975 (BGBl. I 3113), die sich
durch den in Klammer gesetzten Zusatz unterscheidet), nicht zur Verfügung, weil auf dem für ihn erreichbaren
Arbeitsmarkt Arbeitsplätze, für die er in Betracht käme, nicht in nennenswertem Umfang vorhanden seien, kann nicht
gefolgt werden. Nach § 103 Abs. 1 AFG steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer 1. eine (zumutbare)
Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann und darf sowie 2.
bereit ist, jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen, die er ausüben kann. Während an der subjektiven
Verfügbarkeit – dem Arbeitswillen – des Klägers nicht zu zweifeln ist, hängt die objektive Verfügbarkeit insbesondere
davon ab, ob er über ein hinreichendes Leistungsvermögen verfügt. Ein hinreichendes Leistungsvermögen ist
gegeben, wenn die körperlichen und geistigen Kräfte des Arbeitslosen unter Berücksichtigung etwaiger psychischer
Beeinträchtigungen für eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen auf dem für ihn erreichbaren Arbeitsmarkt
ausreichen. Dies ist bei dem Kläger nach dem Ergebnis des vom Sozialgericht eingeholten neurologisch-
psychiatrischen Gutachtens vom 3. März 1978 nicht der Fall. Danach leidet der Kläger an einer angeborenen oder in
frühester Kindheit erworbenen diffusen Hirnschädigung, welche mit einem Schwachsinn mittleren Grades und einer
schweren Artikulationsstörung einhergeht. Nach den Feststellungen der Gutachterin ist er nur in der Lage, einfachste
körperliche Arbeiten unter ständiger Anleitung und Beaufsichtigung auszuführen. Er ist nicht wettbewerbsfähig und im
freien Arbeitsleben nicht einsatzfähig. Aufgrund dieser psychischen Behinderungen ist der Kläger nicht in der Lage,
einer Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen. Dem steht nicht die Tatsache entgegen, daß
ihn die Gemeinde M. seit 1968 jeweils in der Sommersaison zu Mäh- und Grabenreinigungsarbeiten heranzieht. Diese
Beschäftigung läßt nicht auf eine vollschichtige Arbeitsfähigkeit schließen, da die Beschäftigung in einer dem Kläger
von Kindheit an vertrauten Umgebung unter weitgehender Rücksichtnahme auf seine Behinderung erfolgt, die auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt nicht üblich ist. Obwohl der Kläger vergönnungsweise von der Gemeinde M. beschäftigt
wird, liegt bei ihm auf Grund seiner psychischen Behinderung eine weitgehende Leistungsminderung vor, die seinem
Einsatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entgegensteht. Gleichwohl kann der Anspruch des Klägers auf
Arbeitslosengeld nicht wegen mangelnder Verfügbarkeit verneint werden, weil die Ablehnung von Arbeitslosengeld
wegen einer Leistungsminderung eine Entscheidung des Rentenversicherungsträgers über das Vorliegen von
Berufsunfähigkeit voraussetzt (§ 103 Abs. 2 AFG). Dies gilt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts,
auch dann, wenn der Antragsteller nicht einmal mehr eine geringfügige Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt ausüben
kann (vgl. Urteil des BSG vom 26. Mai 1977 – 12 RAr 13/77 – SozR 4100, § 103 Nr. 4; vgl. hierzu auch BSG vom
7.8.1969 – 7 RAr 70/78 und 7 RAr 45/78). § 103 Abs. 1 S. 2, 2. Halbs., Nr. 1 AFG (jetzt § 103 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 a
AFG i.d.F. des HStruktG vom 18.12.1975 – BGBl. I 3113) ist danach so zu verstehen, daß bei einer Einschränkung
der Leistungsfähigkeit auf Beschäftigungen unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze Verfügbarkeit nur dann zu verneinen
ist, wenn "mindestens Berufsunfähigkeit” vorliegt. Dies bedeutet, daß auch Fälle völliger Leistungsunfähigkeit, wie sie
nach den ärztlichen Feststellungen beim Kläger gegeben ist, mit erfaßt werden. Durch die in § 103 Abs. 2 AFG für
diesen Fall vorgesehene Einschaltung des Rentenversicherungsträgers soll vermieden werden, daß divergierende
Entscheidungen zu Lasten des Versicherten getroffen werden. § 103 Abs. 2 AFG sieht demgemäß vor, daß die
Entscheidung, ob Berufsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung vorliegt, der zuständige
Rentenversicherungsträger im Wege der Amtshilfe trifft. Bis zur Entscheidung gilt der Arbeitslose als nicht
berufsunfähig. Diese materielle Fiktion der Leistungsfähigkeit greift auch zugunsten des Klägers ein, da die Beklagte
eine Entscheidung des Rentenversicherungsträgers nicht eingeholt hat. Der Einwand der Beklagten, der Fall des
Klägers unterscheide sich von einem echten Nullfall dadurch, daß die psychische Beeinträchtigung des Klägers
bereits seit frühester Kindheit vorliege, so daß seine Erwerbsfähigkeit nicht im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO
herabgesunken, sondern niemals vorhanden gewesen sei, vermag nicht durchzugreifen. Sinn und Zweck der Fiktion
des § 103 Abs. 2 AFG ist es nämlich, unterschiedliche Auffassungen zweier Leistungsträger über das Vorliegen von
Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zu vermeiden. Deshalb ist in § 103 Abs. 2 AFG dem Rentenversicherungsträger die
alleinige Entscheidungskompetenz für alle Fälle einer Leistungsminderung, die die Geringfügigkeitsgrenze
unterschreiten, zugewiesen worden. Damit wird insbesondere dem Umstand Rechnung getragen, daß es regelmäßig
im Voraus schwer, eindeutig zu beurteilen ist, ob die Leistungsgrenzen der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit
unterschritten sind. Hierzu zählt nicht zuletzt die Frage, ob die Erwerbsfähigkeit des Versicherten in Folge von
Krankheit oder anderer Gebrechen oder Schwäche der körperlich oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte
derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung, gleichwertigen Kenntnissen
und Fähigkeiten im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO herabgesunken ist. Auch hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals
des "Herabsinkens” soll eine einheitliche Bewertung dadurch erreicht werden, daß die Entscheidung hierüber gemäß §
103 Abs. 2 AFG allein dem zuständigen Rentenversicherungsträger vorbehalten bleibt. Dies bedeutet, daß auch im
Fall des Klägers, die Nahtlosigkeitsregelung des § 103 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 a in Verbindung mit Abs. 2 AFG n.F. eingreift
und bis zur Entscheidung des Rentenversicherungsträgers ein Leistungsvermögen oberhalb der
Berufsunfähigkeitsgrenze fingiert wird.
Die Beklagte kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, daß der Kläger die Anwartschaftszeit im Sinne von § 104
Abs. 1 AFG nicht erfüllt habe, weil die Beschäftigungsverhältnisse bei der Gemeinde M. seit 1968 nicht der
Beitragspflicht zur Bundesanstalt für Arbeit gemäß § 169 Nr. 4 AFG unterlägen hätten. Nach § 168 Abs. 1 AFG sind
beitragspflichtig Personen, die als Arbeiter oder Angestellte gegen Entgelt oder zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt
sind (Arbeitnehmer), soweit sie nicht nach § 169 oder einer Rechtsverordnung nach § 173 Abs. 1 beitragsfrei sind. Die
Beschäftigung des Klägers bei der Gemeinde M. war nicht durch § 169 Nr. 4 AFG von der Beitragspflicht
ausgenommen. Nach dieser Vorschrift sind beitragsfrei Arbeitnehmer, die wegen einer Minderung ihrer
Leistungsfähigkeit dauernd der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehen (§ 103 Abs. 1 AFG). Auch hinsichtlich
einer etwaigen Beitragsfreiheit des Klägers ist die Einschaltung des zuständigen Rentenversicherungsträgers gemäß
§ 103 Abs. 2 AFG zur Frage notwendig, ob er berufsunfähig im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung ist oder
nicht, so daß für die hier strittigen Beschäftigungsabschnitte von der Voraussetzung seiner Verfügbarkeit im Sinne
des § 103 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 in Verbindung mit Abs. 2 S. 2 AFG in der Fassung des Gesetzes vom 25. Juni 1969
(BGBl. I 582) auszugehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 15. November 1979 – 7 RAr 75/78 ). Dies hat das
Bundessozialgericht unter Hinweis auf die enge Verknüpfung der Vorschriften der §§ 169 Nr. 4 und 103 Abs. 1 AFG
zutreffend festgestellt und darauf hingewiesen, daß die Beitragsfreiheit wegen dauernder Nichtverfügbarkeit im Sinne
des § 169 Nr. 4 AFG denselben Kriterien unterliegt, wie die Verfügbarkeit oder Nichtverfügbarkeit in § 103 AFG als
Voraussetzung eines Leistungsanspruchs auf Arbeitslosengeld. Die Annahme der Beitragsfreiheit einer Beschäftigung
gemäß § 169 Nr. 4 AFG setzt demgemäß die Feststellung der Nichtverfügbarkeit nach § 103 Abs. 1 AFG voraus.
Dies erfordert jedoch bei einem Antragsteller, der nur noch geringfügig im Sinne von § 102 AFG tätig sein kann, die
Feststellung seiner Berufsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung. Diese Entscheidung trifft allein
der Rentenversicherungsträger nach § 103 Abs. 2 S. 1 AFG. Bis zu dieser Entscheidung gilt der Arbeitnehmer auch
im Rahmen des Beitragsrechts nicht als berufsunfähig (§ 103 Abs. 2 S. 2 AFG). Für die Anwendung des § 169 Nr. 4
AFG bedeutet dies, daß danach Beitragsfreiheit einer Beschäftigung solange nicht angenommen werden darf, als die
Entscheidung des Rentenversicherungsträgers nicht vorliegt, daß der Beschäftigte berufsunfähig ist. Mithin ist auch
bezüglich der Beitragspflicht bis zur Entscheidung des Rentenversicherungsträgers davon auszugehen, daß der
Kläger nach § 169 Nr. 4 AFG nicht beitragsfrei gewesen ist. Aufgrund dessen ist davon auszugehen, daß der Kläger
durch seine Beschäftigungen als Hilfsarbeiter bei der Gemeinde M. die Anwartschaftszeit des § 104 Abs. 1 AFG
erfüllt hat.
Die Berufung mußte insoweit Erfolg haben, als das Arbeitslosengeld des Klägers nicht nach der üblichen tariflichen
Vollarbeitszeit von 40 Wochenstunden, sondern nach einer Zahl von 20 Wochenstunden zu bemessen ist. Die
Übertragung des in § 103 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 in Verbindung mit Abs. 2 AFG enthaltenen Gedankens, Arbeitslose mit
keiner oder mit einer nur noch geringfügigen zeitlichen Leistungsfähigkeit im Wege der Fiktion zum Bezug des
Arbeitslosengeldes zuzulassen, auf den Grundgedanken des § 112 Abs. 8 AFG, wonach das Arbeitslosengeld
grundsätzlich nach der verbliebenen zeitlichen Restarbeitsfähigkeit zu bemessen ist, rechtfertigt es nach der Ansicht
des Bundessozialgerichts nämlich nur, von einer gerade über der Geringfügigkeitsgrenze des § 102 AFG liegenden
Wochenstundenzahl auszugehen (vgl. hierzu BSG Urteil vom 7. August 1979 – 7 RAr 45/78 – mit weiteren
Nachweisen). Das Arbeitslosengeld des Klägers ist nach einer Wochenarbeitszeit von 20 Stunden zu bemessen, da
die Herabsetzung der Geringfügigkeitsgrenze des § 102 Abs. 1 Satz 1 AFG auf "weniger als 20 Stunden” wöchentlich
durch das Einführungsgesetz zum Einkommensteuerreformgesetz vom 21. Dezember 1974 (BGBl. 3656 – EG-
EStRG) bereits am 1. Januar 1975 – also vor der ersten Antragstellung des Klägers auf Arbeitslosengeld – in Kraft
trat (Art. 50 Abs. 1 EG-EStRG). Der Senat sah auch aufgrund des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Sozialgesetzbuches (SGB) – Verwaltungsverfahren – BT-Drucksache 8/2034 –, der durch eine Änderung des §
112 Abs. 8 AFG vorsieht, auch bei leistungsgeminderten Arbeitslosen, die keine Vollzeitarbeit mehr ausüben können,
das Arbeitslosengeld auf der Grundlage der Arbeitszeit zu bemessen, die sie zuletzt geleistet haben, keinen
hinreichenden Anlaß von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts abzuweichen. Der Bericht des Ausschusses
für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß) spricht nämlich dafür, daß es sich um eine gesetzliche Neuregelung der
Alg-Bemessung für leistungsgeminderte Arbeitslose und nicht nur um eine Klarstellung der bisherigen Rechtslage
handeln soll (vgl. BT-Drucksache 8/2034 S. 91). Sollte dieser Neuregelung in ihrer voraussichtlichen Gesetzesfassung
rückwirkende Wirkung beigemessen werden, kommt für den Kläger insoweit eine Neubescheidung in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Revision hat der Senat zugelassen, weil er der entschiedenen Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung
beigemessen hat.