Urteil des LSG Hessen vom 18.05.2010

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Hessisches Landessozialgericht
Beschluss vom 18.05.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel S 3 AL 4/10 ER
Hessisches Landessozialgericht L 6 AL 58/10 B ER
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 11. März 2010 wird
zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Gründe:
Die am 31. März 2010 bei dem Sozialgericht Kassel eingegangene Beschwerde des Antragstellers zum Hessischen
Landessozialgericht, mit der er sinngemäß beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 11. März 2010
aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, an ihn vorläufig
Arbeitslosengeld in gesetzlicher Höhe auszuzahlen,
ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt. Nach § 86b Abs. 2
Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Ein solcher wesentlicher Nachteil ist nur anzunehmen,
wenn dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache
zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm darüber hinaus nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch
in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Die tatsächlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines
Anordnungsgrundes sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2
Zivilprozessordnung - ZPO).
Die tatsächlichen Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs, der sich allein aus §§ 117 ff. Sozialgesetzbuch
Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III) ergeben könnte, sind nicht glaubhaft gemacht worden. Der Antragsteller
stand innerhalb der Rahmenfrist nicht zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis (§ 123 SGB III). Innerhalb
der Rahmenfrist, die nach derzeitigem Sachstand vom Sozialgericht zutreffend mit dem Zeitraum vom 1. September
2007 bis 31. August 2009 ermittelt worden ist, war über die versicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschland von
zwei Monaten hinaus (bis 30. September 2007 als Auslieferungsfahrer und zuletzt im August 2009 als Pferdepfleger
bei dem Reitstall IN.) lediglich die bescheinigte Beschäftigung in Spanien vom 16. Februar 2008 (nach Angaben des
Antragstellers ab 1. März 2008) bis 29. September 2008 (nicht: 29. August 2008) anzurechnen, mithin insgesamt acht
Monate sowie 14 und 29 Tage. Bei der Ermittlung der Rahmenfrist war auf den Tag vor Erfüllung aller sonstigen
Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld abzustellen (§ 124 Abs. 1 SGB III). Offen bleiben kann, ob
die Einschätzung der Antragsgegnerin zutrifft, dass die vorangegangene Rahmenfrist bis zum 1. September 2006
reichte, da dies zu keiner Verkürzung am Maßstab nach § 124 Abs. 2 SGB III führen kann. Zur Vermeidung von
Wiederholungen wird hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen im Übrigen auf die Gründe des angefochtenen
Beschlusses Bezug genommen (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).
Ergänzend ist auszuführen, dass sich die Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten in Spanien als Zeiten des
Versicherungspflichtverhältnisses i.S.d. § 123 SGB III nach Art. 67 Abs. 1 der "Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des
Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige
sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu– und abwandern" richtet (VO (EWG) 1408/71).
Hiernach berücksichtigt der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften der Erwerb, die
Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs von der Zurücklegung von Versicherungszeiten
abhängig ist, die Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, die als Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften eines
anderen Mitgliedstaats zurückgelegt wurden, als handelte es sich um Versicherungszeiten, die nach den eigenen
Rechtsvorschriften zurückgelegt worden sind; für Beschäftigungszeiten gilt dies jedoch unter der Voraussetzung,
dass sie als Versicherungszeiten gegolten hätten, wenn sie nach den eigenen Rechtsvorschriften zurückgelegt
worden wären. Dabei kommt ein Leistungsanspruch gegen den hiesigen Träger nur in Betracht, wenn die betreffende
Person unmittelbar vor Antragstellung gerade in der Bundesrepublik Deutschland Versicherungs- oder
Beschäftigungszeiten zurückgelegt hat (vgl. Art. 67 Abs. 3 VO (EWG) 1408/71). Auch ab dem Zeitpunkt der Geltung
der "Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlament und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung
der Systeme der sozialen Sicherheit" zum 1. Mai 2010 (Art. 91 Satz 2 VO (EG) 883/2004) findet auf den vom
Antragsteller bereits zuvor geltend gemachten Anspruch die oben dargestellte alte Rechtslage Anwendung. Die neue
Verordnung begründet nach Art. 87 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 keinen Anspruch für den Zeitraum vor dem Beginn ihrer
Anwendung, d.h. soweit der angeführte Zeitpunkt der Anspruchsbegründung vor dem Beginn ihrer Geltung gemäß Art.
91 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 liegt. Lediglich eine tatbestandliche Rückanknüpfung bei künftigen Ansprüchen im
Hinblick auf Wartezeiten etc. ist insbesondere nach Art. 87 Abs. 2 und 3 VO (EG) 883/2004 möglich.
Der Antragsteller hat insoweit lediglich Beschäftigungszeiten von 16. Februar 2008 bis 29. September 2008 als
Tierpflegerhelfer bzw. "Trabajo empleado de hogar" (in den Verwaltungsakten der Antragsgegnerin übersetzt mit:
Beschäftigung/Arbeit als Hausangestellter) aufgrund der vorgelegten Bescheinigung E-301 der "Direccion Provincial"
des "Ministerio de trabajo e immigracion" vom 28. Mai 2009 glaubhaft gemacht. Zweifel daran, dass diese
Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland der Versicherungspflicht unterliegen würde, hegt der Senat nicht.
Die Tätigkeit vom 1. Oktober 2008 bis 30. April 2009 wurde hingegen ausdrücklich als selbständige Tätigkeit
bescheinigt.
Der Antragsteller kann sich zur Begründung des Arbeitslosengeldanspruches nicht auf behauptete mündliche Zusagen
der Berücksichtigung oder auf fehlerhafte Auskünfte zur Anerkennung der als Selbständigkeit bewerteten Tätigkeit
berufen, da die Bescheinigung des spanischen Trägers die Antragsgegnerin und die hiesigen Gerichte bindet. Die vom
zuständigen Träger eines Mitgliedstaats nach Art. 80 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972
über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (VO (EWG) 574/72) ausgestellte Bescheinigung, die die von
einem Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften dieses Staates zurückgelegten Versicherungs- oder
Beschäftigungszeiten nennt ("E-301"), ist, solange sie nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird, vom
zuständigen Träger eines anderen Mitgliedstaats bei der Zusammenrechnung der Versicherungs- oder
Beschäftigungszeiten zu berücksichtigen (so ausdrücklich EuGH, Urteil vom 11. November 2004, C-372/02 – Adanez-
Vega – auch zu den nachfolgenden Ausführungen). Der in Art 10 EG-Vertrag bzw. nunmehr in Art. 4 Abs 3 des
Vertrages über die Europäische Union verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet jedoch die
Träger der sozialen Sicherheit, die relevanten Tatsachen insbesondere im Rahmen der Anwendung der Regeln über
die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften oder der Regeln über die Zusammenrechnung der
Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten zutreffend zu beurteilen und damit die Richtigkeit der Angaben in den von
ihnen ausgestellten Bescheinigungen zu garantieren. Somit müssen die Träger der sozialen Sicherheit die
Berechtigung der Ausstellung dieser Bescheinigungen überprüfen und diese gegebenenfalls zurückziehen, wenn
Zweifel an der Richtigkeit des ihnen zugrunde liegenden Sachverhalts und demnach der darin gemachten Angaben
bestehen. Zweifel an der Richtigkeit können daher grundsätzlich nur gegenüber der ausstellenden Behörde geltend
gemacht werden (vgl. ausführlich Kretschmer in: Niesel, SGB III, 5. Aufl., Anh. A Art 67 Rdnr. 19 m.w.N.). Wegen der
Verankerung im Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit – und nicht etwa in Rechtspositionen des Betroffenen – wirkt
die Bindung auch zu Lasten des Versicherten.
Im Ergebnis ohne Auswirkungen bleibt nach alledem eine möglicherweise zu Unrecht bescheinigte Beschäftigung vom
16. bis 29. Februar 2008.
Die Kostenentscheidung resultiert aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG mit der Beschwerde nicht anfechtbar.