Urteil des LSG Hessen vom 12.06.1997

LSG Hes: entziehung, kriegsopfer, rücknahme, versorgung, ermessensprüfung, republik, verwaltungsverfahren, heimatstaat, einverständnis, weltkrieg

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 12.06.1997 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 11 V 1373/94
Hessisches Landessozialgericht L 5 V 346/95
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Januar 1995 wird
zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider
Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem
Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1934 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in der Republik ...
Erstmals am 19. September 1988 beantragte er bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und
trug vor, im Januar 1944 durch die Explosion einer deutschen Bombe das Augenlicht auf beiden Augen verloren und
sich Verletzungen an Fingern der rechten Hand zugezogen zu haben. Er sei zu 100 % Invalide und deshalb als ziviles
Kriegsopfer in seinem Heimatland anerkannt. Er erhalte dementsprechend Invalidenrente. Nach weiteren Ermittlungen
erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 5. Februar 1991 als Schädigungsfolge "Blindheit beider Augen, Verlust des
Zeigefingers rechts, Steifheit des III. Fingers rechts” als Schädigungsfolge an und gewährte Beschädigtenrente nach
einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. nebst Schwerstbeschädigtenzulage Stufe I und
Pflegezulage Stufe III ab 1. April 1991. Zur Begründung führte er unter anderem aus, daß die Leistung als sogenannte
"Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.
Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Aufhebungsbescheid vom 11. Januar
1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid
rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG unzulässig sei. Der Kläger erhalte bereits Rente
als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die
Aufhebung sei im öffentlichen Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei bereits berücksichtigt
worden, daß der Grund des Zustandekommens des rechtswidrigen Bescheides allein in der Verantwortung der
deutschen Verwaltung liege. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt
worden. Die Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da
auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten.
Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 25. Februar 1993 Widerspruch (Eingang: 11. März 1993) ein und trug
vor, daß die Entziehung der Versorgungsleistungen seiner Ansicht nach rechtswidrig sei. Mit dieser Entziehung
entständen für ihn "unlösbare Probleme”, denn er lebe in "Kriegszeiten” in Bereits seit 1988 erhalte er eine "deutsche
Pension” und verstehe nicht, daß er als "unschuldiges Kinderopfer” nunmehr seine Rente, auf die er angewiesen sei,
nicht mehr bekommen solle. Durch Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1994 wies der Beklagte den Widerspruch
zurück. Da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er die gezahlten
Leistungen nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege jedoch das öffentliche Interesse. Es sei bekannt, daß
der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen
lebe. Dieser Umstand treffe bei Sozialleistungen vielfach zu und könne bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß
lebenslang fortgeführt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Am 27. April 1994 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und die Ansicht vertreten,
daß die Entziehung von Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und deshalb nicht hätte erfolgen dürfen. Mit Urteil
vom 13. Januar 1995 hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben.
In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den
Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Entscheidend sei,
daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Anwendung sachgemäßen Ermessens
keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe seine Entscheidung nicht auf den individuellen Einzelfall des
Klägers abgestellt. Vielmehr weise die Formulierung darauf hin, daß der Beklagte bei seiner Entscheidung gerade
nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge gehabt habe, sondern solche Aspekte, die für
sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer im ehemaligen zutreffen wurden. Das
Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von Fällen die
gleiche Formulierung benutzt wurde. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden der Urteile des
Bundessozialgerichtes (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rücknahme eingeleitet habe
und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe.
Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens
aufzuheben gewesen.
Gegen das am 20. März 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 31. März 1995 beim Hessischen
Landessozialgericht Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im
sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall kein Ermessen auszuüben sei. Dies habe der 9/9 a Senat des BSG in
ständiger Rechtsprechung festgestellt. Der vorliegende Fall sei ein klassischer Regelfall. Außerdem ergäbe sich aus
dem Text des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides, daß sowohl die Höhe der ausländischen
Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung, das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegung
mit einbezogen worden seien. Schließlich könne die derzeitige Bürgerkriegssituation im ehemaligen nicht
berücksichtigt werden, denn für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg
entbrannt sei, sei die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Januar 1995 aufzuheben und die
Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß), die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger wiederholt im wesentlichen seine Widerspruchs- und Klagebegründung. Er ist der Ansicht, daß er weiterhin
Anspruch auf Versorgungsleistungen habe und die Entziehung rechtswidrig sei.
Der Senat hat mit gerichtlichem Schreiben vom 24. September 1996 die Urteile des Senates vom 14. Dezember 1995
(L-5/V-345/95 und L-5/V-1221/94) in vergleichbaren Fällen in das Verfahren eingeführt.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten einverstanden
erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten entscheiden, da das Einverständnis beider
Beteiligten für diese Verfahrensweise vorlag (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§ 151 i.V.m. §§ 143, 144 Abs.
1 Satz 1 SGG).
Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 13.
Januar 1995 den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Februar 1994
aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig.
Die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigten Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X unterliegt bestimmten
Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2 bis 4 SGB X). Der Senat hat bereits in mehreren
gleichgelagerten Fällen (vgl. Hessisches Landessozialgericht Urteile vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und L-
5/V-345/95) entschieden, daß die Rücknahmebescheide rechtswidrig sind. Diese Urteile sind bereits in das Verfahren
eingeführt. Der Senat nimmt voll inhaltlich hierauf bezug.
Entscheidend ist hiernach, daß die Entscheidung der Bewilligung von Versorgungsleistungen allein in den
Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung fällt. Eine Doppelversorgung ist gemäß § 7 Abs. 2 BVG
grundsätzlich ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung (BSG Urteil vom 25. November 1976 – 8
RV 188/75, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9a RV 11/91 und 9a RV 12/91, zuletzt Urteil vom 10. August 1993 – 9/9a RV
39/92) entschieden, daß Kriegsopfer, die von ihrem Heimatstaat Versorgungsleistungen erhalten, keinen weiteren
Anspruch nach dem BVG haben. Entscheidend ist grundsätzlich nur der Anspruch. Unerheblich ist, ob und inwieweit
die Geldleistung letztlich erbracht wird. Der Kläger ist als ziviles Kriegsopfer anerkannt. Der ehemalige Teilstaat der
früheren SFR gewährte auch Versorgungsleistungen. Der selbständige Staat "Republik ” hat insoweit die früher
geltenden Rechtsnormen auch übernommen; sie gelten – teilweise verändert – grundsätzlich weiter.
Entscheidend ist ferner auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler vorliegt, so daß die angefochtenen
Entscheidungen rechtswidrig sind (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat sieht im vorliegenden Fall keinen
Regelfall, der jegliche Ermessenserwägung der Verwaltung verzichtbar macht. Vielmehr fehlt eine notwendige
pflichtgemäße Ermessensentscheidung. Der Beklagte hat von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht
ordnungsgemäß Gebrauch gemacht, denn er hat keine individuelle Ermessensprüfung vorgenommen. Es liegt eine
sogenannte Ermessensunterschreitung vor, denn es wurde dieselbe Formulierung für eine Vielzahl von Fällen benutzt
und damit die Verhältnisse nur pauschal, nicht aber alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt. Auch
im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt; jedenfalls hätten sie von dem Beklagten ermittelt werden
können und müssen. Der Kläger lebt bzw. lebte in den Jahren 1992 und 1993 in einem Kriegsgebiet. Zum Zeitpunkt
der Rücknahmeentscheidung durch den Beklagten ereigneten sich die Kriegshandlungen. Der Kläger, wie er selbst
vorgetragen hat, wohnte in diesem Kriegsgebiet und war dringend auf fremde Hilfe angewiesen. Der Senat sieht,
insbesondere auch in der Schädigungsfolge des Klägers selbst – die Erblindung –, eine besondere Betroffenheit. Im
übrigen waren die Umstände dieses Falles auch dazu geeignet, eine Ermessensentscheidung dahin zu treffen, die
dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens”
nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Ganz unabhängig davon, ob eine solche Entscheidung tatsächlich hätte
ergehen können und dürfen, hat der Beklagte auf jeden Fall schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er
die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei
seiner Entscheidung zugrundegelegt und auch nicht in der Begründung des Bescheides dargelegt hat. Die Berufung
war deshalb – wie bereits in vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des
Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.