Urteil des LSG Hessen vom 14.03.2017

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Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 23.03.1977 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel
Hessisches Landessozialgericht L 8 Kr 284/72
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 21. Februar 1972 aufgehoben.
Die Beklagte wird dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin die Kosten der Heilbehandlung des J. T. auch über den 20.
Juli 1969 hinaus zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, welche Krankenkasse für die Erkrankung des 1924 geborenen J. T. zuständig ist.
Der beigeladene T. war bei der Beklagten vom 29. April bis 7. Juli 1969 pflichtversichert und am 3. Juli 1969 bis 12.
Juli 1969 wegen Tbc arbeitsunfähig erkrankt. Er war bei der Klägerin ab 21. Juli 1969 erneut versichert und erkrankte
ab 11. August 1969 erneut an Tbc. Ab 13. August 1969 war er in Heilstättenbehandlung.
Der behandelnde Arzt Dr. L. teilte auf Antrage der Klägerin am 4. Oktober 1969 mit, daß der Beigeladene am 3. Juli
1969 ihm angegeben habe, er sei zur Röntgenkontrolle beim Gesundheitsamt W. gewesen, und man habe ihn zu einer
Heilstättenbehandlung einberufen. Nach einigen Tagen habe er sich wieder gesundschreiben lassen, da das
Heilstättenverfahren zunächst zurückgestellt worden sei. Man habe ihm gesagt, er könne wieder arbeiten. Daraufhin
habe der Arzt ihn wieder gesundgeschrieben. Am 11. August 1969 sei der Beigeladene von der Mutter des Dr. L., Frau
Dr. M. L., stationär eingewiesen worden.
Dr. S. von der Vertrauensärztlichen Dienststelle der LVA Hessen in R. teilte der Klägerin am 3. Dezember 1969 mit,
daß die Lungen-Tbc des Beigeladenen seit 1957 bekannt sei. Es hätten mehrfach Heilstättenbehandlungen
stattgefunden. Aus dem Bericht der Tbc-Fürsorgesprechstunde am 9. Juli 1969 in W. habe sich ergeben, daß eine
infiltrative Herdbildung der Prod. Tuberkulose des linken Obergeschosses vorgelegen habe. Eine Blutsenkung habe
18/40 betragen. Auf diesen Befund hin mußten Behandlungsmaßnahmen wieder eingeleitet werden und außerdem
Heilstättenbehandlung stattfinden. Nach diesem Befund sei es unverständlich, daß anschließend die Arbeit wieder
aufgenommen worden sei. Seit dem Zeitpunkt der Röntgenuntersuchungen in W. sei eine durchgehende Erkrankung
gegeben. Eine Arbeitsaufnahme als Bauarbeiter sei nicht gerechtfertigt gewesen.
Aufgrund dieses Sachverhalts forderte die Klägerin die Beklagte am 16. Februar 1970 auf, die Kosten für die
Behandlung des Beigeladenen zu übernehmen, da es sich bei der Tätigkeit des Beigeladenen ab 21. Juli 1969 um
einen mißglückten Arbeitsversuch gehandelt habe. Die Beklagte lehnte die Übernahme der Behandlungskosten am
23. Februar 1970 ab. Am 23. März 1970 wies die Klägerin erneut auf den mißglückten Arbeitsversuch hin. Die
Beklagte lehnte am 20. Mai 1970 die Kostenübernahme erneut ab. Am 26. Juni 1970 wurde die Klägerin erneut bei der
Beklagten vorstellig. Herr Dr. W. vom Vertrauensärztlichen Dienst der LVA in F. kam am 17. August 1970 zu dem
Ergebnis, daß der Beigeladene ab 3. Juli 1969 dringend hätte krankgeschrieben bleiben müssen und am 11. Juli 1970
nicht hätte gesundgeschrieben werden dürfen. Er habe auch keinerlei Arbeit übernehmen dürfen, da eine Behandlung
wegen Lungen-Tbc erforderlich war, bei der außerdem eine Eileinweisung für die Heilstättenkur lungenfachärztlich für
notwendig erachtet wurde. Die Arbeit sei eindeutig nur unter der Gefahr der Verschlechterung des Leidens
aufgenommen worden. Aus der Tatsache, daß der Beigeladene darum gebeten habe, den ersten Einberufungstermin
zu verschieben, gehe ganz klar hervor, daß bei Übernahme der Arbeit bereits festgestanden habe, daß sie in
kürzester Zeit wieder aufgegeben werden müsse.
Die Klägerin erhob Klage auf Feststellung, daß die Beklagte über den 20. Juli 1969 hinaus die für die
Krankenversicherung des Beigeladenen zuständige Krankenkasse sei. Sie war weiterhin der Auffassung, daß die
Arbeitsaufnahme am 21. Juli 1969 lediglich einen mißglückten Arbeitsversuch dargestellt habe.
Das SG Kassel lud J. T. zum Verfahren bei und wies die Klage mit Urteil vom 21. Februar 1972 ab. Zur Begründung
wurde ausgeführt, daß die Klägerin seit dem 21. Juli 1969 zuständiger Krankenversicherungsträger für den
Beigeladenen gewesen sei. Es habe sich nicht um einen mißglückten Arbeitsversuch gehandelt. Dieser Begriff sei nur
mit äußerster Zurückhaltung anzuwenden, da er im Gesetz nicht enthalten sei. Er komme nur in Betracht, wenn
objektiv keine Arbeitsleistung von wirtschaftlichem Wert vorgelegen habe und die Arbeit bereits vor Ablauf einer
wirtschaftlich ins Gewicht fallenden Zeit aus oben genannten Gründen wieder habe aufgegeben werden müssen. Diese
Voraussetzungen seien vorliegend nicht gegeben. Es könne dahingestellt bleiben, ob der Beigeladene von vornherein
unter Gefährdung seiner Gesundheit die Arbeit aufgenommen habe und ob von vornherein feststand, daß er sie
spätestens nach dem 8. August 1969 wieder habe aufgeben müssen. Jedenfalls habe der Beigeladene volle drei
Arbeitswochen mit einer Mindestarbeitszeit von 42. Stunden Bauarbeiten persönlich abhängig verrichtet und dafür
einen Arbeitslohn von insgesamt 800,– DM erhalten. Damit sei der Beigeladene versicherungspflichtig beschäftigt
gewesen.
Gegen dieses der Klägerin am 1. März 1972 zugestellte Urteil richtet sich deren am 15. März 1972 schriftlich bei dem
Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung, mit der die Klägerin nunmehr geltend macht, daß die
Beklagte DM 8.064,61 und weitere Kosten zu erstatten habe. Sie bezieht sich weiterhin darauf, daß ein mißglückter
Arbeitsversuch vorgelegen habe und beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 21. Februar
1972 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, DM 8.064,61 sowie weitere verauslagte Beträge zu erstatten.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen, der Verwaltungsakten der Klägerin und der Tbc-
Fürsorge-Akten des Landkreises W. Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Berufung der Klägerin ist auch statthaft (§§ 143, 151 Abs. 1
SGG).
Der Senat konnte in Abwesenheit der Beklagten auf Antrag der Klägerin nach Lage der Akten gemäß § 126 SGG
entscheiden, da die Beteiligten bei der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden waren (§ 110 SGG).
Obwohl die Klägerin zunächst eine Feststellungsklage erhoben hat, über die das angefochtene Urteil sich entschied,
ist in der Berufungsinstanz nunmehr ein Leistungsantrag gestellt worden. Hierin liegt eine Klageänderung, die auch in
der Berufungsinstanz noch möglich ist (vgl. Peters-Sautter-Wolff, Komm. z. SGG, Anm. 1 zu § 99 SGG). Da sich die
Beklagte auf die geänderte Klage eingelassen und damit in die Änderung eingewilligt hat (§ 99 Abs. 2 SGG) ist
darüber hinaus die Änderung auch sachdienlich, weil ein Teil des Anspruchs der Klägerin ziffernmäßig feststeht, ist
die Klagänderung zulässig (§ 99 Abs. 1 SGG).
Sachlich ist die Berufung auch begründet.
Unstreitig ist der Beigeladene gemäß § 165 Abs. 1 Ziff. 1 RVO sowohl bei der Klägerin als auch bei der Beklagten
versicherungspflichtiges Mitglied gewesen, wobei vorliegend lediglich zu entscheiden war, ob es sich bei einer
Beschäftigung bei der Firma J. um einen sog. mißglückten Arbeitsversuch gehandelt hat und deshalb im Verhältnis
zur Klägerin ein gültiges Versicherungsverhältnis nicht zustande gekommen ist.
Ein mißglückter Arbeitsversuch – ein Begriff, der zwar nicht im Gesetz enthalten, aber aus praktischen Erwägungen
von der Rechtsprechung herausgearbeitet worden ist – liegt nach Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) vor,
wenn die Beschäftigung zwar nicht schon in den ersten Tagen, jedoch noch vor Ablauf einer wirtschaftlich ins Gewicht
fallenden Zeit wieder aufgegeben wird, weil der Beschäftigte zu ihrer Verrichtung von vornherein nicht oder nur unter
schwerwiegender Gefährdung seiner Gesundheit fähig war (vgl. Urteil vom 10. November 1970, SGb 1971 S. 362 mit
Anm. von Schnorr v. Carolsfeld). Diese Rechtsprechung hat das BSG im Urteil vom 22. Februar 1974 (SozR. 2200 §
165 RVO Nr. 2) erneut bestätigt und hinzugefügt, daß die Versicherung nicht wirksam werde, wenn der Beschäftigte
bis zu 3 Wochen gearbeitet hat, aber nicht sicher sein konnte, daß er für die Arbeit fähig war. So lagen die Dinge auch
hier.
Danach nimmt der Senat im Gegensatz zu der Auffassung des Sozialgerichts einen mißglückten Arbeitsversuch an.
Dies gilt insbesondere deshalb, weil der Beigeladene bereits bei der Aufnahme der Arbeit bei der Firma J. wußte, daß
die Beschäftigung nur von kurzer Dauer sein konnte, da er an dringend behandlungsbedürftiger Tuberkulose erkrankt
war. Dies war dem Beigeladenen seit der Röntgen-Untersuchung im Gesundheitsamt W. und der daraufhin sofort
eingeleiteten Eilaufnahme in eine Heilstätte bekannt. Bei dieser Sachlage ist es völlig unglaubhaft, wenn der
Beigeladene angibt, das Gesundheitsamt habe gegen eine Arbeitsaufnahme nichts einzuwenden gehabt und sich mit
dieser Begründung wieder gesundschreiben ließ. Es ist dem Senat auch völlig unverständlich, wie Dr. L. den
Beigeladenen wieder gesund schreiben konnte, nachdem ihm der massive Röntgen-Befund und die erhöhte
Blutsenkungsgeschwindigkeit bekannt sein mußte. Selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte er sich den
Befund unschwer beschaffen können, ehe er den Beigeladenen gesundschrieb. Nur hierdurch ist es zu der erneuten
Arbeitsaufnahme des Beigeladenen gekommen.
Obwohl der Beigeladene eine Zeit von etwa 3 Wochen – formell versichert bei der Klägerin – gearbeitet hat, liegt ein
mißglückter Arbeitsversuch vor, da eine nur kurze Dauer der Arbeitsunfähigkeit bei diesem Sachverhalt abzusehen
war. Auch das BSG hat in der zit. Entscheidung vom 22. Februar 1974 (a.a.O.) eine Tätigkeit von 3 Wochen noch
nicht als versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis angesehen. Wenn eine Arbeit nur auf die Gefahr einer
weiteren Verschlimmerung aufgenommen wird, kommt es nicht entscheidend darauf an, ob Arbeit von
wirtschaftlichem Wert geleistet worden ist. Liegt somit ein mißglückter Arbeitsversuch vor, ist ein gültiges
Versicherungsverhältnis zur Klägerin durch die Arbeitsaufnahme bei der Fa. J. nicht zustande gekommen. Hinsichtlich
der medizinischen Beurteilung folgt der Senat vor allem der Auffassung des Dr. S. und des Dr. W., die die Sachlage
objektiv auf Grund der vorliegenden Befunde beurteilt haben. Durch die Stellungnahme des Dr. G. werden ihre
Feststellungen nicht erschüttert. Dies bedeutet, daß die Klägerin nicht leistungspflichtig gegenüber dem Beigeladenen
war.
Dagegen lag eine Leistungsverpflichtung seitens der Beklagten vor, da der Beigeladene während der zu ihr
bestehenden Versicherungspflicht am 3. Juli 1969 erkrankt ist und diese Erkrankung fortbestanden hat, wie sich
insbesondere aus den gutachtlichen Stellungnahmen des Dr. S. und des Dr. W. ergibt. Wenn der Beigeladene, wie
seine Ehefrau angegeben hat, vom 14. Juli 1969 bis 19. Februar 1970 Arbeitslosenhilfe bezogen hat, kommt
außerdem § 214 RVO als Rechtsgrundlage in Betracht, weil im Falle eines mißglückten Arbeitsversuches der Eintritt
des Versicherungsfalles mit Beginn des Arbeitsverhältnisses bei der Firma J. Söhne angenommen werden muß.
Aufgrund der Arbeitslosigkeit bestand die Mitgliedschaft bei der Beklagten gemäß §§ 155/159 AFG im übrigen fort.
Nach allem ist die Beklagte auf Grund eines öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs der Klägerin insoweit zur
Erstattung verpflichtet, als sie Leistungen erbracht hat.
Dementsprechend war das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Kassel aufzuheben.
Der Senat konnte jedoch kein Leistungsurteil auf einen bestimmten Geldbetrag erlassen, da die Höhe der Forderung
der Klägerin noch nicht feststeht. Sie bezeichnet in ihrem Berufungsantrag selbst das III. Quartal 1971 als noch nicht
abgerechnet und hat dies auch später nicht nachgeholt. Es kam daher nur ein Grundurteil nach § 130 SGG in
Betracht, da eine Leistung in Geld begehrt wird, deren Höhe noch nicht festzustellen war.
Eine Kostenentscheidung kam wegen § 193 Abs. 4 SGG nicht in Betracht, nach dem Aufwendungen von Behörden
nicht erstattungsfähig sind.