Urteil des LSG Hessen vom 29.06.2006

LSG Hes: künstliche befruchtung, schutz der familie, krankenversicherung, schwangerschaft, ivf, krankenkasse, verfügung, altersgrenze, heilbehandlung, ausnahmefall

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 29.06.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt S 10 KR 449/04
Hessisches Landessozialgericht L 8 KR 87/05
Bundessozialgericht B 1 KR 111/06 B
Die Berufung der Kläger gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Darmstadt vom 29. April 2005 wird
zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Kostenübernahme für eine künstliche Befruchtung.
Der 1959 geborene Kläger zu 1) und die 1963 geborene Klägerin zu 2) sind verheiratet und beide bei der Beklagten
gegen Krankheit versichert. Sie haben ein gemeinsames Kind. Der Wunsch, ein zweites Kind zu bekommen, erfüllte
sich bisher nicht, offenbar aufgrund einer bei dem Kläger vorliegenden mittelgradigen Zeugungsunfähigkeit. Eine im
November/Dezember 2003 durchgeführte, von der Beklagten getragene künstliche Befruchtung nach der ICSI-
Methode blieb erfolglos.
Mit Schreiben vom 11. März 2004 beantragten die Kläger die Übernahme der Kosten für eine weitere ICSI-Behandlung
und wiesen darauf hin, dass der behandelnde Arzt Dr. H. die Erfolgsaussichten aufgrund der Ergebnisse des ersten
Versuchs als sehr gut einschätze. Mit Bescheid vom 23. April 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
21. Juli 2004 lehnte die Beklagte die Übernahme der Behandlungskosten ab. Durch das Gesetz zur Modernisierung
der gesetzlichen Krankenversicherung sei seit dem 1. Januar 2004 bestimmt, dass kein Anspruch auf Leistungen der
künstlichen Befruchtung bestehe für weibliche Versicherte, die das 40. Lebensjahr vollendet hätten (§ 27a Abs. 3
Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – SGB V –).
Die Kläger haben am 16. August 2004 Klage zum Sozialgericht in Darmstadt erhoben. Sie haben geltend gemacht, die
gesetzliche Altersgrenze, bis zu der Maßnahmen der künstlichen Befruchtung von den gesetzlichen Krankenkassen
bezuschusst würden, sei verfassungswidrig, weshalb die Beklagte die anfallenden Kosten der Behandlung im IVF
Zentrum YV. übernehmen müsse.
Mit Gerichtsbescheid vom 29. April 2005 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klage sei als gemeinsame
Klage beider Eheleute zulässig, weil beide bei der Beklagten versichert seien und damit Anspruch auf die jeweils auf
sie entfallenden Kosten der begehrten Leistung hätten. Den Klägern stehe jedoch kein Anspruch auf
Kostenübernahme für Maßnahmen der künstlichen Befruchtung zu. Nach § 27a Abs. 1 SGB V i.d.F. des Gesetzes
zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14. November 2003 (GKV-Modernisierungsgesetz),
der mit Wirkung zum 1. Januar 2004 in Kraft getreten sei, seien die gesetzlichen Krankenkassen zwar verpflichtet,
medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft zu übernehmen, jedoch nur, wenn nach ärztlicher
Feststellung eine hinreichende Aussicht bestehe, dass durch die Maßnahmen eine Schwangerschaft herbeigeführt
werde. Der Anspruch bestehe nicht für weibliche Versicherte, die das 40. Lebensjahr vollendet hätten (Abs. 3 S. 1),
was bei der Klägerin zu 2) der Fall sei. Die Kläger könnten sich auch nicht darauf berufen, dass die erste Behandlung
im November/Dezember 2003 von der Beklagten bewilligt worden sei, da diese Maßnahme durch die Spermainjektion
in die Eizelle abgeschlossen gewesen sei (Hinweis auf die Richtlinien über ärztliche Maßnahmen zur künstlichen
Befruchtung in der Fassung vom 20. Februar 2002, Bundesanzeiger 2002, S. 10941). Die neue Maßnahme sei daher
als eigenständige Leistung anzusehen, die unter Zugrundelegung der nunmehr geltenden Gesetzeslage zu beurteilen
sei. Eine Übergangsregelung habe der Gesetzgeber nicht geschaffen. Sie sei auch aus verfassungsrechtlichen
Gründen heraus nicht geboten gewesen. Denn aus der Begründung des Gesetzesentwurfs werde deutlich, dass die
Neuregelung des § 27a SGB V gezielt zur Begrenzung der Ausgaben für künstliche Befruchtung auf Fälle
medizinischer Notwendigkeit geschaffen worden sei und die neue Eingrenzung des Leistungsanspruchs bei Frauen
auf diejenigen, die das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet hätten, dem Gesichtspunkt Rechnung trage, dass bereits
jenseits des 30. Lebensjahres das natürliche Konzeptionsoptimum überschritten und die
Konzeptionswahrscheinlichkeit nach dem 40. Lebensjahr sehr gering sei und dies auch einer starken Gewichtung des
künftigen Wohls des erhofften Kindes diene (Hinweis auf die Begründung des Entwurfs des GKV-
Modernisierungsgesetzes vom 8. September 2003, Bundestagsdrucksache 15/1525, S. 83). Die gemäß Art. 37 Ziffer
1 GMG zum 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Gesetzesänderung stelle sich auch nicht als verfassungswidrig dar,
weil sie dem Gebot der Kosteneinsparung und damit der Erhaltung des Systems der gesetzlichen
Krankenversicherung diene und im Übrigen dem Gesetzgeber gerade im Bereich der Sozialversicherung ein weiter
Ermessensspielraum einzuräumen sei. Im Übrigen habe der Gesetzgeber schon in § 27a SGB V in der bis zum 31.
Dezember 2003 gültigen Fassung festgelegt, dass eine Kostenübernahme auch ohne Altersbeschränkung dann
ausscheide, wenn nach ärztlicher Feststellung keine hinreichende Aussicht bestehe, dass eine Schwangerschaft
herbeigeführt werden könne. In den dazu vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen erlassenen
"Richtlinien über die künstliche Befruchtung" sei bereits geregelt gewesen, dass Maßnahmen zur künstlichen
Befruchtung bei Frauen, die das 40. Lebensjahr vollendet hätten, nicht durchgeführt werden sollten; Ausnahmen seien
nach gutachterlicher Beurteilung der Erfolgsaussichten nur bei Frauen zulässig gewesen, die das 45. Lebensjahr noch
nicht vollendet hatten. Dem habe die auch statistisch nachgewiesene Erkenntnis zugrunde gelegen, dass der Erfolg
der künstlichen Befruchtung mit dem Alter der Ehefrau insbesondere ab dem 40. Lebensjahr abnehme und es zu einer
deutlichen Erhöhung von Schwangerschaftsabbrüchen komme. Die Einführung einer Altersbeschränkung sei daher
nicht willkürlich.
Gegen das ihnen am 19. bzw. 20. Mai 2005 zugestellte Urteil haben die Kläger am 8. Juni 2005 Berufung eingelegt.
Sie halten an ihrer Auffassung fest, die Neuregelung des § 27a SGB V in der seit dem 1. Januar 2004 geltenden
Fassung sei verfassungswidrig. Eine gebotene Kosteneinsparung sei durch generelle Einschränkungen zu erreichen,
anderenfalls verstoße die Regelung gegen Art. 3 Grundgesetz (GG). Für die Kostenübernahme einer Heilbehandlung
dürfe das Alter kein Kriterium sein. Es treffe nicht zu, dass Maßnahmen der künstlichen Befruchtung bei 40-jährigen
Frauen nur selten erfolgreich seien. Nach erfolgreichem Embryonentransfer bestehe für die Einnistung keine
altersspezifische Einschränkung. Wenn die Ursache der Sterilität eines Paares wie im vorliegenden Fall beim
Ehemann liege, weise die Statistik bei ICSI-Behandlungen nicht auf eine verminderte Schwangerschaftsrate bei über
40-jährigen Frauen hin. Auch verstoße es gegen Art. 6 GG, wenn einem eingeschränkt zeugungsfähigen Mann unter
50 Jahren die Kostenübernahme einer Heilbehandlung verwehrt werde, weil seine Ehefrau über 40 sei, einer Erfolg
versprechenden Behandlung aber keine tatsächlichen Hindernisse entgegenstanden.
Die Kläger haben die Rechnungen über die im Mai 2004 durchgeführte ICSI/IVF-Behandlung vorgelegt.
Die Kläger beantragen (sinngemäß), den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Darmstadt vom 29. April 2005 und den
Bescheid der Beklagten vom 15. März 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juli 2004
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihnen die Kosten für die ICSI/IVF-Behandlung im Mai 2004 in Höhe von
3.588,58 EUR zu erstatten.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend. Ergänzend weist sie darauf hin, dass die beantragte
Erstattung der vollen Kosten ohnehin nicht in Betracht komme, weil aufgrund der seit dem 1. Januar 2004 geltenden
Rechtslage lediglich ein Anspruch auf Übernahme von 50 v.H. der Kosten der künstlichen Befruchtung bestehe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der
Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der Entscheidung war, Bezug genommen. Die Beteiligten haben sich
mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte über die Berufung ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten damit
einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz SGG –).
Die zulässige Berufung der Kläger hat in der Sache keinen Erfolg. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts ist nicht
zu beanstanden. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren
Rechten. Diese haben keinen Anspruch auf Übernahme auch nur anteiliger Kosten für die im Mai 2004 durchgeführte
ICSI/IVF-Behandlung.
Als Anspruchsgrundlage für das Begehren der Kläger kommt allein § 13 Abs. 3 SGB V in Betracht. Konnte die
Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht
abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der
Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war (Satz 1).
§ 13 Abs. 3 SGB V gewährt damit einen Erstattungsanspruch für den Ausnahmefall, dass eine von der Krankenkasse
geschuldete notwendige Behandlung infolge eines Mangels im Leistungssystem der Krankenversicherung als Dienst-
oder Sachleistung nicht oder nicht in der gebotenen Zeit zur Verfügung gestellt werden konnte. Daran fehlt es im
vorliegenden Fall, weil die von den Klägern im Mai 2004 durchgeführten Maßnahmen zur Herbeiführung einer
Schwangerschaft von der Beklagten als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung nicht geschuldet wurden. Der
Anspruch scheitert, wie das Sozialgericht zutreffend dargelegt hat, an der in § 27a Abs. 3 Satz 1 SGB V in der seit
dem 1. Januar 2004 geltenden Fassung normierten Altersgrenze. Denn die Klägerin, die 1963 geboren ist, hatte im
Mai 2004 das 40. Lebensjahr bereits vollendet. Das Sozialgericht hat auch ausführlich und überzeugend dargelegt,
dass diese Vorschrift in Ermangelung einer Übergangsregelung auf die Klägerin Anwendung findet. Zur Vermeidung
von Wiederholungen nimmt der Senat insoweit auf die Ausführungen im Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bezug
und sieht gemäß § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Begründung ab.
Soweit die Kläger die Altersgrenze in § 27a Abs. 3 SGB V für verfassungswidrig halten, folgt der Senat dem nicht. Ein
Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG hat bereits das Sozialgericht mit
überzeugenden Gründen, denen sich der Senat anschließt, verneint. Die Gesetzgebungsmaterialien zeigen, dass der
Gesetzgeber bei seiner Entscheidung nachvollziehbare medizinische als auch sozialpolitische Erwägungen angestellt
hat, aufgrund derer er es für gerechtfertigt ansah, staatliche Leistungen insoweit nur bis zu bestimmten Altersgrenzen
zur Verfügung zu stellen. An der Sachgerechtigkeit dieser Grenzziehung gibt es aus der Sicht des Senats keine
Zweifel; solche sind auch in Rechtsprechung und Literatur bisher von keiner Seite erhoben worden (vgl. dazu auch
BSG, Urteil vom 22. März 2005, B 1 KR 11/03 R = SozR 4-2500 § 27a Nr. 1).
Auch aus Art. 6 Abs. 1 GG ergibt sich kein anderes Ergebnis. Zwar umfasst der grundgesetzliche Schutz der Familie
auch die freie Entscheidung der Eltern, ob, wann und wie viele Kinder sie haben wollen. § 27a SGB V enthält jedoch
weder ein Verbot, überhaupt ein Kind zu bekommen, noch ein Verbot, sich einer ICSI-Behandlung zu unterziehen. Die
Vorschrift ist allenfalls geeignet, die Entscheidung für oder gegen eine solche Behandlung unter finanziellen
Gesichtspunkten mittelbar zu beeinflussen. Aus Art. 6 Abs. 1 GG kann jedoch kein Anspruch dahingehend abgeleitet
werden, dass der Staat die finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen hat, die erforderlich sind, um außerhalb des
natürlichen Zeugungsvorgangs Kinder bekommen zu können. Das Gebot, die Familie zu fördern, begründet keinen
Anspruch auf bestimmte staatliche Leistungen (Bundesverfassungsgericht – BverfG –, Urteil vom 7. Juli 1992, 1 BvL
51/86; BverfG 87, 1, 35). Aus der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip lässt sich
zwar die allgemeine Pflicht des Staates zur Förderung der Familie entnehmen, nicht aber die Entscheidung darüber, in
welchem Umfang und in welcher Weise dies zu geschehen hat; insoweit besteht eine grundsätzliche
Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision lagen nicht vor.