Urteil des LSG Hessen vom 05.12.1996

LSG Hes: rücknahme, ermessensausübung, verwaltungsakt, heimatstaat, grobe fahrlässigkeit, arglistige täuschung, besondere härte, neues recht, kriegsopfer, hohes alter

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 05.12.1996 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 11 V 2837/93
Hessisches Landessozialgericht L 5 V 335/95
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 9. Dezember 1994 wird
zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider
Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem
Bundesversorgungsgesetz (BVG) im Verfahren nach § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren (SGB X).
Der 1933 geborene Kläger lebt als kroatischer Staatsbürger in der Republik Kroatien, der früheren Teilrepublik der
ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ). Der Kläger erlitt am 7. Mai 1945 bei der
Explosion einer Tretmine, mit der er als seinerzeit noch nicht zwölfjähriges Kind spielte, schwere Verletzungen und
verlor das Augenlicht. Wegen dieser Schädigungsfolgen ist er seit 1969 (Bescheid vom 22. Februar 1969) in seinem
Heimatland als ziviles Kriegsopfer anerkannt und bezieht eine Rente als 100 % Invalider (Bescheide vom 5. Oktober
und 6. November 1972). Der Kläger hat zunächst den Beruf des Physiotherapeuten erlernt und ausgeübt, sodann ein
Studium der Geschichte erfolgreich absolviert und ist heute im Gesundheitswesen tätig.
Erstmals am 20. Juli 1988 beantragte der Kläger beim Versorgungsamt Fulda die Gewährung von
Beschädigtenversorgung und gab an, als 11-jähriges Kind in seinem Heimatdorf R. in der Gemeinde V. G. bei Z. am
7. Mai 1945 bei der Explosion einer von Deutschen Truppen hinterlassenen Tretmine schwer verletzt worden zu sein
und dabei unter anderem das Augenlicht verloren zu haben. Wegen dieser Schädigung erhalte er seit 1969 Versorgung
als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatstaat. Zur weiteren Begründung fügte der Kläger ärztliche Unterlagen,
Bescheide sowie einen Zahlungsbeleg über seine Rente als ziviles Kriegsopfer bei. Nach weiteren Ermittlungen
erkannte das Versorgungsamt Fulda mit Bescheid vom 17. Januar 1991 die vom Kläger geltend gemachten
Gesundheitsstörungen ("Verlust beider Augen, Schwerhörigkeit beiderseits, Bewegungsbehinderung im linken
Ellenbogengelenk”) mit einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. als Schädigungsfolgen
nach dem BVG an und gewährte Beschädigtenrente sowie Schwerstbeschädigtenzulage und Pflegezulage im
Gesamtbetrag von 519 DM ab Juli 1988 und in Höhe von 760 DM ab Juli 1990. Den Erhalt dieses Bescheides
bestätigte der Kläger mit einem Schreiben, das am 15. Februar 1991 beim Versorgungsamt einging. Jeweils am 3.
Juni 1991 und 1992 wurden die Versorgungsbezüge gemäß dem 20. KOV Anpassungsgesetz angehoben.
In der Begründung des Bewilligungsbescheides vom 17. Januar 1991 war unter anderem ausgeführt worden, daß dem
Kläger die Versorgungsleistungen als sogenannte "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG
zuerkannt werde. Den Bescheid vom 17. Januar 1991 nahm das Versorgungsamt Fulda durch Rücknahmebescheid
vom 11. Januar 1993 ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Wirkung vom 1. Februar 1993 zurück. Zur Begründung
wurde ausgeführt, der Bewilligungsbescheid sei rechtswidrig gewesen, da der Kläger wegen derselben Ursache einen
Anspruch auf Zivil-Invalidenrente gegenüber seinem Heimatstaat habe. Gemäß § 7 Abs. 2 BVG sei aber eine
Doppelversorgung ausgeschlossen. Diese gesetzliche Bestimmung sei bei Erteilung des ursprünglichen
Bewilligungsbescheides nicht beachtet worden, weshalb dieser Bescheid rechtswidrig gewesen sei. Seine Rücknahme
setze zwar voraus, daß das Interesse des Bürgers an der Aufrechterhaltung des Vorteils nicht höher zu bewerten sei,
als das öffentliche Interesse des Staates und der Allgemeinheit an der Beseitigung der Rechtswidrigkeit eines
Bescheides. Die Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides sei aber aus öffentlichem Interesse geboten. Es sei
dabei zu Gunsten der Interessen des Klägers berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des
rechtswidrigen Bescheides allein im Verantwortungsbereich der deutschen Verwaltung liege. Diese führe jedoch nicht
zur Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Klägers in den Bestand des Bescheides. Im Rahmen der gebotenen
Ermessensprüfung sei auch die persönliche Situation des Klägers gewürdigt worden; die niedrige Höhe der
Versorgung im Heimatstaat könne jedoch nicht zu einer Ermessensausübung zu seinen Gunsten führen, weil
deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß auf die wirtschaftlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Klägers
haben könnten.
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger mit Schreiben vom 29. März 1993 (Eingang 2. April 1993) Widerspruch und
machte geltend, er habe auf den Bestand des Bescheides vertraut und die Rücknahme nicht nachvollziehen können.
Der Entzug der Versorgungsbezüge aus Deutschland bedeute für ihn eine Härte, weil die Versorgungsbezüge einen
erheblichen Teil seines Einkommens ausmachten. Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 wies der Beklagte
den Widerspruch als unbegründet zurück und führte unter anderem aus, es sei auch geprüft worden, ob im Rahmen
des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden
könne. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen
wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden aber bei Beziehern von Sozialleistungen vielfach
vorliegen und könnten deshalb nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte
sein dürfen. Gegen den ihm am 6. August 1993 unter Vermittlung der Deutschen Botschaft in Z. mittels
eingeschriebenem Brief (Rückschein) zugegangenen Widerspruchsbescheid richtet sich die am 8. November 1993
(einem Montag) beim Sozialgericht Frankfurt am Main eingegangene Klage. Der Kläger hat unter anderem
vorgetragen, daß ihn als Geschädigtem keine Schuld an einem möglichen Fehler beim Erlaß des Bescheides durch
die deutsche Verwaltung treffe. Er sei als junger Mensch in einem Kampfgebiet des Zweiten Weltkrieges schwer
geschädigt worden; die Versorgungsleistungen aus Deutschland bedeuteten für ihn einen wichtigen Bestandteil des
Einkommens. Sein Gesundheitszustand habe sich verschlechtert und er müsse befürchten, vorzeitig seine
Erwerbstätigkeit beenden zu müssen. Er hat deshalb beantragt, ihm die Versorgungsleistungen weiter zu zahlen.
Mit Urteil vom 9. Dezember 1994 hat das Sozialgericht den Bescheid vom 11. Januar 1993 und den
Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 aufgehoben und in den Entscheidungsgründen unter anderem ausgeführt,
eine Aufhebung des Bewilligungsbescheides habe nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X erfolgen können.
Dahingestellt bleiben könne, ob der ursprüngliche Verwaltungsakt überhaupt rechtswidrig gewesen sei, wie auch, ob
der Aufhebungsbescheid schon allein deshalb rechtswidrig sei, weil der Kläger vor Erlaß dieses, in seine Rechte
eingreifenden Bescheides, gar nicht angehört worden sei. Jedenfalls habe, so das Sozialgericht, der Beklagte von
dem ihm eingeräumten Ermessen nicht in richtiger Weise Gebrauch gemacht. Auch nach Prüfling der Frage, ob das
öffentliche Interesse an der Aufhebung des rechtswidrigen Bescheides das Interesse des Klägers am Bestand des
Verwaltungsaktes überwiege, verbleibe dem Beklagten ein Spielraum und die Verpflichtung zur Ausübung
sachgerechten Ermessens. Auf diese Ermessensausübung habe der Kläger einen Rechtsanspruch. In den
Entscheidungen sowohl im angefochtenen Bescheid wie auch im Widerspruchsbescheid habe der Beklagte nicht auf
die individuellen, einzelfallbezogenen Umstände des Klägers abgestellt. Hinsichtlich des Rücknahmebescheides sei
dies schon deshalb offenkundig, weil der Kläger vor dessen Erlaß nicht angehört worden sei und der Beklagte folglich
mangels aktueller Kenntnisse der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers eine individuelle Würdigung
gar nicht habe vornehmen können. Entsprechendes gelte aber auch für die Ausführungen zur Ermessensausübung in
der Begründung des Widerspruchsbescheides. Die dort gebrauchten Formulierungen deuteten darauf hin, daß das
beklagte Land bei seiner Entscheidung gerade nicht auf die individuellen Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalles
abgestellt habe und auch nicht abstellen wollte, sondern nur solche Aspekte berücksichtigt habe, die für alle Fälle der
Gewährung von Versorgungsleistungen an Zivilkriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen würden. Das Fehlen
jeglicher, auf den Einzelfall bezogener Ausführungen zur Ermessenausübung zeige sich auch in der
Verwaltungspraxis des beklagten Landes, weil in allen dem vorliegenden vergleichbaren Fällen nach Kenntnis des
Gerichtes einheitlich entschieden worden sei. Dem Gericht sei bekannt, daß nach Bekanntwerden des Urteils des
Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 von selten des beklagten Landes in ca. 300 Fällen praktisch
gleichlautende Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen worden seien. Dies schließe das Sozialgericht
aufgrund der ihm bekannten Akten in rund 100 vergleichbaren Streitverfahren. Aus der Tatsache, daß der Beklagte vor
Erlaß des Widerspruchsverfahrens keine Anhörung durchgeführt habe, könne auch geschlossen werden, daß gar nicht
die Absicht bestanden hat, eine individuelle Entscheidung zu treffen. Der Rücknahmebescheid und der
Widerspruchsbescheid seien deshalb wegen nicht ordnungsgemäßer Ausübung des eingeräumten Ermessens
rechtswidrig und hätten aufgehoben werden müssen.
Gegen das ihm gegen Empfangsbekenntnis am 20. März 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte die am 30. März
1995 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung eingelegt. Er vertritt die Ansicht, daß bei
Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall überhaupt kein
Ermessensspielraum bestehe. Dies habe der 9. (9/9 a) Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden.
Soweit sich das erstinstanzliche Gericht für seine Auffassung, es sei Ermessen auszuüben gewesen (und nicht
pflichtgemäß ausgeübt worden) auf Rechtsprechung anderer Senate des BSG beziehe, sei diese Rechtsprechung im
Sozialen Entschädigungsrecht nicht einschlägig. Im Falle des Klägers handele es sich um einen klassischen
Regelfall, weshalb keinerlei Ermessen hätte ausgeübt werden müssen. Auch soweit das Sozialgericht meine, die
Verwaltung habe überhaupt kein Ermessen ausgeübt, habe es den Text des angefochtenen Bescheides und des
Widerspruchsbescheides nicht vollständig zur Kenntnis genommen. Es seien sowohl die Höhe der ausländischen
Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relative Gesamteinkommen des Klägers in die
Überlegungen einbezogen worden. Ermittlungen zu den aktuellen Einkommensverhältnissen seien nicht erforderlich
gewesen, da zu Gunsten des Klägers dessen schwierigen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unterstellt
worden seien. Auch soweit das Sozialgericht bemängele, daß der Beklagte die Auswirkungen der kriegerischen
Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien nicht mitberücksichtigt habe, könne ihm nicht gefolgt werden. Der
Kläger selbst sei weder geflohen noch sei sein Haus zerstört worden, auch habe er keinen Arbeitsplatz verloren,
sondern sei vielmehr in seinem zweiten Beruf tätig. Auch unter Berücksichtigung des ihm obliegenden Ermessens
habe deshalb der Beklagte von einer Rücknahme des Bewilligungsbescheides jedenfalls für die Zukunft nicht absehen
können.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 9. Dezember 1994 aufzuheben und die
Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß), die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil, das er für zutreffend hält und vertieft und wiederholt sein Vorbringen aus dem
Widerspruchs- und Klageverfahren. Er verweist auf sein besonders schweres Schicksal als Blinder und macht
geltend, daß sich sein Gesundheitszustand weiter verschlechtert habe, weshalb nicht auszuschließen sei, daß er
seine Erwerbstätigkeit vorzeitig werde beenden müssen.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung sind weder der Kläger noch seine Prozeßbevollmächtigte erschienen.
Für den Sach- und Streitstand im übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichts- und Verwaltungsakte (B-Akten des
Versorgungsamtes Fulda, Archiv-Nummer ), die dem Senat vorgelegen haben und auszugsweise zum Gegenstand
der mündlichen Verhandlung am 5. Dezember 1996 gemacht worden sind.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht
erschienen ist und nicht vertreten war, denn mit der Ladung ist darauf hingewiesen worden, daß auch im Falle des
Ausbleibens des Klägers eine Entscheidung nach Lage der Akten ergehen könne (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 153 Abs. 1
SGG).
Die Berufung ist zulässig; sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden sowie an sich statthaft (§ 151 i.V.m. §§ 143,
144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist sachlich jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 9.
Dezember 1994 den Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.
Juli 1993 aufgehoben, weil diese Verwaltungsentscheidungen rechtswidrig sind und den Kläger beschweren.
Das Sozialgericht konnte auch in der Sache entscheiden, weil die Klage – was auch vom Berufungsgericht von Amts
wegen zu prüfen ist – fristgerecht eingegangen ist. Es kann dahinstehen, ob die Zustellung des
Widerspruchsbescheides mittels eingeschriebenem Brief und Rückschein unter Vermittlung der Deutschen Botschaft
in Z. den Anforderungen an eine Zustellung im Ausland nach dem Verwaltungszustellungsgesetz genügt. Denn
ausweislich des Rückscheins hat der Kläger den Widerspruchsbescheid am 6. August 1993 erhalten. Die bei
Auslandszustellungen eingeräumte Frist zur Erhebung der Klage von drei Monaten lief danach am 6. November 1993
ab; da es sich hierbei um einen Samstag handelte, war die am nächsten Werktag, Montag den 8. November 1993,
beim Sozialgericht Frankfurt am Main eingegangene Klage noch fristgerecht erhoben worden.
Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet
oder bestätigt hat und der rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den
Einschränkungen der Abs. 2–4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit
zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht
zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein
Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der
Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen
hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Abs. 2 Satz 2 von § 45 SGB
X). Auf das Vertrauen kann sich der Begünstigte (nur dann) nicht berufen, soweit
1) er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, 2) der Verwaltungsakt auf
Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder
unvollständig gemacht hat, oder 3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober
Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in
besonders schwerem Maße verletzt hat (Satz 3 von Abs. 2 § 45 SGB X).
Der dem Kläger Versorgungsleistungen gewährende Bescheid des Versorgungsamtes Fulda vom 17. Januar 1991 war
rechtswidrig, weil der Kläger gleichzeitig Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat bezogen hat und
bezieht. Eine solche Doppelversorgung ist nach § 7 Abs. 2 BVG ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger
Rechtsprechung hierzu entschieden, daß zivilen Kriegsopfern, welche für die im Krieg erlittenen Beschädigungen von
ihren Heimatstaaten Leistungen erhalten, keine Versorgungsleistungen nach dem BVG (auch nicht gemäß § 8 BVG
im Rahmen einer Ermessensentscheidung mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit) gewährt werden dürfen.
Dies hatte das BSG zunächst für Kriegsopfer festgestellt, die in ihrem Heimatland Frankreich ähnliche
Versorgungsleistungen erhielten, wie sie das BVG vorsieht (BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 9 RV 188/75 –
SozR 2-3100 § 7 BVG Nr. 2). In mehreren weiteren Urteilen hat das BSG sodann festgestellt, daß ein solcher
Ausschluß von Leistungen nach dem BVG auch dann zu gelten hat, wenn die Versorgungsleistungen des
Heimatlandes im Vergleich zur Versorgung nach deutschem Recht erheblich geringer sind (BSG, Urteile vom 20. Mai
1992 – 9 a RV 11/91 und 12/91 – SozR 3-3100 § 7 BVG Nrn. 1 und 2 und vom August 1993, SozR 3-3100 § 7 BVG
Nr. 3). Diesen Entscheidungen lagen z.T. solche Fälle zugrunde, bei denen, wie hier beim Kläger,
Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer in einem Teilstaat der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik
Jugoslawien (SFRJ) gezahlt wurden (vgl. insbesondere BSG, a.a.O., SozR 3-3100 § 7 BVG Nr. 1). Dieser
Personenkreis hat auch nach dem Zerfall der früheren SFRJ nach dem Recht der nunmehr selbständigen
Teilrepubliken – wie dem Senat aus zahlreichen gleichgearteten Fällen bekannt ist – Anspruch auf eine Rente als
ziviles Kriegsopfer. Jedenfalls die Republiken Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina haben insoweit die früher
geltenden Rechtsnormen fortbestehen lassen bzw. die Rechtsregeln aus der Zeit des Bestehens der SFRJ
übernommen oder in neues Recht umgewandelt. Unerheblich ist dabei, ob diese Nachfolgestaaten der SFRJ – sowohl
während des im früheren Jugoslawien tobenden Bürgerkrieges als auch jetzt nach dessen Ende – tatsächlich die
Geldleistungen erbringen, auf die ihre Bürger Anspruch haben. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt es hierauf
auch nicht an (vgl. BSG, a.a.O., SozR 3-3100 § 7 BVG Nr. 1). Ausreichend ist vielmehr, daß die Geschädigten dem
Grunde nach einen Anspruch gegenüber ihrem Heimatstaat haben. Der Kläger hat im Verwaltungsverfahren selbst
noch einen Zahlungsbeleg über eine Rente als ziviles Kriegsopfer – neben den Anerkennungsbescheiden aus dem
Jahre 1977 bzw. 1978 – vorgelegt, wonach feststeht, daß er auch zum Zeitpunkt der Erteilung des Bescheides des
Versorgungsamtes Fulda vom 17. Januar 1991 noch eine Rente seines Heimatstaates erhielt. Da demnach eine
Doppelversorgung vorlag, die nach § 7 Abs. 2 BVG hätte ausgeschlossen sein sollen, war der Bescheid des
Versorgungsamtes vom 17. Januar 1991 rechtswidrig, weshalb der Beklagte grundsätzlich ein Verfahren zur
Rücknahme dieses Bescheides nach § 45 SGB X einzuleiten hatte.
Der Rücknahmebescheid vom 11. Januar 1993 und der Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 sind auch nicht
schon deshalb rechtswidrig, weil vor Erlaß des ersten Bescheides keine Anhörung erfolgt ist. Zwar ist nach § 24 Abs.
1 SGB X einem Betroffenen vor Erlaß eines Verwaltungsaktes, der in seine Rechte eingreift, Gelegenheit zu geben,
sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Von dieser Notwendigkeit der vorherigen
Anhörung konnte der Beklagte auch nicht nach § 24 Abs. 2 SGB X absehen, weil insbesondere kein Fall des § 24
Abs. 2 Nr. 4 SGB X vorliegt, wonach die Anhörung unterbleiben kann, wenn "gleichartige Verwaltungsakte größerer
Zahl” zu erlassen sind. Der Beklagte hat zwar, wie er selbst vorträgt, in ca. 300 ähnlichen Fällen
Rücknahmebescheide erlassen. Gleichwohl liegen keine gleichartigen Verwaltungsakte im Sinne des § 24 Abs. 2 Nr.
4 SGB X vor, weil die Verwaltungsakte nicht aufgrund weniger, typisierender Grundmerkmale formularmäßig ergehen
konnten, sondern eingehende individuelle Ermittlungen notwendig waren (vgl. Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch –
Verwaltungsverfahren – Kommentar, K § 24 SGB X Rdz. 16). Bei Aufhebungsbescheiden, die nach § 45 SGB X
ergehen, sind regelmäßig individuelle Ermittlungen und Abwägungen notwendig; dies ergibt sich schon aus dem
Gesetzestext. Es kann dahinstehen, ob sich der Beklagte auf § 24 Abs. 2 Nr. 2 SGB X berufen konnte, weil nicht
festgestellt werden kann und auch vom Beklagten nicht dargelegt worden ist, weswegen erst im Januar 1993 ein
Verwaltungsverfahren zur Rücknahme der Bewilligungsbescheide eingeleitet wurde, obwohl die bereits zuvor
bestehende Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 25. November 1976 – SozR 2-3100 § 7 Nr. 2) – schon lange vorher
hätte bekannt sein müssen und auch die klarstellenden Urteile zur Auslandsversorgung von Bürgern der früheren
SFRJ bereits am 20. Mai 1992 ergangen waren. Der Beklagte, der selbst Verfahrensbeteiligter der am 20. Mai 1992
ergangenen Entscheidungen war, weil er für die Auslandsversorgung auf dem Staatsgebiet der früheren SFRJ
zuständig ist, mußte von der Entscheidung vom 20. Mai 1992 und den sie tragenden Gründen bereits innerhalb kurzer
Zeit informiert gewesen sein und hätte deshalb alsbald handeln und die Betroffenen informieren und anhören können.
Der Mangel der unterbliebenen Anhörung ist aber gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt worden, weil dem Kläger im
Widerspruchsverfahren Gelegenheit gegeben wurde, sich zu äußern. Deshalb kann der Bescheid vom 11. Januar 1993
– in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 1993 – insoweit nicht beanstandet werden.
Im Ergebnis zutreffend hat jedoch das Sozialgericht Frankfurt am Main in seinem Urteil vom 9. Dezember 1994
festgestellt, daß der angefochtene Rücknahmebescheid wie auch der Widerspruchsbescheid rechtswidrig sind, weil
der Beklagte das nach § 45 Abs. 1 SGB X ihm eingeräumte Ermessen nicht in rechtlich einwandfreier Form ausgeübt
hat (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Grundsätzlich ist es dem Gericht verwehrt, Ermessensfragen zu prüfen, bevor die
richterlich voll nachprüfbaren Voraussetzungen für das Vorliegen bzw. den Wegfall eines Vertrauenstatbestandes
nach § 45 Abs. 1 in Verbindung mit den Abs. 2–4 SGB X erörtert worden sind (vgl. hierzu BSG, SozR 2-1300 § 45
SGB X Nr. 20). In besonders gelagerten Einzelfällen kann es aber aus prozeßökonomischen Gründen geboten sein,
die Sachgerechtigkeit der Ermessensausübung vorab zu prüfen (vgl. Grüner, Sozialgesetzbuch –
Verwaltungsverfahren, – SGB X – Kommentar, § 45 Erläuterung III. 7). Solche prozeßökonomischen Gründe sind hier
gegeben. Zwar kann im Hinblick auf die Daten des Erlasses und der Absendung des Erstanerkennungsbescheides
vom 17. Januar 1991 (abgesandt am 24. Januar 1991; Eingang vom Kläger bestätigt vor dem 15. Februar 1991) davon
ausgegangen werden, daß der Rücknahmebescheid vom 11. Januar 1993, dessen Zugang der Kläger mit Schreiben
vom 29. März 1993 bestätigt hat, noch innerhalb der dem Beklagten nach § 45 Abs. 3 SGB X eingeräumten Frist von
zwei Jahren dem Kläger zugegangen ist. Jede weitere Sachaufklärung aber ist schon allein dadurch erschwert, daß
der Schriftverkehr mit dem Kläger ins fremdsprachige Ausland geführt werden muß und genaue Antragen und
Auskünfte nur zu erhalten sind, wenn die entsprechenden Schriftstücke ins Kroatische übersetzt werden. Hieran
ändert sich auch nichts Grundsätzliches deshalb, weil der Kläger durch eine Dolmetscherin vertreten ist. Auch die
Anhörung des Klägers zu seinen individuellen Lebensumständen, die im Rahmen einer Prüfung nach § 45 Abs. 2 Satz
1 und Satz 2 SGB X erforderlich ist, kann nur über die Prozeßbevollmächtigte und Dolmetscher erfolgen.
Nach § 45 Abs. 1 SGB X aber "darf” jedoch ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar
geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Aus
dieser Formulierung ergibt sich, daß die Verwaltung nicht schlechthin verpflichtet ist, jeden rechtswidrigen
Verwaltungsakt zurückzunehmen. Selbst wenn die Voraussetzungen der Abs. 2–4 von § 45 SGB X gegeben sind und
insoweit eine Rücknahme grundsätzlich in Betracht kommt, steht es im Ermessen der Verwaltung, von einer
Rücknahme abzusehen (BSG, Urteil vom 18. August 1983 – 11 RZ/Lw 11/82 = SozR 2-1300 § 52 Nr. 3; Urteil vom
25. Oktober 1984 – 11 RA 24/84 SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 12; Urteil vom 14. November 1985 – 7 RAr 123/84 =
SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 19; Urteil vom 28. November 1994 – 10 RKg 15/94 –; Urteil vom 24. Januar 1995 – 8
RKn 11/93 –; vgl. auch Kasseler Kommentar – Steinwedel § 45 SGB X Rdnr. 52; Hauck/Haines a.a.O., K § 45 SGB X
Rdz. 16; Grüner, a.a.O., § 45 Erläuterungen III. 7). Nur bei ganz wenigen, eingeschränkten Fallkonstellationen kann
davon ausgegangen werden, daß das Ermessen zur Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden
Verwaltungsaktes derart auf "Null” reduziert ist, daß die Verwaltung nur diese und keine andere Entscheidung treffen
kann und darf. So wird allgemein anerkannt, daß bei vorsätzlicher, betrügerischer Leistungserschleichung auf jeden
Fall eine Rücknahme des begünstigenden Verwaltungsaktes erfolgen muß. Bereits für den Fall fahrlässiger
Bösgläubigkeit im Hinblick auf wesentliche, für den Erlaß des rechtswidrigen Bescheides maßgeblichen Tatsachen
(Abs. 2 Nrn. 2 und 3 von § 45 SGB X) wird in der neueren Rechtsprechung des BSG teilweise eine
Ermessensreduzierung auf "Null” vertreten, teilweise aber auch nicht (vgl. BSG, SozR 3-1300 § 50 Nr. 16 einerseits
und andererseits BSG, Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93).
Für den Bereich der Kriegsopferversorgung wird in der Rechtsprechung des 9/9 a-Senates – wie dies vom Beklagten
zutreffend ausgeführt worden ist – die Auffassung vertreten, daß "in den üblichen Fällen” eine Ermessensreduzierung
auf "Null” eintritt und damit weitere Erwägungen der Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens weder erforderlich
sind noch dargelegt werden müssen (BSG, Urteil vom 25. Juni 1986 – 9 a RVg 2/94 – = BSGE 60, 147 ff.). Begründet
wird diese einschränkende Interpretation des § 45 SGB X unter Bezugnahme auf Formulierungen im
Rücknahmetatbestand der früher geltenden §§ 40, 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes zum Kriegsopferrecht
(KOVVfG). Diese Begründung hält der erkennende Senat jedoch nicht mehr für überzeugend, weil das SGB X
sämtliche Verfahrensvorschriften der Sozialleistungsbereiche, für die es gilt, abgelöst hat und deshalb auch die
Vorschriften des KOVVfG nicht mehr Anwendung finden. Die Regelungen des SGB X hatten die Vereinheitlichung des
Verfahrensrechts und der für ein rechtsstaatliches Verfahren geltenden Maßstäbe im gesamten Sozialrecht zum Ziel.
Besondere Regelungen und "bereichsspezifische” Interpretationen für Teile des Sozialleistungsrechts können deshalb
nur gelten, wenn sie auch aus den seit Erlaß des SGB X ergangenen und heute geltenden Vorschriften herzuleiten
sind. So hat z.B. der parlamentarische Gesetzgeber für den Bereich der Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit und
das Arbeitsförderungsrecht mit der am 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Neufassung des § 152 Abs. 2 des
Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) klargestellt, daß das der Verwaltung durch § 45 SGB X eingeräumte Ermessen in
besonders gelagerten Fällen ausdrücklich eingeschränkt werden sollte. Der grundsätzliche Vorrang der Regelungen
des SGB X und ihre einheitliche Interpretation sind auch im sozialen Entschädigungsrecht zu beachten. Normen, die
nach Inkrafttreten des SGB X Geltung erlangt haben und die eine Einschränkung der Notwendigkeit zur
Ermessensausübung für die Versorgungsverwaltung begründen könnten, sind weder in der zitierten Rechtsprechung
des 9/9 a-Senates des BSG angeführt noch vom Beklagten benannt worden; auch der erkennende Senat vermag
solche nicht zu erkennen und/oder zu benennen. Der Senat verkennt dabei nicht, daß in den Regelfällen, wie sie in §
45 Abs. 2 SGB X normiert sind, es der Verwaltung schwer fallen wird, weitere Gesichtspunkte bei der
Ermessensprüfung zu benennen, die nicht schon bereits bei der Prüfung des Vertrauenstatbestandes Erwähnung
gefunden haben (vgl. hierzu Haus, SGb 1987, S. 190 ff.). Die gesetzliche Regelung schließt es jedoch nicht aus, bei
der Ermessensausübung wieder auf die Gesichtspunkte zurückzugreifen, die bereits zur Versagung des
Vertrauensschutzes geführt haben (Kasseler Kommentar – Steinwedel, a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53 unter
Bezugnahme auf BSGE 59, 157 ff., 169 f.). Die bislang – soweit erkennbar – vom 9/9 a-Senates des BSG noch
ausdrücklich vertretene Auffassung zur Reduzierung des den Verwaltungsbehörden eingeräumten Ermessens auf
"Null” kann der erkennende Senat, wie schon bisher, nicht zur Grundlage seiner Entscheidungen machen (vgl. HLSG,
Urteile vom 17. Januar 1991 – L-5/V-747/87 – und vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und – 345/95 –).
Jedenfalls für den vorliegenden Fall geht der Senat davon aus, daß es sich nicht um einen solchen Regelfall handelt,
bei dem die Verwaltung des Beklagten auf jegliche Ermessenserwägungen verzichten konnte und auch nicht um einen
Fall, bei dem es für die erforderliche Ermessensausübung ausreichend war, lediglich mit floskelhaften allgemeinen
Ausführungen, die jegliches Eingehen auf die besonderen Umstände des Klägers vermissen ließen, von dem
eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen. Insoweit handelt es sich um den Fall des Ermessensfehlgebrauchs
durch "Ermessensunterschreitung” (Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 5. Aufl., § 54 Rdnrn. 25, 30). Von
Ermessensunterschreitung wird gesprochen, wenn die Behörde den ihr eingeräumten Spielraum irrtümlich zu eng
einschätzt oder wenn sie grob gegen Anforderungen, die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellen sind,
verstößt (Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 30).
Der Senat sieht vorliegend Umstände gegeben, die eine sorgfältige und differenzierte Ermittlung erforderlich und –
nachfolgend – eine ebensolche Ermessensausübung unerläßlich machte. Der Kläger lebte zum Zeitpunkt der
Entscheidung in Kroatien, einem Teil der ehemaligen SFRJ, in dem Krieg herrschte, bei dem es zu teilweise
völkerrechtswidrigen und außerordentlich grausam geführten Maßnahmen der Kriegsparteien kam. Er hat geltend
gemacht, daß seine wirtschaftliche Existenz von Leistungen nach dem BVG – auch wenn sie rechtswidrig bewilligt
sein sollten – abhänge und aufs äußerste gespannt und bedroht war. Soweit man nicht allein die Tatsache, daß der
Kläger zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen beeinträchtigt worden war, für ausreichend
hält, um zusätzliche weitere Ermessenserwägungen zu fordern, so ist der Beklagte jedoch in keiner Weise erkennbar
dem Vorbringen des Klägers, weiter nachgegangen, daß der vollständige Entzug der seit Erlaß des Bescheides im
Jahre 1991 bewilligten Leistung für ihn eine besondere Härte bedeuten würde und zur Verarmung des Klägers und
seiner Familie führen müßte. Auch hat der Beklagte weder den verschlechterten Gesundheitszustand des Klägers
noch besonders berücksichtigt, daß der Kläger als Kriegsblinder zu einer überdurchschnittlich schutz- und
förderungsbedürftigen Gruppe von Beschädigten gehört. Insoweit erweisen sich die von dem Beklagten angestellten
Ermessenserwägungen zur Überzeugung des Senates als rechtlich nicht haltbar, weil der Beklagte
Härtegesichtspunkte nicht weiter aufgeklärt und deshalb von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß
Gebrauch machten konnte. Zwar steht es der Behörde in den Grenzen ihres Ermessens in der Regel frei, auf welche
Umstände sie abstellen will (vgl. BSG in SozR 3-1300 § 45 SGB X Nrn. 2 und 5). Ermessen ist dann von den
Gerichten allein daraufhin zu überprüfen, ob von der Verwaltung bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände
berücksichtigt worden sind (BSG, Beschluss vom 10. August 1993 – 9 BV 4/93, Kasseler Kommentar, Steinwedel
a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53). Um die Ermessensentscheidung überhaupt einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich
zu machen, sieht daher § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X vor, daß bei einem Verwaltungsakt, der nach pflichtgemäßem
Ermessen ergeht, die wesentlichen Gesichtspunkte schriftlich mitgeteilt werden müssen, von denen die
Verwaltungsbehörde bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist. Dabei können Billigkeitsgesichtspunkte (BSG in SozR
2-1300 § 45 SGB X Nr. 34), die wirtschaftlichen Folgen für den Betroffenen (BSGE 59, S. 157 ff.) und – nicht zuletzt –
das Verschulden des Leistungsträgers ebenso wie das Verschulden des Leistungsempfängers (BSG, SozR 3-1300
a.a.O. Nr. 2) berücksichtigt werden. Auf jeden Fall aber sind die sog. besonderen Härtetatbestände mit einzubeziehen,
wie etwa ein hohes Alter und das psychische Befinden (Frehse, VersorgB 1987, S. 31 ff.), die familiäre Situation,
unverschuldete Notlagen oder schwere Krankheiten und auch solche besonderen Umstände, die es allgemein
rechtfertigen, von einer besonderen Härte ausgehen. Das Vorliegen solcher Härtegesichtspunkte hat die Verwaltung
im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 20 SGB X von Amts wegen zu prüfen (vgl. z.B. Grüner a.a.O.,
§ 45 SGB X, Erl. III/7.). Ermessensentscheidungen – insbesondere, wenn Anlaß für die Einbeziehung von
Härtegesichtspunkten besteht – sind dann als individuelle Einzelfallentscheidungen zu treffen, die auf jede
Besonderheit abstellen und versuchen müssen, ihr gerecht zu werden. Leerformeln in einem Verwaltungsakt, die
inhaltlich nichts aussagen, reichen für die Darlegung der maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte nicht aus (BSGE
59, 157 ff.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen, die sich der Senat zu eigen macht, kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß der
Beklagte von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht pflichtgemäß Gebrauch gemacht hat. In dem angefochtenen
Bescheid vom 11. Januar 1993 heißt es lediglich: "Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung wurde Ihre
persönliche Situation gewürdigt. Die niedrigere Höhe der Versorgung Ihres Heimatstaates kann nicht zu einer
Ermessensausübung zu Ihren Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche
Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben. Eine Ermessensausübung zu Ihren Gunsten kommt daher nicht in
Betracht.” Mit diesen Ausführungen hat der Beklagte jedoch gerade nicht auf den Einzelfall Bezug genommen und ist
nicht auf die besondere Situation des Klägers eingegangen. Er hat nur auf alle ähnlichen bzw. vergleichbaren Fälle
von denjenigen Leistungsempfängern verwiesen, bei denen eine äußerst geringfügige Versorgungsleistung vom
Heimatstaat gewährt wird. Die Ausführungen im Bescheid vom 11. Januar 1993 lassen nicht erkennen, inwieweit eine
individuelle Ermessensentscheidung getroffen worden ist. Auch im Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993, in dem
der Beklagte eine Ermessensentscheidung noch hätte nachholen können, wird lediglich ausgeführt: "Es ist ferner
geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden
Leistungen abgesehen werden kann. Es ist bekannt, daß Sie schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sind
und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Diese Umstände treffen bei Sozialleistungen vielfach zu und
können bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt wird, was nach dem Gesetz nicht hätte
sein dürfen”. Auch hierin liegt zur Überzeugung des erkennenden Senates lediglich ein standardisierter,
leerformelartiger Text vor, der in keinem Fall geeignet war und ist, auf die jeweils besondere Lebenslage der im
Kriegsgebiet der ehemaligen SFRJ lebenden Leistungsempfänger einzugehen. Zu Recht hat das Sozialgericht
Frankfurt am Main deshalb darauf hingewiesen, daß praktisch dieselbe Formulierung in allen 100 beim Sozialgericht
anhängigen Klageverfahren und in insgesamt rund 300 Verwaltungsverfahren benutzt worden ist. Dies ist, wie das
Sozialgericht zur Überzeugung des Senates zutreffend ausgeführt hat, gerade ein entscheidender Hinweis darauf, daß
keine individuellen Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind und auch nicht geprüft werden sollten. Zwar ist für den
Bereich einer Massenverwaltung dem Beklagten gegenüber einzuräumen, daß er ohne die Verwendung von
Textbausteinen heute nicht mehr würde arbeiten können. Dies steht einer sorgfältigen und auf den Einzelfall
bezogenen Ermessenserwägung aber auch nicht entgegen. Neben der Verwendung von standardisierten Texten
enthalten heutige Textverarbeitungssysteme ausreichende Möglichkeiten um ergänzende Textteile einzufügen, in
denen alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt, gewürdigt und in die Begründung des Bescheides
miteinbezogen werden können. Der Kläger war – wenn er auch nicht unmittelbar in Kämpfe einbezogen war – zum
zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen in seiner Heimat betroffen. Er hat ausdrücklich sich
darauf berufen, daß er zum ersten Mal in seinem Leben seit der Erteilung des Anerkennungsbescheides im Jahre
1991 seine Familie angemessen ernähren konnte. Insoweit ist nicht auszuschließen, daß der Kläger, der trotz der
bereits im Kindesalter erlittenen Erblindung zweimal einen Beruf erlernt und ausgeübt hat, nunmehr trotz seiner
Erwerbstätigkeit und des Rentenbezuges im Heimatstaat in große Not geraten könnte. Ein solcher Umstand hätte
zumindest geeignet sein können, eine Ermessensentscheidung auch dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte
Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB
X bestanden hätte. Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob eine solche Entscheidung richtig gewesen wäre und
hätte ergehen können und dürfen. Auf jeden Fall hat der Beklagte schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt,
weil er Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch
bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in die Begründung der Bescheide aufgenommen hat.
Gerade weil sich der Beklagte darauf beruft, daß auch bei Berücksichtigung der zur Überzeugung des Senats zu
diskutierenden Härtegesichtspunkte kein Verzicht auf die Rücknahme hätte erfolgen können, wird zur Überzeugung
des Senates deutlich, daß ein Verwaltungsverfahren mit sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte eben gerade
nicht stattgefunden hat und auch nicht hat stattfinden sollen. Nach übereinstimmender Auffassung in der
Rechtsprechung kann aber im Klage- und Berufungsverfahren bezüglich des angegriffenen Rücknahmebescheides
und des Widerspruchsbescheides die Ermessensprüfung durch den Beklagten nicht mehr nachgeholt werden. Zu
Recht hat deshalb das Sozialgericht Frankfurt am Main die angegriffenen Bescheide aufgehoben. Aus denselben
Gesichtspunkten war auch die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision mußte zugelassen werden, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde
des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.