Urteil des LSG Hessen vom 02.09.2008
LSG HES: somatoforme schmerzstörung, diagnose, fibromyalgie, verdacht, behinderung, komorbidität, widerspruchsverfahren, gonarthrose, operation, kniegelenkserkrankung
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Gericht:
Hessisches
Landessozialgericht
4. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 4 SB 13/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 106 SGG, § 109 SGG, § 69
SGB 9
Verwertbarkeit eines im Schwerbehindertenrecht erstellten
Sachverständigengutachtens
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) nach dem
Neunten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX).
Die 1961 geborene Klägerin beantragte am 17. März 2005 die Feststellung ihrer
Behinderungen wegen Beschwerden an der Hals- und Lendenwirbelsäule. Nach
Auswertung der eingeholten Befundberichte der behandelnden Ärzte stellte der
Beklagte mit Bescheid vom 3. Mai 2005 den GdB mit 20 fest wegen "Wirbelsäulen-
Syndrom, Arm- und Beinbeschwerden". Aufgrund weiterer medizinischer
Ermittlungen im Widerspruchsverfahren stellte der Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 1. Dezember 2005 den GdB ab März 2005 mit 30 fest
unter Beibehaltung der Bezeichnung der Behinderungen. Der Folgezustand nach
Operation eines Karpaltunnelsyndroms bedinge keinen GdB von wenigstens 10
und sei daher nicht zu berücksichtigen gewesen.
Auf die hiergegen am 5. Januar 2006 beim Sozialgericht Gießen erhobene Klage
hat das Sozialgericht zunächst auf Antrag der Klägerin nach § 109
Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein orthopädisches Gutachten von dem
Sachverständigen Dr. RE. vom 13. November 2006 eingeholt, der den GdB auf
orthopädischem Fachgebiet mit 50 bewertet und hierbei u. a. einen Einzel-GdB von
30 für "hochgradigen Verdacht auf Fibromyalgiesyndrom" sowie einen Einzel-GdB
von 20 für eine beginnende bis mittlere Gonarthrose, links mehr als rechts,
einbezogen hat. Aufgrund weiterer Befundberichte des Hausarztes und des
behandelnden Neurologen, wonach bei der Klägerin eine somatoforme
Schmerzstörung (Fibromyalgiesyndrom mit depressiver Komorbidität)
diagnostiziert worden war, stellte der Beklagte mit Bescheid vom 3. Juli 2007 bei
der Klägerin einen GdB von 40 sowie eine dauernde Einbuße der körperlichen
Beweglichkeit fest und erkannte als weitere Behinderung eine "somatoforme
Schmerzstörung" mit einem Einzel-GdB von 20 an.Das Sozialgericht hat
außerdem über die bei der Klägerin bestehenden Behinderungen von Amts wegen
Beweis erhoben durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens
von dem Sachverständigen Dr. EO. vom 9. September 2007, der aufgrund seiner
ambulanten Untersuchung keinen Hinweis auf das Vorliegen einer psychiatrisch
begründeten Erkrankung finden konnte. Allenfalls habe bei der Klägerin eine
leichtere somatoforme Störung in Betracht gezogen werden können. Unter
Berücksichtigung der orthopädisch/neurologisch begründeten Beeinträchtigungen
mit einem Einzel-GdB von 30 sei unter Hinzuziehung der Diagnose "somatoforme
Störungen" mit einem Gesamt-GdB von 40 ein Oberwert erreicht.
Mit Urteil vom 17. Dezember 2007 hat das Sozialgericht die Klage als unbegründet
abgewiesen und sich zur Begründung im Wesentlichen auf das Gutachten des
Sachverständigen Dr. EO. gestützt. Dem auf Antrag der Klägerin eingeholten
Gutachten des Sachverständigen Dr. RE. ist es hinsichtlich der Bewertung der
festgestellten Behinderungen nicht gefolgt, weil diese in den vom Sozialgericht
herangezogenen "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
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herangezogenen "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) keine Stütze
finde. Insgesamt sei der vom Beklagten zuletzt festgestellte Gesamt-GdB von 40
rechtlich nicht zu beanstanden.
Gegen das ihr am 14. Januar 2008 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 14.
Februar 2008 Berufung zum Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt
eingelegt, mit der sie die Einholung eines fachrheumatologischen Gutachtens von
Amts wegen, hilfsweise eines solchen Gutachtens nach § 109 SGG bei einem von
ihr benannten Arzt, beantragt hat. Das Gutachten des Sachverständigen Dr. RE.
sei auch hinsichtlich der Verdachtsdiagnose Fibromyalgie begründet, ebenso wie
der von ihm hierfür vorgeschlagene GdB von 30. Auch bei der Bewertung der
Kniegelenkserkrankung der Klägerin sei dem Sachverständigen Dr. RE. (Einzel-GdB
20) zu folgen.
Der Senat hat ergänzend von Amts wegen Beweis erhoben durch Einholung eines
orthopädisch-rheumatologischen Gutachtens von dem Sachverständigen Prof. Dr.
C. vom 2. Juli 2008, der die Klägerin nochmals ambulant untersucht und die
Diagnose einer Fibromyalgie bzw. somatoformen Störung bestätigt hat. Allerdings
habe in der Untersuchung eine deutliche Diskrepanz zwischen den vorgetragenen
Beschwerden und dem im Wesentlichen unauffälligen orthopädischen Befund
bestanden. Die im Gutachten des Sachverständigen Dr. RE. angegebenen
Befunde ließen sich nicht mehr oder nur in deutlich abgeschwächter Form
bestätigen. Bei der Klägerin bestünden Beschwerden im Bereich des gesamten
Bewegungsapparates ohne adäquates organisch-pathologisches Korrelat, die den
Verdacht auf somatoforme Beschwerdeausgestaltung begründeten. Ferner
beschreibt der Sachverständige die Diagnosen eines rezidivierenden
Zervikalsyndroms bei Nachweis degenerativer Veränderungen ohne Hinweis für
Nervenwurzelreizerscheinungen, eines degenerativen
Lendenwirbelsäulensyndroms ohne Hinweis für Nervenwurzelreizerscheinungen,
anamnestisch eines operierten Karpaltunnelsyndroms rechts mit
neurologischerseits diagnostiziertem Rezidiv, eines leichten Karpaltunnelsyndroms
links sowie einer mäßigen Adipositas. Der Einzel-GdB für die
Wirbelsäulenveränderungen könne nach den AHP maximal mit 30 eingestuft
werden. Unter Berücksichtigung der ausgeprägten subjektiven Beschwerden
erscheine die Annahme einer somatoformen Schmerzstörung mit einem Einzel-
GdB von 20 gerechtfertigt, woraus ein Gesamt-GdB von 40 resultiere, der bereits
an der oberen Grenze des Beurteilungsspielraums liege.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 17. Dezember 2007 aufzuheben und
den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 3. Mai 2005 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 1. Dezember 2005 sowie des Bescheids vom 3. Juli
2007 zu verurteilen, bei der Klägerin ab Antragstellung einen GdB von mindestens
50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er sieht sich durch das Ergebnis der weiteren Ermittlungen des Senats bestätigt.
Die Beteiligten sind zu der Absicht des Senats, die Berufung durch Beschluss ohne
mündliche Verhandlung als unbegründet zurückzuweisen, angehört worden.
Wegen weiterer Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird
auf den Inhalt der Gerichts- und Schwerbehindertenakten, die Gegenstand der
Beratung gewesen sind, ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil
er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht
für erforderlich hält. Die Beteiligten sind zuvor angehört worden (§ 153 Abs. 4
SGG).
Die zulässige Berufung ist sachlich unbegründet, denn der Klägerin steht kein
Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40 zu. Dies hat das Sozialgericht
bereits zutreffend mit einer nicht zu beanstandender Beweiswürdigung in den
Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils ausgeführt, auf die zur
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Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils ausgeführt, auf die zur
Vermeidung von Wiederholungen insoweit Bezug genommen und von einer
weiteren Darstellung derselben abgesehen wird (§ 153 Abs. 2 SGG).
Die auf Antrag der Klägerin vom Senat von Amts wegen durchgeführten weiteren
Ermittlungen durch Einholung eines orthopädischen-rheumatologischen
Gutachtens bei dem Sachverständigen Prof. Dr. C. haben das Begehren der
Klägerin nicht stützen können. Der als Gerichtsgutachter erfahrene
Sachverständige hat überzeugend und nachvollziehbar dargelegt, dass der
Gesamt-GdB von 40 unter Berücksichtigung der Behinderungen der Klägerin
bereits an der Obergrenze der möglichen Bewertung liegt und damit die
angestrebte Erhöhung auf 50 nicht zu begründen ist. Damit ist die Einschätzung
des auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG tätig gewordenen Sachverständigen
Dr. RE. zur Überzeugung des Senats - wie auch schon aufgrund des Gutachtens
des Sachverständigen Dr. EO. - widerlegt.
Der Sachverhalt ist zur Überzeugung des Senats vollständig geklärt.
Weitere Beweisanträge hat die Klägerin nicht gestellt, denn ihr nur hilfsweise
gestellter Antrag auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG bei einem von
ihr benannten Arzt auf rheumatologischem Fachgebiet ist durch die von ihr
hauptsächlich beantragte Begutachtung von Amts wegen auf diesem Fachgebiet
überholt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.